Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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VI.
An Kleonidas.

Ich lebe bereits einige Wochen in dieser weltberühmten und in ihrer Art einzigen Minervenstadt, welche zu sehen mich schon so lange verlangte. Hat sie meine Erwartung übertroffen? oder ist sie unter ihr geblieben? Beides, lieber Kleonidas, und ich werde täglich mehr in der Meinung bestärkt, daß es mir immer und allenthalben mit allen menschlichen Dingen eben so gehen werde. Im Ganzen genommen kenne ich noch keinen Ort, wo ich lieber leben möchte als zu Athen, und, meinem Geschmack nach, hat die Stadt durch das Abtragen ihrer Mauern mehr gewonnen als verloren. Ob sie, vor dieser den Athenern so schmerzlichen Demüthigung, wirklich, wie sie sich schmeichelten, die schönste Stadt in der Welt war, ließe sich vielleicht noch fragen: aber daß sie jetzt das größte, schönste, prächtigste und volkreichste Dorf in allen drey Welttheilen ist, wird niemand zu läugnen begehren. Auch ohne Mauern bleibt sie immer der erste Tempel der Musen, der Sitz des Geschmacks, und die Werkstatt aller das Leben unterstützenden und verschönernden Künste, mit Einem Wort, Alles wozu Perikles sie machte, dessen Andenken aber, wie ich sehe, bey diesen leichtsinnigen und undankbaren Republikanern schon lange vergessen ist. Kannst du glauben, daß sie es sogar ungern hören, wenn ein Fremder mit Ehrerbietung von diesem großen Manne spricht, oder ihm die herrlichen Gebäude und Kunstwerke, womit er die Stadt und die Akropolis geziert hat, zum Verdienst anrechnet? Im Athenischen Stil zu reden hat das Volk alles gethan; ja sie sprechen nicht anders davon, als ob das Alles so hätte seyn müssen, und mit ihnen zugleich aus dem Attischen Boden hervorgewachsen wäre. Selbst die Nahmen eines Miltiades, Themistokles, Aristides, Cimon, (der Männer, denen Griechenland zu danken hat, daß es nicht zu einer Persischen Satrapie zusammen schrumpfte) werden selten oder nie gehört; aber dafür sind die Männer von Marathon und Salamin immer auf ihren Lippen, und der erste Schuster oder Kleiderwalker, dem du begegnest, ist so stolz darauf, der Enkel eines Mannes von Marathon zu seyn, als ob er selbst dadurch zu einem Manne von Marathon würde, und schwatzt mit der unbeschreiblichsten Geläufigkeit der Zunge stundenlang von den Großthaten seiner Vorfahrer, ohne das mindeste Bewußtseyn, wie viele Ursache diese hätten, sich ihrer ausgearteten Nachkommenschaft zu schämen. In der That kannst du dir nichts komischeres vorstellen, als den nahmenlosen Schmerz, womit sie von dem Verlust ihrer Mauern sprechen, wenn du zugleich bedenkst, daß es bloß auf sie ankam, durch einen den Spartanern zu rechter Zeit entgegen gesetzten kräftigen Widerstand, ihre so zärtlich geliebten Mauern zu erhalten. »Ach! daß wir leben mußten den Athenischen Nahmen so geschändet zu sehen!« rufen sie mit einem langen kläglichen Seufzer aus, und es kommt ihnen alles andere eher in den Sinn, als sich selbst die Schuld beyzumessen, oder zu bedenken, daß sie ja, so gut wie die dreyhundert Spartaner bei Thermopylä, mit den Waffen in der Hand sterben konnten, wenn sie eine solche Schmach nicht erleben wollten, und daß dieß in der That die einzige Entschließung war, die den Söhnen der Männer von Marathon geziemte.

Doch für jetzt nichts weiter von diesen der Geißel ihres Aristofanes so würdigen Kechenäern, weil ich dir nicht bald genug von dem Manne sprechen kann, um dessentwillen ich hauptsächlich hierher gekommen bin, und der dadurch, daß auch Er ein geborner Athener ist, für alle andere Schonung und beynahe Achtung fordert.

Du zweifelst nicht, daß eine meiner ersten Sorgen war, mich von Antisthenes bey seinem ehrwürdigen Freund einführen zu lassen.

Es wäre schwer, dir den Eindruck zu beschreiben, womit mich der erste Anblick dieses außerordentlichen Mannes überraschte. Meine Einbildungskraft, (welcher ich überhaupt wenig Gehör zu geben pflege, weil sie mich fast immer irre führt) hatte sich ohne Zuthun meines Willens eine Vorstellung gemacht, wie jemand aussehen müsse, um Sokrates zu seyn; und nun fand sichs, daß diese Vorstellung unter allen Sterblichen keinem weniger anpaßte, als dem wirklichen Sokrates. Ich stand einen Augenblick etwas betroffen da, war aber kaum eine halbe Stunde bey ihm gewesen, als ich nicht nur mit dem Unerwarteten in seiner Gesichtsbildung völlig ausgesöhnt war, sondern mir sogar schon in den Kopf gesetzt hatte, daß er so aussehen müsse, und daß kein andres Äußerliches geschickter gewesen wäre, seinen innern Karakter schneller anzukündigen und stärker auszusprechen als gerade dieses. Denke dir einen korpulenten, breitschultrigen alten Mann, mit einem bis an die Seitenhaare kahlen Silenenkopf, und dem rüstigen Ansehen eines echten Abkömmlings der Sieger bey Marathon und Salamine; und ermiß nun selbst, welch einen Kontrast eine solche Figur mit der Erwartung eines jungen Menschen machte, der sich, nach einem ziemlich allgemeinen Vorurtheil, einen wegen seiner Weisheit und Geistesgröße berühmten Mann nicht anders als mit dem Kopf eines Pythagoras oder Solon denken konnte! Aber der vielumfassende Verstand, der in dieser hohen und breiten, über den buschigen Augbraunen sich weit hervor wölbenden Stirne wohnt; der Geist, der aus diesen stieren Augen blitzt, und dir mit jedem Blick bis auf den Grund deines Innern zu sehen scheint; der entschiedene Ausdruck eines festen, männlichen, keiner Furcht noch Schwäche fähigen Karakters, einer unwandelbaren Heiterkeit und Gleichmüthigkeit und einer biedern allen Menschen wohlwollenden Seele, dieser Ausdruck, der seinem ganzen Gesicht scharf und tief aufgeprägt ist, macht in wenig Augenblicken den ersten widrigen Eindruck schwinden; du fühlst dich immer stärker und stärker von ihm angezogen; ein unerklärbarer Zauber hält dich in seinem Kreise fest, und du wünschest, dich in deinem ganzen Leben nie wieder von ihm entfernen zu dürfen. Wundre dich nicht, Lieber, daß ich mich so lange bey der Fysionomie des Sokrates verweile; denn ich habe mir in den fünf bis sechs Wochen, seit ich mit ihm lebe, ein ganz eigenes Studium aus ihr gemacht, und ich bin gewiß, daß sie einen wesentlichen Antheil an der außerordentlichen Gewalt und Überlegenheit hat, die dieser Mann – der seinem Aufzug und seinen Glücksumständen nach in ganz Athen wenige unter sich sieht, – über alle Menschen, die sich ihm nähern, zu behaupten weiß. Ich habe ihn während dieser Zeit, da ich selten von seiner Seite komme, nicht einen Augenblick anders als heiter und freundlich gesehen; aber Antisthenes versichert mich, daß sich nichts fürchterlichers denken lasse, als das drohende Gesicht, womit er in einem Handgemenge vor den Mauern von Potidäa einen feindlichen Trupp, der sich des verwundeten Alcibiades bemächtigen wollte, zurück gescheucht habe; und ich begreife vollkommen, daß er, sobald er will, grimmig genug aussehen kann, um einem Löwen Angst einzujagen. Ohne Zweifel ist gerade dieß die Ursache, warum der Ausdruck von Wohlmeinung und Güte eine so große Wirkung in seinem Gesichte thut, weil die natürliche Schönheit der Züge so wenig dazu beyträgt, und man also um so gewisser seyn kann, daß es der Abdruck wahrer Gesinnungen ist, und unmittelbar aus dem Herzen kommt. Das nehmliche gilt (in seiner Art) von dem ziemlich nah an Hohn grenzenden Spotte, der in den aufgestülpten Nüstern seiner Delfinen-Nase lauert, aber durch die gewöhnliche heitere Freundlichkeit seiner Augen, und das gutherzige Lächeln seines dicklippigen Mundes so sonderbar gemildert wird, daß er aufhört Spott zu seyn, oder daß nur gerade so viel davon übrig bleibt, um seiner Art zu scherzen, und der ihm eigenen Ironie etwas säuerlichsüßes zu geben, das unendlich angenehm ist, aber sich weder beschreiben noch nachmachen läßt. Kurz, ich bin gewiß, diese sonderbare Mischung von Weisheit und Einfalt, von Ernst und Muthwillen, von Gleichmüthigkeit und genialischer Laune, Stolz und Bescheidenheit, Treuherzigkeit und Kausticität, die das Eigenthümliche seines Karakters ausmacht, und wodurch er, mit Einem Wort, Sokrates ist, könnte gar nicht Statt finden, wenn ihm die Natur eine regelmäßige Gesichtsbildung gegeben hätte, und gerade diese, die er hat, sey diejenige, welche der in ihm wohnende Genius sich besser als eine andere anpassen konnte.Alles, was Aristipp in dieser und andern Stellen seiner Briefe von dem Äußerlichen des Sokrates sagt, stimmt sowohl mit der Idee, die man sich aus verschiedenen Stellen im Xenofon und Plato von ihm machen muß, als mit den schönsten Sokratesköpfen auf antiken Gemmen sehr genau überein; auch scheinen seine Bemerkungen über die Fysiognomie und überhaupt über das Eigene und Karakteristische an der Außenseite desselben einen hinlänglichen Grund zu enthalten, warum er die bekannte, dem Cicero und Alexander von Afrodisias so oft nachgebetete Anekdote von dem, was dem Sokrates mit dem Fysiognomen Zopyrus begegnet seyn soll, wofern sie ihm auch bekannt war, keiner Erwähnung würdigt. Übrigens pflegte Sokrates selbst über seine Silenenmäßige Gestalt zu scherzen, und es wäre lächerlich, ihn, (wie einige gethan haben) der Schönheit seiner Seele zu Ehren, und dem Zeugniß seiner vertrautesten Freunde zu Trotz, zu einem Adonis machen zu wollen. Ich zweifle daher nicht, daß Epiktet, wenn er ihm σομα επιχαρι και ηδυ zuschreibt, (S. Arriani Diss. Ep. IV. 11) nicht mehr damit habe sagen wollen, als was Aristipp hier nur ausführlicher und bestimmter, (wie einem Augenzeugen zukommt) ausgedruckt zu haben scheint.


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