Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXII.
Lais an Aristipp.

Wie, mein weiser Freund? Sollt' es wirklich dein Ernst seyn? Ich soll mich von Lesbos aus so treuherzig machen lassen, nach einer Abwesenheit, binnen welcher der Mond fünfmahl gewechselt hat, an – deine Treue zu glauben? Du hättest dich nur darum in einen Liebeshandel mit der reitzenden Lesbierin verwickelt, um mir einen recht heroischen Beweis zu geben, daß die bloße Erinnerung an deine Anadyomene hinlänglich sey, alle Pfeile, die Eros aus den großen schwarzen Augen der schönen Leukonoe nach deinem Busen schießt, kalt und kraftlos abglitschen zu lassen? und daß ein Mann nichts als eine Haarlocke von Lais am Finger zu tragen brauche, um einer so warmen und verführerischen Liebhaberin, wie du mir deine Wirthin beschreibst, widerstehen zu können? Und deine freylich noch ziemlich unerfahrne Freundin sollte so gefällig seyn, sich ein solches Mährchen weiß machen zu lassen? bloß weil sie gestehen muß, es wäre ganz artig, wenn es – kein Mährchen wäre? Nein, guter Aristipp! so weit geht die Liebe zum Wunderbaren nicht bey mir, und ich wollte den besten Kuß, den ich zu geben vermag, daran setzen, könnt' ich mich in diesem Augenblick (die Stunde sag' ich dir aus guten Ursachen nicht) in das zierliche kleine Kabinet, wovon du mir eine so genaue Beschreibung machst, versetzen; ich würde etwas nicht halb so Wunderbares sehen, als die Treue, woraus du dir, vermuthlich um der Seltenheit der Sache willen, ein so großes Verdienst bey mir zu machen scheinst. Aber denke nicht, mein guter Filosof, daß ich die kleine Schlange nicht gewahr werde, die unter diesen Blumen versteckt liegt. Du hast ausfindig gemacht, daß Großmuth meine schwache Seite ist. Wenn ich sie, denkst du, nur erst so weit bringen kann, daß sie an meine Treue glaubt, so ist mir die ihrige gewisser, als wenn ich sie unter sieben Riegel im ehernen Thurm der Danae eingeschlossen hielte. Sie wird sich in der seltensten aller Tugenden nicht von mir übertreffen lassen wollen, und käme auch der schönste der Götter, der ewig junge Bacchus selbst, mich aus ihrem Herzen zu vertreiben. Nicht wahr, Aristipp, ich habe dich errathen? Aber was du mit allem deinem Scharfsinn ewig nicht errathen hättest, während du dich zu Lesbos mit der schönen Leukonoe – in der Tugend übst, hab' ich unter dem prächtigsten Ahorn in der Welt, am Quell des Ilissus, unweit Athen, eine Eroberung gemacht, die du mir nicht zugetraut hättest – und nun rathe!


 << zurück weiter >>