Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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XII.
Aristipp an Eurybates.

Du verlangst, edler Eurybates, einen ausführlichen Bericht über ein symposisches Gespräch, welches vor einigen Tagen bey der schönen Lais vorfiel, und wovon dir, wie du sagst, dein Verwandter Neokles, der dabey gegenwärtig war, gerade nur so viel habe sagen können, daß er dich nach einer vollständigern Erzählung lüstern gemacht. Da du selbst einer von den unsrigen gewesen wärest, wenn die Pflichten der Würde, die du in diesem Jahre bekleidest, dich nicht an Athen gefesselt hätten, so ist es nicht mehr als billig, deinen Wünschen entgegen zu kommen, und ich freue mich, daß mir mein Gedächtniß treu genug ist, dir, was du ohne deine Schuld versäumtest, mit sehr wenigem Verlust ersetzen zu können.

Erwarte aber (was dir Neokles auch gesagt haben mag) nichts, was mit Platons berühmtem Symposion auch nur von fern in einige Vergleichung kommen, geschweige für ein Gegenstück zu diesem weitglänzenden Prachtwerke gelten könnte. Platons Symposion ist eine Art von Poem, wozu alle Musen beygetragen haben, und worin der Verfasser die ganze Fülle seiner Fantasie, seines Witzes und Attischen Salzes, seiner Wohlredenheit und Darstellungskunst, wie aus Amaltheens unerschöpflichem Zauberhorn, auf seine Leser herabschüttet; ein bey nächtlicher Lampe mit größtem Fleiß ausgemeißeltes, poliertes und vollendetes Werk, womit er uns zeigen wollte, daß es nur auf ihn ankomme, ob er unter den Rednern oder Dichtern, Sofisten oder Sehern seiner Zeit der Erste seyn wolle. Was ich hingegen dir mitzutheilen habe, ist ein zufälliges Tischgespräch unter einer kleinen Anzahl anspruchloser Freunde, denen es bloß um eine angenehme Unterhaltung, und (was in Rücksicht einer Vergleichung mit Platons Gastmahl noch schlimmer ist) nicht um Witzspiele, ironische Parodien, Milesische Mährchen, und Offenbarungen aus der Geister- und Götterwelt, sondern lediglich um schlichte nackte Wahrheit zu thun war. Du siehst also leicht, wie unermeßlich weit ich hinter dem begeisterten Dichter des Agathonischen Siegesmahls zurückbleiben müßte, wenn ich der verwegenen Anmaßung fähig wäre, mich mit ihm in einen Wettstreit einzulassen. Ich werde, im eigentlichsten Sinn, ein bloßer Erzähler dessen seyn, was an der Tafel unsrer Freundin, während eines ziemlich frugalen Mahls und bey sehr kleinen, aber freylich desto öfter geleerten Bechern, gesprochen wurde. Nimm also vorlieb mit dem was ich zu geben habe, und ersetze dir selbst, indem du dich in Gedanken an den Platz deines Neokles nahe an die schöne Wirthin legst, das Einzige, was meiner Erzählung fehlt, um sie so anmuthig zu machen, als das Gespräch selbst, dieses kleinen Umstandes wegen, dem jungen Neokles vorkommen mußte.

Es traf sich damahls eben glücklicher Weise, daß die Gesellschaft viel kleiner war, als sie gewöhnlich bey unsrer gastfreyen Freundin zu seyn pflegt. Außer ihr selbst und mir war niemand zugegen als Eufranor, (den du kennst) dein Neokles, mein Landsmann Antipater, und der Arzt Praxagoras, der auf seiner Rückreise von Aspendus sich eine Pflicht daraus machte, zu Ägina anzulanden, und der schönen Lais von dem guten Fortgang ihrer an dem jungen Chariton verrichteten berühmten Wunderkur Nachricht zu ertheilen. Lais hatte, um uns Stoff zu einem kurzweiligen Tischgespräch zu verschaffen, Platons Gastmahl von einem trefflichen Anagnosten, den sie in Diensten hat, vorlesen lassen. Sie hätte bey keiner andern Leserey ihre Absicht weniger verfehlen können. Neokles und Eufranor eiferten ordentlich in die Wette mit ihr, wer es dem andern in Lobpreisung der Schönheiten dieses Meisterstücks zuvorthun könnte; und es wurden eine Menge feiner Sachen gesagt, die ich dir nicht vorenthalten würde, wenn sie nicht, durch den Verlust des lebendigen Vortrags im Moment, auch zugleich ihre Grazie, und mit dieser ihren größten Werth verlieren würden. Unter andern wollte Lais, daß jedes von uns auf einem kleinen Täfelchen bemerken sollte, welches von den Stücken, woraus das Ganze, gleich einer großen Tapezerey, zusammengesetzt ist, ihm in Rücksicht auf die Kunst der Ausarbeitung am besten gefalle. Eufranor erklärte sich für die Rede des Aristofanes, in welcher er alle Züge, die den eigenen Karakter der Muse dieses komischen Dichters ausmachen, mit der feinen Schalkheit einer allenthalben durchschimmernden Ironie, so meisterlich nachgeahmt zu finden glaubte, daß Aristofanes selbst es schwerlich besser hätte machen können. Praxagoras stimmte für die Rede des Agathon, als die urbanste und launigste Verspottung der Manier des berühmten Rhetors Gorgias, welchen Agathon zum Muster genommen zu haben schien. Neokles war für den Pausanias, Lais für die Hierofantin Diotima, Antipater für den Alcibiades. Ich, um sicher zu seyn, daß ich mit keinem andern zusammenträfe, gab meine Stimme dem Eryximachus; mit der Einschränkung, daß ich seine Rede, in Ansehung des reichhaltigern und solidern Stoffes allen übrigen vorziehe, wiewohl ich gestehen müßte, daß sie der gezwungen witzigen Einkleidung und des flachen Ausdrucks wegen die schlechteste von allen sey. Jedes von uns hatte dieß und das zu Behauptung seiner Meinung vorzubringen, bis wir uns endlich alle vereinigten dem Antipater Recht zu geben, und den letzten Akt, wo der Sohn des Klinias, mit einem lärmenden Gefolge von lockern Zechgesellen, trunken und mit Blumenkränzen und Bändern behangen in den Sahl hereingestürmt kommt, und alles was darauf folgt, bey weitem für das Beste am ganzen Werke zu erklären.

Von dem Augenblick an, sagte Antipater, da Alcibiades auftritt, weht sein Genius durch den Rest des Dialogs; alles ist freye zwanglose Natur, Feuer, Jugendkraft und üppige Lebensfülle; auch halt' ich es für unmöglich, von diesem außerordentlichen Jüngling, wie er wirklich war, und (nach allem, was wir von ihm wissen) gewesen seyn muß, ein Bild aufzustellen, das mit so viel Freyheit und Leichtigkeit richtiger und fester gezeichnet, lebhafter gefärbt, zärter schattiert und leichter gehalten wäre; wenn ich anders in Gegenwart eines Künstlers mich so kunstmäßig ausdrucken darf.

Das darfst du, versetzte Eufranor, indem er ihm traulich die Hand schüttelte; und wenn du hinzusetztest: diese Darstellung des Alcibiades verdiene der Kanon aller künftigen Dichter zu seyn, welche die Menschen, wie sie sind, schildern, und doch dem Gesetz der Schönheit, das alle Künstler bindet, nichts dabey vergeben wollen; so würde ich ohne Bedenken behaupten, daß du die Wahrheit gesagt hättest.

LAIS. Indessen ist nicht zu läugnen, daß die Alcibiades und ihresgleichen durch diese künstliche und aufs feinste in einander verflößte Mischung der auffallendsten Unarten und Untugenden mit den schimmerndsten Naturgaben, ja sogar mit allem was das liebenswürdigste und schätzbarste am Menschen ist, und durch diese unwiderstehliche Grazie, die ihren Lastern selbst etwas gefälliges und liebreitzendes giebt, zu den gefährlichsten aller Menschen würden. Wofern uns also jemand einwendete: wenn die Dichter durch das Gesetz der Schönheit verpflichtet wären, die lasterhaften und hassenswürdigen Personen, die sie uns darstellen, immer so zu schildern, daß es uns unmöglich wäre, ihnen nicht, mehr oder weniger, gut zu seyn – wie der Fall wirklich beym Alcibiades des Plato ist so würden ihre Werke, je vortrefflicher sie in Ansicht der Kunst wären, desto verderblicher für die Sitten, und also, in Rücksicht auf das allgemeine Beste, desto verwerflicher werden; was könnten wir ihm antworten?

PRAXAGORAS. Ich sollte denken, es wäre eben so möglich als der Humanität gemäß, das Laster, als das allein Hassenswürdige, von der Person, die als Mensch immer liebenswürdig ist, so zu trennen, daß die Liebe zur Tugend nichts dabey verlöre, wenn wir gleich (was ehmahls der Fall des Sokrates war) sogar einen Alcibiades liebten.

ARISTIPP. Diese Trennung mag in der Spekulazion leicht genug seyn; aber ich zweifle daß im wirklichen Leben die Liebe zur Person uns nicht immer geneigt machen werde, ihre Untugenden zu übersehen, oder, wenn wir sie auch gewahr werden, zu entschuldigen; bis wir nach und nach so weit kommen, sie mit ihren guten Eigenschaften zu vermengen, oder für bloße Schattierungen derselben anzusehen, und unter dem Schleier der Grazie zuletzt sogar liebenswürdig zu finden. Wenn dieß wirklich der Fall wäre, möchte es wohl kaum möglich seyn, daß unser Abscheu vor der Untugend selbst sich nicht eben so allmählich verminderte, oder wenigstens daß die Nachsicht gegen die Untugenden der geliebten Person uns eben so duldsam gegen unsre eigene machte.

NEOKLES. Die Liebe wäre also nicht immer, wie Plato sagt, Liebe des Schönen, wofern es möglich wäre, auch das Häßliche an der geliebten Person zu lieben?

ARISTIPP. So scheint es, und ich denke nicht daß Platons Ansehen hier in Betrachtung kommen kann; denn es herrscht durch sein ganzes Symposion eine so auffallende Vieldeutigkeit in dem Sinne, worin er die Wörter Liebe und lieben gebraucht, daß es schwer ist, sich seiner wahren Meinung gewiß zu machen.

Diese Rede schien allen Anwesenden aufzufallen, und sie brachte uns unvermerkt auf die Frage: was denn eigentlich der Zweck des filosofischen Dichters des Symposion bey diesem aus so seltsam kontrastierenden Theilen zusammengesetzten Werke gewesen seyn könne?

Der Versuch diese Frage zu beantworten, führte eine etwas genauere Zergliederung desselben herbey, die uns beynahe das einhellige Geständniß abdrang: daß diese so allgemein bewunderte Komposizion mehr einem bunten morgenröthlichen Duftgebilde als einem festen und bewohnbaren Gebäude ähnlich sey.

Da wir das Symposion diesen Abend – (vermuthlich nicht zum ersten Mahle) gehört und also noch ganz frisch im Gedächtniß haben, sagte Praxagoras, so laßt uns, jedes sich selbst, ehrlich und offenherzig gestehen, wie viel oder wenig Wahres, eine schärfere Prüfung bestehendes und im Leben brauchbares wir darin gefunden? Ob uns alle diese Lobreden, Hypothesen und Allegorien auf und über den vorgeblichen Gott oder Dämon Eros, die uns in diesem Gastmahl in so mancherley Tonarten vordeklamiert, vorgescherzt und vorprofetisiert werden, wirklich befriedigende Aufschlüsse über die Natur, die Eigenschaften und die Wirkungen der allgemeinsten und gewaltigsten, wohlthätigsten und verderblichsten, tragischsten und komischsten aller Leidenschaften geben? Ja, ob sich überall irgend ein aus dem Ganzen hervorgehendes Resultat, welches als der Zweck des Verfassers betrachtet werden könne, darin entdecken lasse? Laßt mich in dieser Rücksicht einen Versuch machen, ob ich diesen großen reich und zierlich gestickten Peplos unter einen Gesichtspunkt bringen könne, aus welchem er sich, wo nicht auf Einen Blick übersehen, doch wenigstens in der Vorstellung leichter zusammenfassen und beurtheilen lasse. – Alle nickten ihm ihre Einstimmung zu, und er begann folgender Maßen.

»Eine bey dem Dichter Agathon versammelte Gesellschaft, in welcher Sokrates (wie in allen Platonischen Dialogen) die Hauptfigur vorstellt, ist übereingekommen, eine von Rednern und Dichtern bisher vernachlässigte Lücke auszufüllen, und dem Liebesgott, Mann vor Mann, nach Vermögen eine Lobrede zu halten.

»Die Rede des schönen Fädrus, der den Reihen anführt, ist beym Tageslichte besehen, nichts als eine spielerhafte rhetorische Schulübung, deren Tendenz noch zum Überfluß unsittlich ist, da sie lediglich darauf ausgeht, die Päderastie nur nicht gar zum höchsten Gute des Menschen, und die Willfährigkeit des Geliebten gegen den Liebhaber zu einer in den Augen der Götter selbst höchst verdienstlichen Sache zu machen.

»Der auf Fädrus folgende Pausanias scheint durch Unterscheidung eines zwiefachen Amors etwas vernünftigeres auf die Bahn bringen zu wollen als sein Vorgänger; aber seine Rede dreht sich größtentheils um schwankende Begriffe. Auch ihm ist die Päderastie so sehr die einzig rechtmäßige Art von Liebe, daß er es seinem gemeinen Amor (Eros Pandemos) sogar zum Vorwurf macht, daß die Verehrer desselben Weiber nicht weniger als Männer liebten; und wenn er gleich – zu Hebung des anscheinenden Widerspruchs zwischen dem Gesetz und Herkommen, welche bey den Athenern den Knabenliebhaber auf alle Weise begünstigen, und der Sitte, die es dem Geliebten zur Schande macht dem Liebhaber zu willfahren – mit gutem Fug behauptet, die Liebe sey an sich weder gut und ehrsam, noch bös' und schändlich, sondern werde jenes bloß durch eine edle, dieses durch eine schändliche Art zu lieben: so verderbt er doch alles wieder, indem er will, daß die geliebten Jünglinge zwar nur tugendhaften Liebhabern willfahren sollen, aber ihnen dafür dieses Willfahren zu einer ordentlichen Pflicht macht, und also einen an sich selbst verwerflichen Mißbrauch zu veredeln, und sogar zu einer Belohnung der Tugend oder des Verdienstes zu machen sucht.

»Die hierauf folgende Rede, worin der Arzt Eryximachus die Theorie des Pausanias von dem zwiefachen Eros mit vieler Spitzfündigkeit generalisiert, und überall, sowohl in der Natur als in den Künsten, sogar in der Arzneykunst, den Kampf und Sieg des himmlischen Amors oder der Liebe der Muse Urania über den Gemeinen, oder die Liebe der Muse Polymnia, zur wirkenden Ursache alles Schönen und Guten macht, diese ganze Rede ist von Anfang bis zu Ende ein gezwungenes Witzspiel mit doppelsinnigen Worten und Metafern, wodurch nichts weder klar gemacht noch bewiesen wird. Man sieht nicht, womit die arme Muse Polymnia (die er eigenmächtig mit der Afrodite Pandemos verwechselt) es verschuldet hat, daß er sie ich weiß nicht ob zur Mutter oder zur Buhlin seines Allerweltamors herabwürdigt; und wiewohl der redselige Arzt eine Menge bunter Luftblasen zu Lob und Ehren seines Uranischen Eros platzen läßt, so trägt doch auch Er kein Bedenken, die Lehre seines Vormanns von der schuldigen Willfährigkeit des Geliebten gegen einen artigen und wohlgesitteten Liebhaber zu einer moralischen Maxime zu erheben; ja die geliebten Jünglinge haben, seiner Meinung nach, ihrer Pflicht schon genug gethan, wenn sie nur die Absicht hegen, die Liebhaber durch ihre Gefälligkeit tugendhafter zu machen.


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