Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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II.
Eurybates an Aristipp.

Das zweydeutige Mittelding von Knabe und Jüngling, aus dessen Händen du diesen Brief erhalten wirst, lieber Aristipp, trägt so deutliche Merkmahle seiner Abkunft in seinem Gesichte, daß er Euch hoffentlich beym ersten Anblick lebhaft genug an Droso und Eurybates erinnern wird, um ihn ohne schärfere Untersuchung für den, wofür er sich ausgiebt, gelten zu lassen, und als solchen gastfreundlich aufzunehmen. Ich glaubte dir nicht besser beweisen zu können, daß Zeit und Entfernung meine dir längst bekannten Gesinnungen nicht geschwächt haben, als indem ich dir meinen Sohn Lysanias unangemeldet zuschickte, in voller Zuversicht, daß du ihn für einige Zeit unter deine Hausgenossen aufnehmen, und des Glückes unter deinen Augen zu leben würdigen werdest. Es ist nun seine eigene Sache, sich Euch durch sich selbst zu empfehlen. Ihr werdet wenigstens finden, daß er Euch, wie billig, nicht als ein roher Marmorblock zugefertiget worden ist. Er hat drey Jahre lang die Schule unsers berühmten Isokrates, und in dem letzt verfloßnen sogar die Akademie besucht; und da sein noch grünes Alter ihm den Zutritt zu den Geheimnissen der Filosofie verwehrte, welche der göttliche Plato in ein beynahe noch dichteres Dunkel einhüllt als jenes, das die heiligen Mysterien zu Eleusis umgiebt, so hat er wenigstens von dem exoterischen Unterricht unsers Attischen Pythagoras so viel mit genommen als er aufpacken konnte.

Die Wahrheit zu sagen wünsche ich auch nicht, daß mein Sohn und Erbe sich jemahls so hoch versteige, um unter die Dinge über uns zu gerathen, oder gar bis zu den Ideen unsers großen Sehers empor zu dringen, und bis zu der hehren »Göttin Anangke und ihrem vom Gipfel des Lichthimmels herabhängenden, unermeßlichen stählernen Spinnrocken und ihrer wundervollen Spindel mit den acht in einander steckenden Wirteln, auf deren jedem eine Sirene sitzt, die ihren eigenen aber immer eben denselben Ton von sich giebt, wozu die Moiren, Lachesis, Klotho und Atropos, während sie unsre Schicksale spinnen, sich die Zeit damit kürzen, alle drey zugleich, Lachesis das Vergangene, Klotho das Gegenwärtige, und Atropos das Künftige zu singen;« – wie du aus dem zehenten Buch der wundervollen Republik mit mehrerem vernehmen wirst, von welcher, als einer der neuesten überirdischen Erscheinungen aus der Akademie, Lysanias dir eine von unserm Freunde Speusipp selbst berichtigte Abschrift überbringt. Wenn du mir gelegentlich dein Urtheil über dieses sonderbare Kunstwerk, so ausführlich als Lust und Muße dirs gestatten werden, mittheilen wolltest, würdest du mir keine geringe Gefälligkeit erweisen: denn mein eignes macht mit den dithyrambischen Lobgesängen seiner Bewunderer einen so häßlichen Mißklang, daß es unbescheiden wäre, wenn ich nicht einiges Mißtrauen in seine Vollgültigkeit setzte. Aufrichtig zu reden, Aristipp, ich hab' es noch nicht über mich gewinnen können, das ganze Werk von Anfang bis zu Ende zu durchlesen; ich kenn' es nur aus einigen Bruchstücken, und würde dir daher desto mehr Dank wissen, wenn du mich durch einen umständlichen Bericht, wie du das Ganze gefunden hast (einen vollständigen Auszug darf ich dir nicht zumuthen) in den Stand setzen wolltest, mir einen hinlänglichen Begriff davon zu machen.

Es wird dir nicht entgehen, daß mein Lysanias mit einer gewissen natürlichen Anmuthung zu den Spindeln, Wirteln, Sirenen und singenden Spinnerinnen des göttlichen Platons auf die Welt gekommen ist. Um so nöthiger fand ich, ihn bey Zeiten in einen gesellschaftlichen Kreis feingebildeter aber unverkünstelter und unverschrobener, vorzüglicher aber anspruchloser, mit Einem Wort, unverfälschter und (wenn ich dir eine deiner Redensarten abborgen darf) menschlicher Menschen zu bringen, unter welchen er sich an eine natürliche Ansicht der Dinge gewöhnen, für alles Menschliche das rechte Maß finden, und sich in Allem auf der Mittellinie zwischen zu wenig und zu viel mit Sicherheit und Leichtigkeit sein ganzes Leben durch fort bewegen lernen könne.

Ich würde einen meiner angelegensten Wünsche erfüllt sehen, wenn Lysanias bey Euch den Beschäftigungen und Freuden des Landlebens Geschmack abgewinnen, und bey täglichem Anblick der Glückseligkeit etlicher durch Übereinstimmung der Gemüther und wechselseitiges Wohlwollen noch enger als durch die Bande der Anverwandtschaft und Verschwägerung vereinigter Familien, den hohen Werth des häuslichen Glückes schätzen lernte. Er ist mein einziger Sohn; ich möchte ihn einst als einen glücklichen Menschen hinter mir lassen, und ich habe keine Lust ihn einer Republik aufzuopfern, in welcher der Übermuth und thörichte Dünkel des zu herrschen wähnenden, aber jedem kecken Schwätzer zu Gebote stehenden Pöbels täglich ausschweifender, die Unredlichkeit der Demagogen, die ihm den Ring durch die Nase gezogen haben, immer schreyender, die Maximen, nach welchen man handelt, immer widersinnischer, der gegenwärtige Zustand immer heilloser, und die Aussicht in die Zukunft immer trüber werden. Der gute Plato hat uns mit seiner erhabenen, aber nur gar zu hoch hinauf geschraubten Filosofie, die er zur bösen Stunde der schlichten Sokratischen untergeschoben hat, im Ganzen nicht um einen Schritt vorwärts gebracht; und wie sollt' er auch? Wahrlich, die Behauptung in seinem Menon, daß die Tugend keine Frucht des Unterrichts und der Erziehung seyn könne, ist nicht sehr geschickt eine bessere Erziehung unsrer immer mehr verwildernden Jugend zu befördern; und was ein noch so fein und zierlich ausgearbeitetes Modell einer Republik idealischer Menschen, die von lauter leibhaften Platonen nach idealischen Gesetzen zu einem idealischen Zweck regiert werden, uns Athenern und allen übrigen eben so unplatonischen Hellenen helfen soll, – wenn du es ausfindig machen kannst, lieber Aristipp, so wirst du mich durch die Mittheilung sehr verbinden. Was ich täglich sehe ist, daß die um uns her aufschießende neue Generazion (vermuthlich zu großem Trost unsers Filosofen) alle mögliche Hoffnung giebt, noch schlechter als ihre schon so sehr ausgeartete Väter zu werden, und also für die Wahrheit seiner Behauptung, daß außer einer Republik von Filosofen seines Schlags kein Heil sey, noch handgreiflicher beweisen wird als wir.

So wie die Sachen dermahlen bey uns stehen, kann ein ehrlicher Mann, der nicht das Opfer eines vergeblichen und lächerlichen Heldenthums zu werden Lust hat, keine bessere Partey ergreifen, als nach dem Beyspiel unsrer wackern Großväter sich auf seine Hufe zurück zu ziehen, seiner Öhlbäume und Knoblauchfelder zu warten, seinem Hauswesen vorzustehen, und sich von allen Versuchungen der unter der schönen Larve der Vaterlandsliebe sich verbergenden Ruhmsucht und Begierde den Meister zu spielen so rein als möglich zu erhalten.

Bey allem dem können doch in Zeitläufen, wie die unsrigen, Fälle eintreten, wo man schlechterdings zwischen zwey Übeln wählen muß, und, um nicht durch die Untüchtigkeit oder Treulosigkeit des Schiffers, auf dessen Fahrzeug man sich befindet, zu Grunde zu gehen, genöthigt ist selbst Hand anzulegen, und zu Erhaltung des Ganzen mit Rath und That beyzutragen. In dieser Rücksicht wird es dann freylich nöthig seyn, daß Lysanias, außer den gewöhnlichen gymnastischen und andern Leibesübungen, sich hauptsächlich in den beiden Künsten, die einem hellenischen Staatsmann und Kriegsbefehlshaber die unentbehrlichsten sind, der Redekunst und der Kunst die Menschen recht zu behandeln, so geschickt zu machen suche als nur immer möglich seyn wird. In der letztern kann ihn niemand weiter bringen als Du selbst; zur erstern hat er unter Isokrates einen so festen Grund gelegt, daß es bloß einer fleißig fortgesetzten Übung unter den Augen eines guten Meisters bedarf. Ich habe ihn deswegen noch besonders an deinen Freund und ehmahligen Zögling Antipater empfohlen, der, nach einem langen Aufenthalt unter uns, mit allen Schätzen der Griechischen Musen beladen zu Euch zurück gekehrt ist, und auch durch die genaue Kenntniß, die er sich von dem Innern unsrer zahllosen Republiken und ihren Verhältnissen gegen einander erworben hat, dem jungen Menschen nützlich werden könnte. In allem diesem, Aristipp, wird, wie ich zuversichtlich hoffe, deine Gesinnung für den Vater auch dem Sohne zu Statten kommen, und ich werde dir und deinen Freunden in seiner mit euerer Hülfe vollendeten Bildung die größte aller Wohlthaten zu danken haben.

Nun noch ein Wort von unsrer Freundin Lais. Auch ich nehme an der schönsten und liebreitzendsten aller Weiber, die seit der schönen Helena die Männerwelt in Flammen gesetzt haben, zu warmen Antheil, um nicht zu wünschen, daß ich dir die angenehmsten Nachrichten von ihr zu geben haben möchte: aber mit allen möglichen Nachforschungen ist von ihrem dermahligen Aufenthalt und Zustand nichts Zuverlässiges zu erhalten gewesen, wiewohl es an allerley einander widersprechenden und mehr oder weniger ungereimten Gerüchten nicht fehlt. Ich besorge sehr, die Moiren spinnen ihr nicht viel Gutes. So viel scheint gewiß, daß ihr Vorsatz, sich in Thessalien anzusiedeln, nicht zu Stande gekommen ist. Der heillose Mensch, der ihr ganzes Wesen auf eine so unbegreifliche Art überwältiget hat, scheint ihr nicht die Zeit dazu gelassen zu haben. Er führte sie wie im Triumf von einer Thessalischen und Epirotischen Stadt zur andern, machte überall großen Aufwand, und verließ sie endlich (sagt man) wie Theseus die arme Ariadne auf Naxos, ohne sich zu bekümmern was aus ihr werden könnte. Sobald ich diese Nachricht aus einer ziemlich sichern Hand erhielt, schickte ich einen meiner Freygelaßnen, auf dessen Verstand und Treue ich rechnen darf, mit dem Auftrag ab, wofern es nöthig wäre ganz Thessalien, Epirus und Akarnanien zu durchwandern, um sie aufzusuchen und Nachrichten von ihr einzuziehen. Learch zu Korinth that eben dasselbe, und unser Vorsatz war, sie, sobald sie gefunden wäre, mit möglichster Schonung ihres Zartgefühls zu bewegen, überall wo sie künftig zu leben gedächte, uns die Sorge für ihre Haushaltung zu überlassen. Aber, wie gesagt, bis itzt ist es unmöglich gewesen auf ihre Spur zu kommen. Wir geben indessen noch nicht alle Hoffnung auf, und sobald wir etwas entdecken, soll es dir unverzüglich mitgetheilt werden. Wenigstens haben wir so viel mit unsern Nachforschungen gewonnen, daß alle über ihren Tod und die Art ihres Todes herumlaufende Gerüchte bey genauerer Untersuchung falsch befunden worden sind. Mit wie vielem Vergnügen würde ich sie in den Besitz des schönen Witthums wieder einsetzen, wo der edle Leontides ihr auf alle Fälle eine ruhige und angenehme Freystätte gegen alle Zufälle des Lebens zu hinterlassen glaubte!

Was euch der Byzantiner von dem schnellen Wachsthum der neuen Chalcidischen Republik Olynthus und von den weit aussehenden Entwürfen des Thessalischen Fürsten Jason berichtet hat, bestätigt sich alle Tage mehr. Der letztere ist wirklich ein Mann von seltnen und glänzenden Eigenschaften, ganz dazu gemacht sein Vaterland aus dem politischen Nichts, worin es beynahe seit der Heroenzeit gelegen, hervor zu ziehen, und ihm die ganze Wichtigkeit zu verschaffen, die es vermöge seiner Lage, Fruchtbarkeit und starken Bevölkerung schon längst hätte behaupten können, wenn seine Kräfte in einen einzigen Punkt zusammen gedrängt gewirkt hätten. Was Olynthus betrifft, so hat sie sich nicht nur zum Haupt einer beynahe allgemeinen Bundesvereinigung aller Städte der Chalcidice erhoben, sie hat sogar einen ansehnlichen Theil der Macedonischen Provinz Pierien an sich gebracht, den unmächtigen Amyntas aus seinem Königssitz zu Pella vertrieben, und sich unter den benachbarten Thrazischen Völkerschaften einen bedeutenden Anhang zu verschaffen gewußt; kurz sie ist bereits mächtig genug, eine gänzliche Unabhängigkeit von Athen und Sparta behaupten zu können; zumahl da Jason (der einzige im nördlichen Griechenland, der ihrer Vergrößerungssucht Grenzen zu setzen vermöchte) es natürlicher Weise seinem Interesse gemäßer findet, mit dieser neuen Republik in gutem Vernehmen zu stehen. Daß beide unsrer Aufmerksamkeit nicht entgangen sind, kannst du dir leicht vorstellen. Beide, vorzüglich aber der Held des Tages Jason, versehen unsre Versammlungsplätze, Märkte und Hallen reichlich mit immer frischen Neuigkeiten, und wenn du uns reden hören könntest, müßtest du glauben, die Athener hielten sich dem letztern noch sehr verbunden, daß er nicht müde wird, ihnen so viel Stoff zu zeitkürzenden Unterhaltungen zu geben. Denn daß wir von den Fortschritten, die er in Thessalien und den angrenzenden Landschaften macht, etwas für uns selbst befürchten sollten, dazu ist er noch zu weit von uns entfernt; und sollte die Gefahr wider Vermuthen größer werden, »so sind wir ja auch da, und im Nothfall findet sich wohl immer, mit oder ohne unser Zuthun, ein Dolch, der den luftigen Entwürfen eines kleinen Thessalischen Parteygängers auf einmahl ein Ziel setzt.« Mit den Olynthiern, deren täglich zunehmende Seemacht billig unsre Eifersucht reitzen sollte, scheint es zwar eine andre Bewandtniß zu haben: aber »was ist denn am Ende das Olynth, das wie ein Pilz seit gestern aus dem Boden auftauchte, gegen die uralte, weltberühmte, von Pallas und Poseidon und allen andern Göttern begünstigte Athenä? und was werden diese Chalcidier gegen die Abkömmlinge der unüberwindlichen Männer von Marathon und Salamis ausrichten? Laß sie sich doch vergrößern und ausbreiten so gut sie können, sie arbeiten doch nur für Uns! Wir können der Zeitigung dieser schönen saftreichen Frucht ruhig zusehen, sicher daß wir sie pflücken werden, so bald sie uns reif genug zu seyn dünken wird.« – So, mein Freund, denkt und spricht man in Athen, und sieht daher mit der größten Gleichgültigkeit den Anstalten zu, welche die herrschlustigen Spartaner, als Vollzieher und Schirmherren des Friedens des Antalcidas, zu machen im Begriff sind, um etliche kleine, von ihnen selbst aufgehetzte Städte gegen die Olynthier in Schutz zu nehmen, und sich mit diesen in eine Fehde einzulassen, »von welcher wir, wie sie auch ausfallen mag, immer den Vortheil haben werden im Trüben zu fischen, und uns um so leichter wieder zu Herren des Meers zu machen, da, allem Ansehen nach, entweder Sparta oder Olynth in den Fall kommen wird, unsern Beystand suchen zu müssen.«

Diese eben so unkluge als unedle Art von Politik ist nun einmahl unter uns Griechen herrschend geworden, und wird (wie du sehr richtig voraus siehst) über lang oder kurz den Verlust unsrer Freyheit zur Folge haben. Ein Staat, der von seiner Unabhängigkeit keinen weisern Gebrauch macht als wir, und es immer nur darauf anlegt, Alles rings um sich her zu unterdrücken und seiner Willkühr zu unterwerfen, ist eben so unfähig als unwürdig seine eigene Freyheit zu behaupten, und bereitet thörichter Weise die Fesseln sich selbst, die er unaufhörlich für alle andre schmiedet. Aber wie weit sind wir Athener noch entfernt, uns eine solche Katastrofe der ewigen Tragödie, die wir in Griechenland spielen, träumen zu lassen? Wir sehen mit hämischer Schadenfreude zu, wie das stolze, gewaltthätige und unersättliche Sparta sich allen Griechen täglich verhaßter und unerträglicher macht, und kein warnender Dämon flüstert uns zu, daß die Spartaner nichts thun, als was wir selbst an ihrer Stelle so lange gethan haben und mit Freuden wieder thun werden, so bald das Übergewicht wieder auf unsrer Seite seyn wird.

Wie hoch haben die Stifter von Cyrene sich um ihre Nachkommen verdient gemacht, da sie euch jenseits des libyschen Meeres, unter dem heitersten Himmel und auf dem fruchtbarsten Boden, eine so schöne und sichere Freystätte bereiteten; weit genug von der stürmischen Hellas entfernt, um weder mit Gewalt in den Wirbel unsrer Händel hinein gerissen zu werden, noch in Versuchung zu gerathen, euch freywillig darein zu mischen. Wohl Euch bey eurer goldnen Mittelmäßigkeit! Cyrene wird vermuthlich niemahls eine bedeutende Rolle in der Geschichte spielen; aber in Hinsicht auf Glückseligkeit ist es mit Völkern und Staaten wie mit einzelnen Menschen: man wird immer unter denen, die sich still und unbekannt durchs Leben schleichen, mehr glückliche finden, als unter denen, die am meisten Aufsehen, Geräusch und Staub um sich her machen.


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