Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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Um nun die Anwendung dieser Erklärung der Gerechtigkeit auf den einzelnen Menschen zu machen, und sich dadurch auch des zweyten Theils seines Versprechens zu entledigen, unternimmt er seinen Zuhörern zu zeigen: daß in der menschlichen Seele eben dieselbe Verfassung Statt finde, wie in seiner Republik; nehmlich daß sie, wie diese, aus drey Haupttheilen, oder eigentlich aus drey ihrer Natur nach verschiedenen wiewohl zusammen Ein Ganzes ausmachenden Seelen bestehe; in deren unterster alle Arten von sinnlicher, eigennütziger, an sich selbst unvernünftiger, zügelloser und unersättlicher Begierden, in der zweyten ein gewisses muthiges, zürnendes, an sich selbst wildes und unbändiges Wesen (Thymos vom Plato genannt) das sich gegen alles, was ihm als schlecht, unedel, ungerecht und ordnungswidrig erscheint, empört und ihm aus allen Kräften entgegen kämpft, in der dritten und höchsten endlich die Vernunft, und ein unaufhörliches Streben nach der Wissenschaft des Wahren und Guten, ihren Sitz haben. Die sämmtlichen Begierden nach Genuß und Besitz körperlicher Gegenstände und allen Arten von sinnlichen Befriedigungen sind ihm in der Seele, was die mechanische um Lohn und Gewinn arbeitende Klasse in der Republik; zwar zum Leben eben so unentbehrlich, wie diese, aber sich selbst überlassen, können sie (wie jene, wofern sie nicht durch die beiden obern Klassen in der Zucht erhalten würden) als blinde und ihrer Befriedigung alles aufopfernde Triebe nichts als Unheil in der innern Republik des Menschen stiften. Um den Wohlstand derselben befördern zu helfen, müssen sie also der Vernunft unterworfen und von dieser immer unter strenger Zucht gehalten werden. Der bewaffneten Klasse oder den Beschützern in Platons Republik entspricht in der inneren Ökonomie des Menschen das (vorgebliche) zornmüthige, streitbare, ruhmbegierige, Wollust und Eigennutz verachtende, nichts fürchtende, und allem Widerstand Trotz bietende Princip Thymos, dessen Bestimmung ist, die Regierung der Vernunft zu unterstützen, ihre Rechte zu schirmen, und den Pöbel der Begierden in gehöriger Ordnung und Unterwürfigkeit zu erhalten; welches aber, um diese Bestimmung nie zu verfehlen, zuvor selbst durch Musik und Gymnastik gebändigt und gezüchtet, die Oberherrschaft der Vernunft, als des natürlichen Regenten dieser Republik im Menschen, immer anerkennen und seinen höchsten Stolz bloß darin suchen muß, in Vollziehung ihres Willens keine Gefahr, kein Ungemach, keinen Schmerz zu scheuen, der Erfüllung dieser Pflicht hingegen jedes Opfer, das sie verlangt, willig darzubringen. So wie nun die Gerechtigkeit in unsrer großen Republik in der gehörigen Einschränkung und Subordinazion der untersten und mittlern Klasse unter der obersten, und in der daraus entspringenden Harmonie und Einheit des Ganzen besteht; so hat es, vermöge der Natur der Sache, eben dieselbe Bewandtniß mit den drey verschiedenen Principien, woraus (nach Plato) die Seele zusammen gesetzt ist; und so wäre denn die wahre Antwort auf die Frage, »was die Gerechtigkeit in der Seele, an sich selbst, ohne Rücksicht auf irgend etwas außer ihr, sey?« glücklich gefunden, und unser redseliger Sokrates, der es sich in der That sauer genug werden ließ, die Masche, die er auflösen wollte, so stark er nur konnte zusammen zu schnüren, und mit so vielen neuen, in einander verwickelten Knoten zu verstärken, könnte nun billig für heute von aller weitern Bemühung los gesprochen werden.

Daß unser Mann in der Art, wie er seine vorgeblichen Untersuchungen anstellt, sich selbst auch hier gleich bleibt, versteht sich, und was ich gegen diese Methode bereits erinnert habe, tritt daher auch hier wieder ein. Eigentlich kann man nicht sagen, daß er untersuche; denn er hat das, was er seinen Zuhörern suchen zu helfen vorgiebt, immer schon in der Hand, und, bey allem Schein von Gründlichkeit und Subtilität, den er seinen taschenspielerischen Operazionen zu geben weiß, bedarf es doch nur einer mäßigen Aufmerksamkeit, um zu merken, daß er uns täuscht, wenn gleich nicht jeder Zuschauer ihm scharf genug auf die Finger sehen kann, um gewahr zu werden wie es damit zugeht. Es würde uns zu weit führen, wenn ich die Wahrheit dieser Behauptung durch eine umständliche Analyse dieses Theils des vierten Buchs darlegen, und unsern Tausendkünstler gleichsam nöthigen wollte, seine Handgriffe, einen nach dem andern, so langsam vor unsern Augen zu machen, daß sie auch dem blödsichtigsten nicht entgehen könnten. Ich will mich also bloß darauf einschränken, seinen Beweis der drey wesentlich verschiedenen Principien, die er in der menschlichen Seele entdeckt haben will, etwas näher zu beleuchten, um zu sehen, ob es wirklich zur Erklärung der mannigfaltigen Erscheinungen in derselben nöthig ist, dreyerley Seelen anzunehmen, oder ob wir uns dazu recht gut mit einer einzigen behelfen können.

Gegen das Axiom, worauf er seinen Beweis stützt, daß eben dasselbe Subjekt in Widerspruch stehende oder einander aufhebende Dinge unmöglich zugleich und in eben derselben Hinsicht weder thun noch leiden könne, habe ich nichts einzuwenden. Wenn er also zeigen kann, daß diese zugegebene Unmöglichkeit gleichwohl in dem, was wir unsre Seele nennen, täglich als etwas wirkliches erscheint, so hat er den Handel gewonnen und ich stehe beschämt.

Ich übergehe die Einwendungen, die er sich von einem erdichteten Gegner machen läßt, und die fast zu mühsame Art wie er sie beantwortet; denn ich werde ihm diese Einwürfe nicht machen. Also ohne Weiteres zu dem Beyspiele, woran er seinem Glaukon klar machen will, daß es ohne seine Hypothese gar nicht zu erklären sey! Hören wir, wie sich sein Sokrates anschickt, um uns zu diesem verzweifelten Ausweg zu nöthigen.

SOKRATES. Rechnest du den Durst nicht unter die Dinge, die das, was sie sind, nicht seyn könnten, wenn nicht ein anderes wäre, dessentwegen sie sind? –

GLAUKON sieht ihn an und verstummt.

SOKRATES. Nach was dürstet der Durst?

GLAUKON. Ja so! – Nach einem Trunk.

SOKRATES. Bezieht sich der Durst auf eine gewisse Art von Getränke? Oder verlangt der Durst, in so fern er Durst ist, weder viel noch wenig, weder gut noch schlecht, sondern lediglich nur Etwas zu trinken?

GLAUKON. So ist es allerdings.

SOKRATES. Die Seele des Dürstenden, in so fern sie dürstet, will also nichts als trinken; das ist's, wornach sie trachtet und strebt?

GLAUKON. Offenbar.

SOKRATES. Wenn sie also dürstet, und etwas zieht sie zurück, muß da nicht noch etwas anders in ihr seyn als das, welches dürstet und sie wie ein Thier zum Trinken treibt? Denn nach unserm obigen Grundsatz ist es ja unmöglich, daß eben dasselbe, in Ansehung eben desselben Gegenstandes dieß oder das und zugleich das Gegentheil thue?

GLAUKON. Unmöglich.

SOKRATES. So wenig als es recht gesprochen wäre, wenn man sagte, daß ein Bogenschütze den Pfeil mit beiden Händen zugleich abstoße und anziehe, sondern die eine Hand zieht an, und die andere stößt ab; nicht so?

GLAUKON. Nicht anders.

SOKRATES. Müssen wir nicht gestehen, daß es Leute giebt, welche nicht trinken wollen, wiewohl sie durstig sind?

GLAUKON. O gewiß, das begegnet alle Tage nicht wenigen.

SOKRATES. Wie kann man sich das nun erklären, als wenn man sagt, das Etwas in ihrer Seele, das ihnen zu trinken befiehlt, sey ein Anderes als das, so sie vom Trinken abhält und stärker als jenes ist?

GLAUKON. So däucht es mir.

SOKRATES. Ist nun das, was uns von dergleichen (sinnlichen Befriedigungen) zurück hält, nicht ein Werk der Überlegung und des Urtheils, so wie hingegen das, was zu ihnen anreitzt und hinreißt, Leidenschaft und Krankheit ist?

GLAUKON. So scheint es.

SOKRATES. Haben wir also nicht Recht, zwey einander entgegen gesetzte Principien in der Seele anzunehmen, von welchen wir jenes, kraft dessen sie urtheilt und schließt, das Vernünftige, und dieses, vermöge dessen sie liebt und hungert und dürstet, und von allen andern Begierden, die zu wollüstiger Anfüllung und Ausleerung reitzen, hingerissen wird, das Unvernünftige und Begierliche nennen?

GLAUKON. Wir könnten mit Recht dieser Meinung seyn, sollt' ich denken.

Unser Filosof fährt nun fort, in dieser kurzweiligen Manier auch das dritte in der Seele, welches er Thymos nennt, zu betrachten und so lange hin und her zu schieben, bis er die Ähnlichkeit dieses vorgeblichen Princips mit der streitbaren Klasse in seiner Republik entdeckt, und herausgebracht hat, daß Thymos mit den Begierden häufig in Streit gerathe, und so oft sich diese gegen das regierende vernünftige Princip auflehnen, mit großem Eifer die Partey des letztern nehme, für welches er eine ganz eigene Anmuthung habe, u. s. w., wozu denn der gefällige Glaukon immer seine Beystimmung giebt, und sich am Ende gänzlich für die Hypothese der dreyfachen Seele oder der drey Seelen in Einer erklärt. Es mag eine ganz bequeme Sache seyn, mit Schülern zu filosofieren, bey welchen man immer Recht behält. An Glaukons Stelle hätte ich mich so leicht nicht von dieser neuen Platonischen Lehre überzeugen lassen, und würde mir die Freyheit genommen haben, folgende Vorstellungen gegen dieselbe zu machen. »Wie eng auch die unbegreifliche Verbindung unsrer Seele mit ihrem Körper ist, ehrenwerther Sokrates, so kann man doch eben so wenig von der Seele sagen, daß sie hungre oder dürste, als daß sie esse und trinke; auch ist sie eben so unschuldig an dem, was du aus geziemender Urbanität lieben nennst, und was (in dem Sinne, den du diesem Worte hier beylegst) eigentlich bloß den gewaltsamen Zustand bezeichnet, worin Aristofanes den Gemahl der schönen Lysistrata von der Armee zu ihr zurück eilen läßt. Alle Triebe, – welche die Befriedigung eines natürlichen Bedürfnisses des Körpers zum Gegenstand haben, gehören auch dem Körper zu; sie sind nothwendige Folgen seiner Organisazion, und werden nur in so fern Begierden der Seele, als diese durch das geheime Band, wodurch sie an jenen gefesselt ist, sich genöthigt fühlt« – Doch, warum sollte ich dir, lieber Eurybates, bey dieser Gelegenheit nicht eine kleine Probe geben, daß ich die Kunst, das Wahre einer Sache durch Frag und Antwort heraus zu bringen, unserm gemeinschaftlichen Meister so gut als Plato abgelernt habe? Wenigstens werde ich keine hinterlistige und mit einer vorgefaßten Hypothese in geheimem Einverständniß stehende Frage thun, und keine Antwort geben lassen, als die immer die einzig mögliche ist, die ein vernünftiger Mensch auf die vorgelegte Frage geben kann. Also, unter Anrufung der schönsten aller Göttinnen, der Wahrheit, und ihrer ungeschminkten Grazien – zur Sache!


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