Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXX.
Aristipp an Lais

Nach einer Wanderung von mehr als fünf Monaten bin ich wieder wohlbehalten auf dem »öhltriefenden Boden angelangt, den Pallas Athene beschützt,« in dieser Stadt, von welcher der Dichter Lysippus sagt:

Hast du Athenä nicht gesehn, bist du ein Klotz,
Sahst du sie und sie ring dich nicht, ein Stockfisch;
Trennst du dich wohlgemuth von ihr, ein Müllerthier.Wenn man den Nahmen Lysippus hört, denkt man gewöhnlich nur an den großen Bildhauer, der diesen Nahmen zu einem der berühmtesten in der Kunstgeschichte gemacht hat. Es gab aber auch einen Komödiendichter dieses Nahmens, und von ihm sind die vom Aristipp hier angeführten Verse, die im Original also lauten:
Ει μη τεθεασαι τας Αθηνασ στελεχος ει.
Ει δε τεθεασαι, μη τεθηρευσαι δ', ονος·
Ει δ' ευαρεστων αποτρεχεις, κανθηλιον.
S. Henr. Stephani Dicaearchi Geograph. Quaedam c. 3. (in Vol. XI. Thes. Gronov. p. 14.) oder Hudsons Geograph. Graec. T. II.

Ich hoffe dieß letztere werde nicht im strengsten Sinn der Worte, zu nehmen seyn; denn ich sehe wohl, daß ich Athen noch mehr als einmahl wohlgemuth verlassen werde; aber dafür bin ich auch gewiß, ich werde eben so oft wieder zurück kommen; und ich müßte mich sehr irren, oder dieses wechselnde Kommen und Gehen ist das wahre Mittel, wie man der Vortheile und Annehmlichkeiten des Aufenthalts in dieser Hauptstadt der gesitteten Welt genießen kann, ohne ihrer überdrüssig zu werden, oder sie von den übermüthigen, naseweisen und wetterlaunischen Einwohnern gar zu theuer zu erkaufen. Nimm es nicht übel, Laiska, daß ich von den edeln Theseiden, deinen erklärten Liebhabern, mit so wenig Ehrerbietung rede. Ich läugne es nicht, ein Fremder, der sich eine Zeitlang unter ihnen aufhält, und, es sey nun durch persönliche Eigenschaften oder durch Geburt, Stand und glänzenden Aufzug, ihre Aufmerksamkeit erregt, muß von ihrer Liebenswürdigkeit bezaubert werden; aber laß ihn nur so lange bleiben, bis sie es nicht mehr der Mühe werth halten Umstände mit ihm zu machen: ich wette, er wird den Unterschied zwischen dem Athener im Feierkleide und dem Athener im Kaputrocke sehr auffallend finden. Das ist allenthalben so, wirst du sagen. Ich gesteh' es; aber doch zweifle ich sehr, ob irgend ein anderes Volk dich die zuvorkommende Artigkeit und Gefälligkeit, womit es dich Anfangs überhäuft, so theuer bezahlen läßt, als der Athener, von dessen Karakter einer der wesentlichsten Züge ist, daß er Andere gerade so viel unter ihrem wahren Werth schätzt, als er sich selbst über den seinigen würdigt.

Ich weiß nicht, ob du von einem Gemählde des berühmten Parrhasius gehört hast, worin er den schon vom Aristofanes so treffend personificierten Athenischen Demos in einer Art von allegorisch historischer Komposizion zu schildern unternahm. Seine Absicht, sagt man, war, die Athener von der schönen und häßlichen Seite, mit allen ihren Tugenden und Lastern, Ungleichheiten, Launen und Widersprüchen mit sich selbst, zugleich und auf einen Blick darzustellen. Es war keine leichte Aufgabe, eben dasselbe Volk rasch, jähzornig, unbeständig, ungerecht, leichtsinnig, hartnäckig, geitzig, verschwenderisch, stolz, grausam und unbändig auf der einen Seite, und mild, lenksam, gutherzig, mitleidig, gerecht, edel und großmüthig auf der andern, zu zeigen; oder vielmehr, er unternahm etwas, das seiner Kunst unmöglich zu seyn scheint. Du bist vielleicht neugierig zu wissen, wie er es anfing? Das Gemählde stellt eine Athenische Volksversammlung vor, welche, nachdem sie in möglichstes Eile irgend eine Ruhm und Gewinn versprechende Unternehmung beschlossen, eine summarische Rechnung über Einkünfte und Ausgaben des Staats abgehört, und einen General etwas tumultuarisch zum Tode verurtheilt hat, eben im Begriff ist auseinander zu gehen. Man zählt mehr als hundert halbe und ganze Figuren, von welchen die bedeutendsten in drey große Hauptgruppen vertheilt sind. In der ersten ist der Demagog, der so eben irgend ein ausschweifendes Projekt (etwa die Eroberung von Sicilien oder Ägypten) durch seine rhetorische Taschenspielerkunst durchgesetzt hat, die Hauptfigur. Das hoffärtigste Selbstgefühl und der Vorgenuß des Triumfs über den glücklichen Erfolg seiner Vorschläge, den er als etwas unfehlbares voraussetzt, ist in der ganzen Person, im Tragen des Kopfs, im Ausdruck des Gesichts, und in der ganzen Haltung und Geberdung des stolz einherschreitenden Projektmachers auf die sprechendste Weise bezeichnet. In den Gesichtern und Stellungen seiner ihn umgebenden Anhänger zeigt sich, in verschiedenen Schattierungen, Leichtsinn, Selbstgefälligkeit, Kühnheit und herausfordernder Trotz. Es ist als ob sie sagen wollten: »Das kann nicht fehlen! Arme Schelme! wir wollen bald mit euch fertig seyn! Wer kann den Athenern widerstehen? Was wäre Männern wie wir unmöglich?« Gleichwohl bemerkt man hinter jenen ein paar Achselzucker, die dem Unternehmen einen unglücklichen Ausgang zu weissagen scheinen; ein dritter hängt den Kopf so melancholisch als ob schon alles verloren sey, ein vierter scheint mit einem schwärmerischen Beförderer des Projekts in einem lebhaften Wortwechsel begriffen zu seyn. Die zweyte Gruppe drängt sich um den Schatzmeister der Republik, der seine Freude über die Gefälligkeit, womit ihm das Volk seine Rechnungen passieren ließ, unter einer sorgenvollen Finanzministermiene zu verbergen sucht. Ein Schwarm lockerer Brüder, im vollständigen Kostum ausgemachter Kinäden und Parasiten, schlendern neben und hinter ihm her, und scheinen, in fröhlichem Gefühl, daß es weder ihnen selbst noch der Republik jemahls fehlen könne, einen großen Schmaus auf den Abend zu verabreden. Ein anderer, der sich durch die schlaueste Schelmenfysionomie auszeichnet, und etliche hungrige zu allem bereitwillige Gesellen hinter sich her schleichen hat, nähert sich dem Ohr des Ministers, und scheint ihn durch Darbietung der halb offnen Hand der versprochnen Erkenntlichkeit für den geleisteten Dienst erinnern zu wollen. Aber auf der Seite sieht man ein paar ältliche heliastische Figuren, mit bedenklichen Gesichtern, deren einer dem andern die Fehler in der abgelegten Rechnung vorzuzählen scheint, während ein dritter allein stehender, den sein schäbiger Kittel und ein Gesicht, das einer mit Zahlen beschriebenen Rechentafel gleicht, für das was er ist ankündigt, auf einem Stückchen Schiefer nachrechnet, und durch die Miene, womit er seitwärts nach dem Schatzmeister schielt, den nahen Staatsbankrott weissagt. Die dritte Gruppe begleitet den verurtheilten Feldherrn nach dem Gefängniß. Einige, die ihn zunächst umgeben, drücken in verschiedenen Graden Theilnehmung, Schmerz und Mitleiden aus, während er selbst seinem Schicksal mit großherziger Entschlossenheit entgegen geht. In einiger Entfernung sieht man einen Haufen Sykofanten und falsche Zeugen hinter etlichen Männern von Bedeutung, die sich durch ihre boshafte Freude über den gelungenen Streich als die Feinde des verurtheilten Feldherrn ankündigen. Ein einzelner junger Mann, an eine Herme angelehnt, scheint durch seine Geberde und einen wehmüthig scheuen Seitenblick auf das schuldlose Opfer einer schändlichen Kabale seine Reue zu verrathen, daß er die Anzahl der schwarzen Steine durch den seinigen vermehrt hat. Außer diesen Hauptgruppen erblickt man hier und da einzelne oder in kleine Haufen verstreute Figuren, die, an dem Vorgegangenen keinen Antheil nehmend, nichts Angelegneres zu haben scheinen, als der Palästra, oder dem Bad, oder dem Prytaneon, wo eine wohlbesetzte Tafel ihrer wartet, zuzueilen. Alles das ist mit eben so viel Geist und Leben als Fleiß und Zierlichkeit ausgeführt, und gewiß ist dieses in seiner Art vielleicht einzige Meisterwerk die große Summe werth, für welche ein reicher Kunstliebhaber zu Mitylene es vor kurzem an sich gebracht hat. Indessen, wiewohl ich gestehen muß, daß Parrhasius wo nicht die einzige, doch die sinnreichste und verständigste Art, das, was er uns durch dieses Gemählde zu errathen geben wollte, anzudeuten, ausfindig gemacht habe, ist doch nicht zu läugnen, daß seine Absicht, – wenn es anders seine Absicht war, die Veränderlichkeit und Vielgestaltigkeit des alle mögliche Widersprüche in sich vereinigenden Karakters des Athenischen Demos allegorisch darzustellen, – nur unvollkommen und zweydeutig dadurch erreicht wird. Denn was er uns darstellt, ist nicht die personificierte Idee, die man mit dem Worte Volk verbindet, in so fern ihm ein gewisser allgemeiner Karakter zukommt; sondern eine Menge einzelner Glieder dieses Volks, in der besondern Handlung, Leidenschaft oder Gemüthsstimmung, worein sie sich in diesem Moment gesetzt befinden. Die Arbeit, sich selbst einen allgemeinen Volkskarakter aus allen diesen Ingredienzen zusammen zu setzen, bleibt dem Anschauer überlassen; aber auch dieser kann doch, da alles das eben so gut zu Korinth oder Megalopolis oder Cyrene hätte begegnen können, weiter nichts als den Karakter des Volks in einer jeden Demokratie darin aufsuchen, und der Mahler hat diesen Einwurf dadurch, daß er die Scene auf den großen Markt zu Athen setzte, höchstens aus den Augen gerückt, aber keineswegs vernichtet. Doch, wie gesagt, die Schuld, daß er nicht mehr leisten konnte, liegt nicht an ihm, sondern an den Schranken der Kunst; und, außerdem daß dieses Stück, bloß als historisches Gemälde betrachtet, alle Wünsche des strengsten Kenners befriediget, gesteh' ich gern, daß man auf keine sinnreichere Art etwas unmögliches versuchen kann.Außer unserm Aristipp (dessen Autorität ich hier keineswegs in Anschlag gebracht haben will) ist Plinius der einzige alte Schriftsteller, der des hier beschriebenen Gemähldes Meldung thut; aber die Art, wie er sich darüber ausdrückt, scheint mir anzuzeigen, daß er es bloß von Hörensagen gekannt habe. Hier sind seine eigenen Worte: Pinxit et demon Atheniensium, argumento quoque ingenioso: volebat namque varium, iracundum, iniustum, inconstantem, eundem exorabilem, clementem, misericordem, excelsum, gloriosum, humilem, ferocem fugacemque, et omnia pariter, ostendere. – De la Nauze in einem Memoire sur la maniere dont Pline a traité de la Peinture, ist mit dem berühmten de Piles (Cours de Peinture p. 75. s.) geneigt zu glauben, daß Parrhasius diese schwere und beynahe unmögliche Aufgabe durch eine allegorische Komposizion, auf eine ähnliche Weise wie Rafael in seiner sogenannten Schule von Athen ein ähnliches Problem, nehmlich eine Karakteristik der verschiedenen filosofischen Schulen und Sekten unter den Griechen, aufzulösen versucht habe. Car enfin (sagt er) un tableau allegorique du genie d'un peuple par le moyen de plusieurs grouppes, qui en retraçant des evenemens historiques de divers tems, marqueroient la vicissitude des sentimens populaires, ne paroit pas plus difficile à concevoir qu'un tableau allegorique du genie de la Philosophie par d'autres grouppes, qui en representant des personnages historiques de differens pais et de differens siecles, indiquent la vicissitude des opinions philosophiques. Le parallele (setzt er hinzu) semble complet, avec cette difference, que le sujet caustique de Parrhasius etoit delicat à traiter: aussi Pline a-t-il insinué par le terme il vouloit, que l'execution, ou du moins le succès, furent moins heureux que l'invention. – Mir scheint das volebat des Plinius nichts weiter anzudeuten, als daß er sich, da er dieses sonderbare Gemählde nicht selbst gesehen hatte, aus bescheidener Zurückhaltung nicht positiver ausdrucken wollte. Übrigens berge ich nicht, daß ich die Idee, die uns Aristipp von diesem Gemählde giebt, und die Art, wie das räthselhafte Problem dadurch aufgelöset wird, der zwar sinnreichen, aber dem Leser keinen klaren Begriff gebenden Hypothese des de Piles, vorziehe. Die erheblichste Einwendung, die man gegen sie machen kann und wird, gründet sich auf die ziemlich allgemein angenommene Meinung, weder Parrhasius noch irgend ein anderer Griechischer Mahler hätte, aus Unbekanntschaft mit den Regeln der Perspektiv, auch nur den Gedanken fassen können, ein Stück auf diese Art zusammen zu setzen und zu disponieren, wie der Demos Athenäon nach Aristipps Beschreibung hätte geordnet seyn müssen. Die Alten, sagt man, hatten keinen Begriff von Vor- Mittel- und Hinter-Grund; sie stellten, auch in ihren reichsten Komposizionen alle Figuren und Gruppen auf Einen Plan, und die optischen Gesetze, nach welchen verschiedene Körper, in verschiedenen Entfernungen aus Einem Gesichtspunkt gesehen, verhältnismäßig größer oder kleiner, stärker oder matter gefärbt erscheinen, waren ihnen unbekannt. Ohne mich hier in Erörterung der Gründe einzulassen, warum ich über diesen Punkt der Meinung des Grafen Caylus zugethan bin (S. dessen Abhandlung über die Perspektiv der Alten im neun und dreyßigsten Band der Memoires de Litterature) begnüge ich mich zu sagen, daß ich für den Demos des Parrhasius, so wie Aristipp dieses Gemählde beschreibt, weiter nichts verlange, als was man den beiden großen Komposizionen eines ältern Mahlers, des Polygnotus, die an den beiden Hauptwänden der sogenannten Lesche zu Delfi zu sehen waren, und wovon die eine das eroberte Troja und die Abfahrt der Griechen, die andere den Homerischen Ulyß im Hades darstellte, zugestehen muß, wenn man anders so billig seyn will, einem Mahler, wie Polygnotus war, zuzutrauen, daß er die ungeheure Menge von Figuren und Gruppen, womit diese großen Schildereyen, nach dem ausführlichen Bericht des Pausanias, angefüllt waren, etwas ordentlicher und verständlicher zusammen gesetzt haben werde, als dieser geschmacklose inquisitive traveller sie beschreibt. Zwar geht er, mit der mühseligsten Genauigkeit in die kleinsten details ein, zählt uns alle auf dem ganzen Gemählde vorkommende, beynahe unzählige Personen, mit dem jedem beygeschriebenen Nahmen, wie aus einer Musterrolle zu, bemerkt ob sie einen Bart haben oder noch bartlos sind, ob ihre Nahmen aus dem Homer, oder aus der sogenannten kleinen Ilias eines gewissen Lesches genommen, oder vom Polygnot eigenmächtig erfunden worden, und was dergleichen mehr ist. Ihm ist die kleinste Kleinigkeit dieser Art merkwürdig; z. B. daß zu den Füßen eines gewissen unbedeutenden Amfiales ein Knabe sitzt, dem kein Nahme beygeschrieben ist; daß Meges und Lykomedes, jener eine Wunde am Arm, dieser eine an der Vorhand hat; daß nach dem Bericht des besagten Dichters Lesches, Meges seine Wunde von einem gewissen Admet, Lykomedes die seinige von Agenorn bekommen; daß der Mahler dem armen Lykomed, ohne von dem Dichter dazu autorisiert zu seyn, noch eine andere Wunde am Schenkel und eine dritte am Kopfe geschlagen u.s.w. Und in tausend solchen einzelnen Beschreibungen und Umständlichkeiten, immer mit beygemischten mikrologisch-filologischen Anmerkungen von diesem Schlage, verwirrt und verliert der gute Mann sich selbst, seine Leser und das Gemählde, wovon die Rede ist, dermaßen, daß er selbst und wir vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen können. Alle diese einzelnen Personen und Sachen, die er uns so grafisch als ihm möglich ist verzeichnet, in unserm Kopfe zusammen zu ordnen, und ein Ganzes daraus zu machen, überläßt er uns selbst. Daß dieß eben nicht schlechterdings unmöglich sey, hat Graf Caylus durch eine der ehmahligen Academie des Belles Lettres vorgelegte und von einem gewissen Le Lorrain in Kupfer geätzte Zeichnung bewiesen. (S. Descript. de deux Tableaux de Polygnote etc. im dreyzehnten Bande der Histoire de l'Acad. Roi. des Inscr. et B. L. p 54 der Duodezausgabe.) Indessen hat Pausanias sein möglichstes gethan, uns über den Punkt, woran uns jetzt am meisten gelegen ist, wo nicht gänzlich irre zu führen, doch wenigstens ungewiß zu machen, und bey vielen den Gedanken zu veranlassen, weil er von der mahlerischen Anordnung und der hierin bewiesenen Kunst des Meisters kein Wort sagt, so müsse es wohl dem Gemählde selbst daran gefehlt haben. Aber diesen Schluß kann oder sollte doch niemand machen, der sich aus dem ganzen Werke des Pausanias handgreiflich überzeugen könnte, daß es unmöglich ist, weniger Sinn für die Kunst zu haben als er, und daß alle Werke der bildenden Künste, in deren Aufsuchung, Beaugenscheinigung und Beschreibung er so sorgfältig und mühsam war, ihn nur in so fern interessierten, als sie ihm zu dem, was zugleich sein Hauptstudium und sein Steckenpferd war, zu mythologischen, antiquarischen, topografischen, chronologischen, genealogischen, kurz zu allen möglichen Arten von historischen Anmerkungen und Untersuchungen Gelegenheit gaben. Dieß muß (seinen übrigen Verdiensten unbeschadet) als Wahrheit anerkannt werden, oder wir würden genöthigt seyn, uns auch von dem Olympischen Jupiter des Pidias, seiner kalten, platten, genie- und gefühllosen Beschreibung zu Folge, einen ganz andern Begriff zu machen als wozu uns alle andern Schriftsteller des Alterthums, die dieses erhabenen Kunstwerks erwähnen, berechtigen. Übrigens werde ich mit niemand hadern, der sich selbst begreiflich machen kann, wie Polygnot jene zwey von Pausanias detaillierten Gemählde ohne einige, obgleich noch sehr unvollkommene perspektivische Ordonnanz und Haltung der Gruppen, in welche die ungeheure Menge von Figuren nothwendig vertheilt seyn mußten, habe zu Stande bringen können. Ich sage bloß: Waren diese großen Komposizionen des Polygnotus das, was sie, nach dem Begriff, den ich mir aus Xenofon und Plinius von diesem Künstler mache, seyn konnten, und (wofern sie nicht ein kindisches Gemengsel über, unter und neben einander gekleckster isolierter Figuren waren) seyn mußten: so dürfte wohl gegen die Möglichkeit, daß Parrhasius, ein jüngerer und größerer Meister als Polygnot – ein Werk, wie das von Aristipp in diesem Briefe (nur mit etwas mehr Kunstgefühl, als Pausanias zeigt) beschriebene Gemählde habe aufstellen können, wenig erhebliches einzuwenden seyn. Denn, wofern er, wie kein Zweifel ist, einer von jenen summis pictoribus, formarum varietate locos distinguentibus, war, (Cicero de Orat. II. 87.) so müßte es nicht natürlich zugegangen seyn, wenn er nicht so viel Menschenverstand, Augenmaß und Kunstfertigkeit besessen hätte, als dazu erfordert wird, den Markt zu Athen, auf einer Tafel von gehöriger Größe, ohne Verwirrung und Unnatur mit allen von Aristipp angegebenen Figuren und Gruppen auszufüllen. Und mehr verlangen wir nicht von ihm.


 << zurück weiter >>