Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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XVI.
Antipater an Diogenes.

Mehr als zehen Jahre sind schon verflossen, seit ich mit Aristipp bekannt wurde, und das Glück hatte, seines Umgangs während eines großen Theils dieser Zeit täglich zu genießen. Ich habe ihn in mancherley Lagen und Verhältnissen gesehen und beobachtet; oder, richtiger zu reden, er zeigte sich mir immer so offen, unzurückhaltend und anspruchlos, daß ich, um ihn kennen zu lernen, nichts als das Paar gesunde Augen brauchte, womit mich die Natur ausgestattet hat. Es müßte also nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn ich von den Grundsätzen, die er in seinem Leben befolgt (und er hat keine andere) nicht besser unterrichtet seyn sollte, als Leute die ihn bloß von Hörensagen kennen, oder aus einem zufälligen Umgang und im Flug aufgeschnappten einzelnen Worten über ihn abzusprechen sich vermessen.

Du wirst dich daher nicht wundern, Freund Diogenes, wenn ich dir sage, daß ich nicht ohne Unwillen hören kann, mit welcher Dreistigkeit er noch immer von eini gen Sokratikern, besonders von den eifrigsten Anhängern der Akademie, öffentlich beschuldigt wird, daß er die Grundsätze des gemeinschaftlichen Meisters der Athenischen Schule nicht nur verfälschen sondern sogar das förmliche Gegentheil derselben lehre und ausübe, indem er die Wollust, und zwar bloß die körperliche oder den groben thierischen Sinnenkitzel, für das höchste Gut des Menschen erkläre, ausdrücklich behauptend: es gebe kein anderes Vergnügen als die Sinnenlust, und alles übrige bestehe bloß in leeren Einbildungen, womit nur Leute sich zu täuschen suchten, denen es an den Mitteln fehle, sich den wirklichen Genuß aller Arten von sinnlichen Vergnügungen zu verschaffen.

Ich gestehe dir, Diogenes, meine Geduld reißt, wenn ich diese alten abgeschmackten Verleumdungen noch immer von Männern, denen der Nahme Sokratiker zur Beglaubigung dient, erneuern, und, auf deren Verantwortung, aus so manchen schnatternden Gänsehälsen und gähnenden Eselskinnladen wiederhallen höre; und mehr als ein Mahl bin ich schon im Begriff gewesen, nach der Aristofanischen Geisel zu langen und die Thoren öffentlich dafür zu züchtigen, wenn mich nicht die Achtung für Aristippen, der keiner Rechtfertigung bedarf, und die Verachtung seiner Verleumder, die der Züchtigung nicht werth sind, jedes Mahl zurück gehalten hätte. Indessen kann ich mir doch die Befriedigung nicht versagen, wenigstens dir, mein alter Freund, wiewohl du es (denke ich) nicht schlechterdings vonnöthen hast, einen Aufschluß über diese Sache zu geben, der dir begreiflich machen wird, wie eine so alberne Sage unter den morosofierenden Müßiggängern und Schwätzern zu Athen entstehen konnte.

Den ersten Anlaß mag wohl der starke Abstich gegeben haben, den die verhältnismäßig etwas üppige Lebensweise Aristipps mit dem schlechten Aufzug und der sehr magern Diät der meisten Sokratiker und des Meisters selbst machte, und der jenen um so anstößiger seyn mochte, weil er im ersten Jahre seines Umgangs mit Sokrates sich ihnen in allem ziemlich gleich gestellt hatte. Indessen war Aristipp nicht der einzige, der sich auf diese Art auszeichnete; mehrere begüterte Freunde des Weisen lebten auf einem ihrem Vermögen angemessenen Fuß, und er selbst (sagt man) war weit entfernt mit seiner Armuth zu prunken, und diejenigen mit stolzer Verachtung anzusehen, die nicht, wie er, von einem Triobolon des Tages leben wollten, weil sie wollen mußten. Warum wurde denn Aristippen allein so übel genommen, was man an andern nicht ungehörig fand? Ohne Zweifel lag der wahre Grund darin, daß Aristipp überhaupt nicht recht zu den meisten Sokratikern paßte, und da er dieß bald genug gewahr wurde, von Zeit zu Zeit aus ihrem Kreise heraus trat und sich auch mit andern, die nicht zu ihnen gehörten, sogar mit einem Hippias und Aristofanes, in freundschaftliche Verhältnisse setzte. Hierzu kam noch, daß er, bey aller seiner Verehrung für den Geist und Karakter des Sokrates, eben so wenig zum Nachtreter und Wiederhall desselben geboren war als Plato, und sich eben so wenig verbunden hielt über alle Dinge einerley Meinung mit ihm zu seyn, als sich ihm in seiner absichtlichen Beschränkung auf das Unentbehrliche gleich zu stehen. So reitzten z. B. eine Menge wissenschaftlicher Gegenstände seine Neugier, welche Sokrates für unnütze Grübeleyen erklärte; und so machte er auch kein Geheimniß daraus, daß der Attische Weise ihm die eigentliche Lebensfilosofie zu sehr in den engen Kreis des bürgerlichen Lebens und auf das Bedürfniß eines Attischen Bürgers einzuschränken scheine; da er selbst hingegen schon damahls Trieb und Kraft in sich fühlte, einen freyern Schwung zu nehmen, und die Verhältnisse des Bürgers von Cyrene den höhern und edlern des Kosmopoliten, wo nicht aufzuopfern, doch nachzusetzen.

Indessen hinderte dieß Alles nicht, daß Aristipp, so lange Sokrates lebte, für einen seiner Freunde und Homileten vom engern Ausschuß, und selbst in Ansehung des Wesentlichsten seiner Filosofie für einen Sokratiker galt. Als aber nach dem Tode des Meisters Antisthenes und Plato sich an die Spitze dessen, was man jetzt die Sokratische Schule zu nennen anfing, stellten, und die Stifter zweyer Sekten wurden, welche, ihrer Verschiedenheit in andern Stücken ungeachtet, darin übereinkamen, daß sie gewisse Sokratische Grundbegriffe und Maximen weit über den Sinn des Meisters und bis auf die äußerste Spitze trieben: so mußte nun, wie Aristipp von seinen langen Wanderungen nach Athen zurück kam und ebenfalls eine Art von Sokratischer Schule eröffnete, nothwendig eine öffentliche Trennung erfolgen, wobey die Pflichten der Gerechtigkeit und Anständigkeit, wenigstens auf Einer Seite, ziemlich ins Gedränge kamen. Beide, Plato und Antisthenes, sprachen von allen Vergnügungen, woran der Körper Antheil nimmt, mit der tiefsten Verachtung: Dieser, weil er »Nichts bedürfen« für ein Vorrecht der Gottheit hielt, und also, nach ihm, der nächste Weg zur höchsten Vollkommenheit ist, sich, außer dem schlechterdings Unentbehrlichen, Alles zu versagen was zum animalischen Leben gerechnet werden kann; Jener, weil er den Leib für den Kerker der Seele, und die Ertödtung aller sinnlichen Triebe für das kürzeste Mittel ansieht, das innere Leben des Geistes frey zu machen, und die Seele aus der Traumwelt wesenloser Erscheinungen zum unmittelbaren Anschauen des allein Wahren, der ewigen Ideen und des ursprünglichen Lichts, worin sie sichtbar werden, zu erheben. Aristipp, dem alles Übertriebene, Angemaßte und über die Proporzionen der menschlichen Natur Hinausschwellende, lächerlich oder widrig ist, mochte sich, als er noch zu Athen lebte, bey Gelegenheit erlaubt haben, über diese filosofischen Solöcismen seiner ehemahligen Lehrgenossen in einem Tone zu scherzen, den der sauertöpfische Antisthenes so wenig als der feierliche Plato leiden konnte. Beide rächten sich (jeder seinem Karakter gemäß, jener gallicht und plump, dieser fein und kaltblütig) durch die Verachtung, womit sie von dem Manne und seiner Lehre sprachen. Aristippen hieß die Sinnenlust eben sowohl ein Gut als irgend ein Anderes; er sah keinen Grund, warum er es über diesen Punkt nicht mit dem ganzen menschlichen Geschlecht halten sollte, welches stillschweigend übereingekommen ist, alles gut zu nennen, was dem Menschen wohl bekommt; ja er war so weit gegangen, zu behaupten: auch das geistige Vergnügen sey im Grunde sinnlich, und theile den Organen des Gefühls eine Art angenehmer Bewegung mit, deren Ähnlichkeit und Verwandtschaft mit andern körperlichen Wollüsten von jedem sich selbst genau beobachtenden nicht verkannt werden könne. Diese Sätze wurden, ohne daß man sich auf ihre Beweise und genauere Erörterung einließ, in der Akademie und im Cynosarges für übeltönend und Anti-Sokratisch erklärt; und so erzeugte sich unvermerkt bey allen, denen Aristipp nicht besser als von bloßem Ansehen oder Hörensagen bekannt war, jene ungereimte Meinung, die ihm und seinen Freunden von den Anhängern der beiden Tyrannen, die sich damahls in die Beherrschung der filosofischen Republik theilten, den Spitznahmen Wollüstler (Hedoniker) zugezogen haben. Das Mißverständniß wäre leicht zu heben gewesen, oder würde vielmehr gar nicht Statt gefunden haben, wenn jene Herren nicht so einseitig und steifsinnig wären, ihre persönliche Vorstellungsart zum allgemeinen Kanon der Wahrheit zu machen. Die meisten Fehden über solche Dinge hörten von selbst auf, wenn die verschieden Redenden vor allen Dingen gelassen untersuchen wollten, ob sie auch wirklich verschieden denken; und in zehen Fällen gegen einen würde sogleich Friede unter den Kämpfern werden, wenn sie anstatt um Worte zu fechten und in der Hitze der Rechthaberey sich selbst immer ärger zu verwickeln, die Begriffe kaltblütig auseinander setzen und, so weit es angeht, in ihre einfachsten Elemente auflösen wollten. Daher kommt es ohne Zweifel, daß Aristipp in solchen Fällen immer das allgemeine Wahrheitsgefühl der Zuhörer auf seiner Seite hat. Wie stark auch das gegen ihn gefaßte Vorurtheil bey einer sonst unbefangenen Person seyn mag, so bald er sich erklärt hat, wird man entweder seiner Meinung, oder sieht, daß man es bereits gewesen war und sich die Sache nur nicht deutlich genug gemacht hatte; oder man begreift wenigstens, wenn man gleich selbst nicht völlig überzeugt ist, wie es zugeht, daß andere verständige Leute seiner Meinung seyn können.

Mit Plato und Antisthenes hat es nun freylich eine andere Bewandtniß. Ihre Filosofie ist von Aristipps zu sehr verschieden, um eine Vereinigung zuzulassen. Die seinige begnügt sich menschliche Thiere zu Menschen zu bilden – was Jenen zu wenig ist; die ihrige vermißt sich Menschen zu Göttern umzuschaffen, was Ihm zu viel scheint. Sie gehen von Begriffen und Grundsätzen aus, die mit den seinigen in offenbarem Widerspruch stehen: Die Fehde zwischen ihnen kann also nur durch eine Unterwerfung aufhören, zu welcher wohl keine von den streitenden Mächten sich je verstehen wird. Ich verlange aber auch für meinen Lehrer und Freund sonst nichts von ihnen, als nur nicht unbilliger gegen Ihn zu seyn, als Er gegen Sie ist. Mögen Sie doch sein System mit stolzem Naserümpfen verhöhnen, oder mit gerunzelter Stirne verdammen! Nur verfälschen sollen sie es nicht.


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