Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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XXXII.
An Lais

Ich werde mich künftig wohl hüten, den Kunstrichter zu machen, wenn ich mit dir von dem Werk eines großen Meisters spreche. Ganz gewiß hast du die Idee des Parrhasius auf den ersten Blick richtig gefaßt, und ich begreife jetzt selbst nicht, wie ich dem Ansehen eines vorgeblichen Kenners, an dessen Seite ich den sogenannten Demos Athenäôn sah, mehr glauben konnte als dem Zeugniß meiner eignen Augen, die mir eben dasselbe sagten was du. So kann uns die löbliche Tugend der Bescheidenheit – oder die Untugend des Mißtrauens in uns selbst zuweilen irre führen!

Kleombrotus hat sein Geheimniß besser in seinem Busen verwahrt als Musarion seine Briefe in ihrem Schmuckkistchen. Ich merkte zwar, daß seine Fantasie während unsrer ganzen Reise sehr hoch hinaufgeschraubt war; aber geschraubt war sie auch vorher gewesen, und was etwa das Mehr austragen mochte, setzte ich, den Regeln der Wahrscheinlichkeit gemäß, auf deine Rechnung. Denn wie konnt' ich mir einbilden, daß ein solcher Schwärmer die schöne Lais ungestraft hätte sehen können? Daß nur ein Schwärmer wie er es könne, fiel mir nicht ein – und ist doch so wahr! Desto besser für ihn daß er es konnte! Bey dir würde er schwerlich so wohl gefahren seyn als bey der kleinen Musarion, und sie schickt sich freylich besser dazu, seiner fantastischen Art zu lieben (die er dem jungen Plato, einem noch größern Schwärmer als er selbst, abgelernt hat) zum Zunder zu dienen als du. Da es ihm nun einmahl angethan ist, daß er sich nur in Seelen verlieben kann, so hätte ihm nichts glücklicheres begegnen können, als so von ungefähr auf das sanfte Seelchen eines so ganz aus Lilienglanz und Rosenduft zusammen gehauchten und von Amors zärtlichstem Seufzer beseelten Mädchens zu stoßen; und ich freue mich für sie und uns, daß du geneigt bist, sie unter dem Schleier ihrer vermeinten Unsichtbarkeit ihr Wesen so lange forttreiben zu lassen, bis etwa Natur oder Zufall dem empfindsamen Kinderspiel ein Ende macht.

Meine Bekanntschaft oder Freundschaft, wenn du willst, mit dem verführerischen Hippias steht noch in vollem Wachsthum. Wir sehen uns beynahe täglich, und scheinen einander immer mehr Geschmack abzugewinnen. Es fehlt zwar viel, daß seine Filosofie auch die meinige sey. Sie geht nicht weiter als auf Lebensklugheit; dein Freund Aristipp hingegen (rümpfe deine schöne Nase nicht gar zu spöttisch, Laiska!) hat es dem Sohne des Sofroniskus zu danken, daß er sich kein geringeres Ziel als Lebensweisheit vorgesteckt hat. Zwar ist nicht zu läugnen, daß Hippias mit seiner Aufgabe bereits im reinen ist, während ich noch ungewiß bin, ob ich jemahls mit Auflösung der meinigen zu Stande kommen werde: aber dafür wirst du mir zugeben, daß die seinige auch bey weitem nicht so schwer und verwickelt ist. Übrigens, den einzigen Punkt, worin wir nie zusammen treffen werden, ausgenommen, haben wir eine unendliche Menge Berührungspunkte, und ich finde wirklich alles in ihm beysammen, was man sich an einem angenehmen, beynahe zu allem brauchbaren Gesellschafter wünschen kann. Bis jetzt ist mir noch niemand vorgekommen, der vielseitiger und mannigfaltiger, freyer von Vorurtheilen, behender in richtiger Auffassung fremder Gedanken und Meinungen, und weniger schwerfällig in Behauptung seiner eignen wäre als Hippias. Überdieß besitzt er eine unendliche Menge von Kenntnissen und Geschicklichkeiten aller Art, und ich bin noch nie in seiner Gesellschaft gewesen, ohne irgend etwas wissenswürdiges oder brauchbares von ihm gehört oder gelernt zu haben. Aber freylich interessiert mich auch beynahe Alles in der Welt, und es giebt schwerlich ein so brotloses Künstchen, das ich nicht zu lernen versucht würde, wenn es irgends ohne großen Zeitaufwand und gleichsam im Vorbeygeben zu erlernen ist.

Sage indessen meiner edeln Base Anaximandra, sie würde mir großes Unrecht thun, wenn sie glaubte, Sokrates werde nun gerade so viel bey mir verlieren als Hippias gewinne. Meiner Sinnesart nach kann dieß nie der Fall seyn; und wenn sich auch meine Anfangs vielleicht allzuhohe Meinung von dem Athenischen Weisen um etwas herabgestimmt haben sollte, so hat wenigstens der Sofist von Elea nicht die geringste Schuld daran. Da ich einmahl auf diesen Punkt gekommen bin, liebe Laiska, so will ich mich so aufrichtig gegen dich erklären, als ob ich, als bloßer Zeuge dessen, was ich von der Sache weiß, vor deinem Richterstuhl stände. Ich werde nie aufhören den Sokrates zu ehren und mit Dankbarkeit zu erkennen, daß ich in seinem Umgang besser geworden bin. Auch kann ich dir, wenn du es begehrst, ziemlich genau sagen, worin, wodurch und wiefern ich mich durch ihn gebessert finde. Wenigstens glaube ich, daß ich ohne ihn nie zu dem Ideal der sittlichen Form meiner Natur gekommen wäre, dessen Ausbildung und Darstellung im Leben immer mein angelegenstes Geschäft seyn wird. Freylich würde mir Hippias sagen, diese Form wäre auch ohne Hülfe des Sokrates in mir entwickelt worden, so gut als die Kinder, denen seine Mutter zur Geburt verhalf, vermuthlich auch ohne sie in die Welt gekommen wären. Das könnte vielleicht seyn, es kann aber auch nicht seyn; ich streite nicht gern über Dinge, die sich nicht aufs reine bringen lassen: genug, ich hasse eine Vorstellungsart, die mir ein so humanes und angenehmes Gefühl, als die Dankbarkeit ist, raubt, wiewohl Sokrates selbst, durch den edeln Eigensinn, alles was er zu geben hat, unentgeltlich zu geben, es mir unmöglich macht, sie ihm beweisen zu können. Aber auch ohne Rücksicht auf das, was ich ihm in diesen vier Jahren schuldig geworden bin, habe ich ihn in so langer Zeit hinlänglich kennen gelernt, um mit Überzeugung zu sagen, ich kenne keinen weisern und bessern Mann als ihn; und wenn ich noch dreymahl so lange mit ihm lebte, was könnt' ich mehr sagen? Wozu also sollt' ich noch immerfort wie sein Schatten hinter oder neben ihm her gleiten? Warum nicht auch andere merkwürdige Menschen aufsuchen, oder wenn sie mir von ungefähr begegnen, mich eine Zeitlang zu ihnen halten, um zu sehen, ob ich nicht auch durch diese besser werden kann? Denn, – da ich nun einmahl im Bekennen bin, warum sollt' ich nicht auch dieß gestehen, da es die bloße reine Wahrheit ist? – Sokrates ist für mich ein Buch, das ich schon lange auswendig weiß, eine Musik, die ich tausendmahl gehört, eine Bildsäule, die ich tausendmahl von allen Seiten betrachtet habe. Seit vier Jahren höre und sehe ich alle Tage ungefähr eben dasselbe bey ihm; und wiewohl ich ihn damit nicht getadelt haben will, so mag doch, dächte ich, ein für so vielerley Schönes und Gutes empfänglicher, und (mit deiner Erlaubniß) »das Vergnügen, wo nicht mehr als einem emporstrebenden Jüngling geziemt,« doch gewiß nicht weniger, liebender junger Mann zu entschuldigen seyn, wenn er es endlich müde wird, Tag vor Tag zu hören, an jedem Abend sich mit der Erinnerung, nichts anders den ganzen Tag über gehört zu haben, niederzulegen, und am folgenden Morgen mit der Gewißheit aufzustehen, daß er auch heute nichts anders hören werde, als »daß ein braver Mann seinem Vaterlande, seinen Freunden und seinem Hauswesen nützlich seyn, den Feinden hingegen allen möglichen Schaden zufügen, und um dieses und jenes besser zu können, immer mäßig, nüchtern und enthaltsam seyn, die Wollust fliehen, Hunger und Durst, Frost und Hitze leicht ertragen, keine Arbeit scheuen, keinen Schmerz achten, und aller Afrodisischen Anfechtungen, damit sie sich ja nicht etwa auf einen einzigen liebreitzenden Gegenstand werfen möchten, durch den ersten besten Ableiter aufs schleunigste los zu werden suchen müsse.« – Diese (unter uns gesagt) aus einem etwas groben Faden gewebte Moral, deren Theorie man in einer Stunde weg hat, und bey welcher alles bloß auf einen derben Vorsatz und lange Übung ankommt, mag zum Hausgebrauch eines Attischen Bürgers, zumahl wenn er von zwey oder drey Obolen des Tags leben muß, eben so zureichend seyn, als sie unstreitig nach Zeit und Ort und Erforderniß der vorhabenden Sache, auch jedem andern Biedermann zuträglich ist: aber ein ehrlicher Weltbürger, der sich darauf einrichten will, überall zu Hause zu seyn, und, seinem eigenthümlichen Karakter unbeschadet, in alle Lagen zu passen, und mit allen Menschen zu leben, langt damit nicht aus, und muß noch ein ziemliches Theil mehr wissen und können, um seine Rolle gut zu spielen, und, wofern er es auch andern Leuten, ohne seine Schuld, nicht immer recht machen kann, wenigstens so selten als möglich sich selbst sagen zu müssen: das hättest du besser, klüger oder schicklicher machen können. Überdieß sehe ich nicht, warum ein Mann, dem seine Umstände erlauben, über das Unentbehrliche in Nahrung, Kleidung, Wohnung und andern zum menschlichen Leben gehörigen Dingen, hinaus zu gehen, gerade nur seine Filosofie auf die bloße Nothdurft einschränken müßte. Das Menschengeschlecht ist zu ewigem Fortschreiten, der einzelne Mensch zu möglichstes Ausbildung seiner selbst, in der Welt. Dieß sagt mir mein Dämonion, und ich glaube ihm wenigstens eben so sicher folgen zu können, als Sokrates dem seinigen.

Übrigens steht, meines Bedünkens, dem Meister selbst manches wohl an, und verdient sogar alle Achtung, was an seinen Nachahmern nicht die nehmliche Grazie hat; zumahl wenn sie der Sache nie zu viel thun zu können glauben, und noch sokratischen seyn wollen als Sokrates selbst. Unter allen treibt es keiner weiter als Antisthenes; denn ge gen ihn ist Sokrates ein Stutzer. Seitdem ich mir die Freiheit nahm in meine gewohnte Lebensweise zurück zu treten, schien er (vermuthlich um mich durch den Abstich desto ärger zu beschämen) von der Sokratischen Schlichtheit bis zum schmutzigen Kostum der königlichen Bettler in den Tragödien des Euripides herabsteigen zu wollen. Dieß machte ihn eben nicht zum angenehmsten Nachbar; indessen wußte ich mir mit einem sehr einfachen Mittel zu helfen, und verbannte mich aus seiner Atmosfäre so weit ich konnte. Nun ward er, kraft der Vorrechte, die ihm unsre ehmahlige Vertraulichkeit gab, zudringlich, und weil die Gelegenheiten uns öffentlich zu sehen immer seltner wurden, suchte er mich sogar in meinem Hause auf, um mich mit dem ziemlich grobkörnigen attischen, oder vielmehr piräischenAntisthenes war in dem Flecken Piräum zu Hause, der zu dem Attischen Hafen gleichen Nahmens gehörte, und größtentheils von Handwerkern, die der Schiffsbau beschäftigte, Matrosen, Fischern und andern zur untersten Klasse des Athenischen Volkes gerechneten Leuten bewohnt wurde. Dieß erklärt, was Aristipp unter Piräischem Salz im Gegensatz mit Attischem zu verstehen scheint. Salze seiner Sarkasmen tüchtig durchzureiben. Da dieß nicht anschlagen wollte, und er immer nur lachende Antworten von mir erhielt, kehrte er zuletzt die rauche Seite heraus, und machte mir ernsthafte und bittere Vorwürfe, als ob ich der Sokratischen Gesellschaft durch meine Lebensweise und sybaritische Sitten (wie er zu sagen beliebte) Schande machte. Einsmahls kam er dazu, da ich eben für ein rothes Rephuhn funfzig Drachmen bezahlt hatte, d. i. ungefähr so viel als er selbst in einem halben Jahre zu verzehren hat, und in der That etwas viel für ein Rephuhn. – Schämst du dich nicht, schnarchte er mich in Gegenwart vieler Leute mit dem Ton und der Miene eines ergrimmten Pädotriben an, du, der für einen Freund des Sokrates angesehen seyn will, eine so große Summe für einen wenig Augenblicke dauernden Kitzel deines Gaumens auszugeben? Ich merkte leicht daß er mich reitzen wollte, um dem Volke, das in solchen Fällen immer Partey gegen den Fremden nimmt, eine Scene auf meine Kosten zu geben. Würdest du, sagte ich mit größter Gelassenheit, das Rephuhn nicht selbst gekauft haben, wenn es nur einen Obolus kostete? – Das ist ganz ein anders, versetzte er. »Keineswegs, Antisthenes; mir sind funfzig Drachmen nicht mehr als dir ein Obolus.« – Die Zuhörer lachten; ich ging davon, und seitdem sahen wir uns nicht wieder.

Ich erzähle dir diese kleine Anekdote, schöne Lais, um dir einen deiner angenehmen Athenischen Tischfreunde wieder ins Gedächtniß zu rufen, und damit du dich nicht zu sehr verwunderst, wenn du etwa hören solltest, Aristipp von Cyrene und Sokrates seyen auf immer mit einander zerfallen, weil besagter Aristipp seinem Lehrer funfzig Drachmen, um welche dieser ihn angesprochen, rund abgeschlagen, und doch zu gleicher Zeit fünf hundert um ein rothes Rephuhn ausgegeben habe.

Hippias gedenkt in kurzem eine Reise nach Syrakus zu unternehmen, und macht mir den Antrag ihn dahin zu begleiten. Außerdem, daß ich eben nicht weiß was mich in Athen zurück halten sollte, habe ich große Lust das Land zu sehen, wo meine Freundin Lais geboren wurde, und, was mir noch angelegner ist, bey dieser Gelegenheit vielleicht Sie selbst in Korinth wieder zu sehen. Der Antrag wird also vermuthlich angenommen werden.


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