Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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IX.
An Hippias.

Die Urtheile der Syrakusaner über die heroische Art, wie Sokrates die letzte Probe, worauf seine Tugend gesetzt wurde, bestanden hat, sind des Karakters, den du ihnen giebst, vollkommen würdig, edler Hippias. Es ist wirklich lustig, wenn solche Sybariten einen Mann wie Sokrates seine Pflichten lehren wollen. – »Es war seine Pflicht (sagen diese Virtuosen) Pflicht gegen Weib, Kinder und Freunde, sich selbst zu erhalten, und vornehmlich Pflicht gegen sein Vaterland, den Athenern die Nachreue über ein ungerechtes Urtheil zu ersparen. Denn, da er unschuldig war, so konnte ihn das Gesetz nicht verdammen; seine Verurtheilung war also eine schreyende Ungerechtigkeit.« – Aber woher wußten denn die Richter daß er unschuldig war? Die Klage schien bewiesen zu seyn, und er weigerte sich den Gegenbeweis zu führen. Die Richter mußten, den Gesetzen zu Folge, nicht nach dem, was sie glaubten oder nicht glaubten, sondern nach dem, was vor Gericht bewiesen und verhandelt worden war, sprechen. Sokrates hatte also Recht zu sagen: er sey durch die Gesetze von Athen gerichtet worden, und müsse sich, als ein guter Bürger, dem Urtheil unterwerfen. – »Aber, sagen jene, er war sich doch seiner Unschuld bewußt.« – Unstreitig; die Frage ist nur: berechtigte ihn dieses Selbstbewußtseyn, das Urtheil seiner Richter zu kassieren, oder (was auf das nehmliche hinausläuft) sich demselben durch die Flucht zu entziehen? Konnt' er das, ohne sich zum Richter über seine Richter aufzuwerfen? Welcher Staat in der Welt möchte bestehen können, wenn die Bürger berechtigt wären, die Urtheile ihrer Obrigkeit zu kontrollieren, und wenn jeder Ausspruch, den das Gesetz aus dem Munde seiner Wortführer über sie und ihre Handlungen, Ansprüche, oder Streitigkeiten unter einander, gethan hätte, einer eigenmächtigen Revision der interessierten Parteyen unterworfen wäre? Der Bürger eines Staats begiebt sich eben dadurch, daß er sich den Gesetzen desselben und der gesetzmäßig angeordneten Obrigkeit unterwirft, alles Rechts, sich gegen ihre Entscheidungen aufzulehnen, oder die Vollziehung derselben zu verhindern. – »Aber (wendet man ein) warum empört sich gegen diesen unläugbaren Ausspruch der Vernunft ein gebieterisches Gefühl in uns, welches wir nicht zum Schweigen bringen können?« – Mich dünkt, Hippias, du hast hierauf die wahre Antwort gefunden. Dieß Gefühl hängt an einer andern Ordnung der Dinge; es ist weder mehr noch weniger als der mächtige Erhaltungstrieb, den die Natur in alle lebende Wesen gelegt hat. Nur darin kann ich dir nicht beystimmen, wenn du diesen Trieb zum höchsten Naturgesetz und den Gehorsam gegen dieses Gesetz zu einer Pflicht machst, welcher alle andern weichen müssen; denn, nach meinem Begriff, vernichtest du dadurch sogar die bloße Möglichkeit dessen was ich mit Sokrates Tugend nenne. Ich werde zur Selbsterhaltung von der Natur aufgefordert, und bin berechtigt, meiner Erhaltung alle andern Pflichten, im Fall des Zusammenstoßes, nachzusetzen; aber ich bin nicht dazu verbunden. Ich bin ein freyes Wesen; will ich mich meines Rechtes begeben und mich selbst für andere aufopfern, so ist keine Macht in der ganzen Natur berechtigt mich daran zu hindern. Beruht nicht die wesentlichste Pflicht des Bürgers, sein Leben für die Vertheidigung seines Vaterlandes zu wagen und hinzugeben, lediglich auf diesem Rechte? Überhaupt kenne ich keine Tugend, die nicht in freywilliger Aufopferung besteht, und von der Größe des Opfers ihren höhern oder niedern Werth erhält. Tugend ist, nach meinem Begriff, moralisches Heldenthum; niemand ist verbunden ein Held zu seyn. Ich verdenke es daher einem Schuldigen nicht, wenn er sein nach dem Gesetz verwirktes Leben durch die Flucht rettet: aber ich ehre und bewundere den Schuldlosverurtheilten, der lieber sich selbst aufopfern, als seinen Mitbürgern ein Beyspiel des Ungehorsams gegen die Gesetze geben will. Eine so edelmüthige Gesinnung mag (wenn man will) an jedem andern als etwas Verdienstliches angesehen werden: an Sokrates war sie nicht mehr, als was alle, die ihn kannten, von ihm zu erwarten befugt waren. Hatte er nicht bey jeder Gelegenheit zu erkennen gegeben, daß er die Rechte des Menschen den Pflichten des Bürgers unterordne? Hatte er nicht das Hauptgeschäft seines Lebens daraus gemacht, seiner Republik gute Bürger zu erziehen, und sich selbst als ein Vorbild aller Bürgertugenden darzustellen? War es nicht eine auszeichnende Eigenschaft seiner Sittenlehre, daß er sogar die guten Angewöhnungen, zu welchen uns die Pflicht gegen uns selbst auffordert, vorzüglich deßwegen zu empfehlen pflegte, weil sie uns geschickter machen, unsre Bürgerpflichten zu erfüllen? Wie wäre es einem solchen Manne angestanden, ein solches Leben, bloß um dessen Dauer zu fristen, so nah am Ziele noch durch eine Handlung zu entehren, wodurch er seine eigenen Grundsätze so gröblich verläugnet haben würde? Die standhafte Weigerung, seine Bande von Kriton zerreißen zu lassen, setzte seinem ganzen Leben die Krone auf: da hingegen, wenn er dem Triebe der Selbsterhaltung und den Bitten seines Freundes nachgab, diese einzige Schwachheit seine eigene Überzeugung von der Wahrheit seiner Lehre verdächtig gemacht, und die gute Wirkung seines bisherigen Beyspiels entkräftet, ja bey vielen gänzlich vernichtet, ihn selbst aber auf ewig in den großen Haufen der alltäglichen Menschen herabgestoßen hätte, die keinen höhern Beweggrund kennen als ihren persönlichen Vortheil, und immer bereit sind, diesem das Beste des ganzen Menschengeschlechts aufzuopfern.

Übrigens wollen wir nicht vergessen, daß Sokrates auch von seinem Dämonion (wie er dem Kriton gesagt haben soll) von der Flucht aus dem Gefängniß abgehalten wurde, und also voraus versichert war, daß die Sache übel ablaufen würde. Ich denke, wir werden den Helden überhaupt kein Unrecht thun, wenn wir voraussetzen, daß sie alle, so viel ihrer je gewesen sind, immer mehr oder minder ein wenig geschwärmt haben. Sokrates glaubte in ganzem Ernst an eine göttliche Stimme, die sich von Zeit zu Zeit in seinem Innern hören lasse; und für einen so einfachen schlichten Mann wäre dieß Einzige schon mehr als hinreichend gewesen, ihm so viel Stärke zu geben, als er nöthig hatte, in einem Alter von mehr als siebzig Jahren dem Tode mit Muth entgegen zu gehen. Und so viel von Sokrates ehrwürdigen Andenkens.

Daß unsre Freundin Lais in Milet Aufsehen macht, brauche ich dir kaum zu sagen; das versteht sich von selbst, wiewohl wenig Städte in der Welt seyn mögen, die sich schönerer Weiber rühmen können, als diese prächtigste, reichste und wollüstigste Handelsstadt von Ionien. Da sie sich öfters und allenthalben wo für sie selbst etwas merkwürdiges zu sehen ist, wenigstens durch das dünne Silbergewölk eines Koischen Schleyers, sehen läßt, und hier ungefähr auf den nehmlichen Fuß lebt wie zu Korinth, so fehlt es ihr unter den Ersten und Reichsten dieser üppigen Metropolis nicht an Anbetern, die sich in die Wette bestreben, einen günstigen Blick der Göttin auf sich und ihre angebotenen Opfergaben zu ziehen. Aber noch bleibt sie ihrem ersten Plan getreu, schreckt zwar niemand ab, muntert aber auch niemand auf, nimmt nur kleine unbedeutende Geschenke an, und macht einen Aufwand, als ob die Quelle, woraus sie schöpft, nie versiegen könne. Dieß alles erhöht die Achtung nicht wenig, die man schon der bloßen Schönheit, selbst in einem unscheinbaren Aufzuge, zu erweisen geneigt ist; sogar die Hetären betrachten sie mit einer Art von Ehrfurcht, und würden sich geschmeichelt finden, wenn sie eine so vollkommne Person an der Spitze ihres Ordens erblickten. Man fragt einander, wer sie sey, und es gehen zwanzig verschiedene Mährchen, immer eines wunderbarer als das andere, über ihren wahren Nahmen und Stand, und ihre geheime Geschichte herum. Ich würde, wenn ich ihr Vertrauen auch weniger besäße, leicht errathen, wohin dieß alles zielt; und ich bin gänzlich der Meinung, daß es der einzige Weg ist, ihren Wohlstand auf eine Art, die ihrer nicht ganz unwürdig ist, sicher zu stellen. Das nähere hierüber zu seiner Zeit.

Mein Kleonidas gefällt allgemein, und strahlt von Freude und Wonne, da er hier, mit lauter schönen Gegenständen umgeben, sich in seinem wahren Elemente fühlt, und wie er sagt, erst jetzt recht zu leben anfängt. Er findet in Milet alles beysammen, was den feurigsten Liebhaber der Künste die das Leben verschönern befriedigen kann: die herrlichsten Werke der edeln und zierlichen Ionischen Baukunst, eine zahllose Menge Bildsäulen von den besten Meistern, und reiche Gemähldesammlungen aus allen Schulen, vornehmlich von den berühmtesten Mahlern unserer Zeit, Polygnot, Zeuxis, Parrhasius, Timanthes, Pausias, Euxenidas, Apollodor, und andern. Er bringt einen großen Theil seiner Zeit damit zu, alle diese Kunstwerke zu studieren, und, indem er einem jeden das worin er vorzüglich ist, abzulernen sucht, zu einer eigenthümlichen Manier zu gelangen, die ihn von allen unterscheide, und ihm von niemand so leicht nachgemacht werden könne. Wie es ihm gelingen werde, wird die Zeit lehren. Noch ist er wenig mit sich selbst zufrieden, und schilt uns Idioten, wenn wir etwas schön finden, das er gemacht, oder vielmehr angefangen hat; denn noch kann er nicht von sich erhalten, etwas fertig zu machen. Vornehmlich preiset er sich glücklich, daß er durch die Bekanntschaft mit Lais von seinen vermeinten Idealen, oder Fantasmen (wie er sie nennt) zur Natur selbst zurückgeführt worden sey. Wenn ich, sagt er, es einmahl dahin gebracht haben werde, irgend einen bestimmten Zug ihrer Augenbraunen richtig zu zeichnen, und nur eines ihrer Ohrläppchen so zu mahlen wie ich es sehe, will ich mich für keinen kleinen Künstler halten.

Kleombrot ist in seinem Ambrazien angelangt, und ich gebe die Hoffnung noch nicht auf, daß ihn die vaterländische Luft vielleicht allmählich wieder zurecht bringen könnte. Wenigstens halte ich es für ein gutes Zeichen, daß er die Trennung von der Gesellschaft, die er verlassen hat, zu fühlen, und, ohne es sich selbst zu gestehen, ganz heimlich sich zu uns zurückzuwünschen scheint. Sollte diese Disposizion zunehmen, und bis zur Sehnsucht steigen, so ist beschlossen, ihn zu uns einzuladen; und ich zweifle kaum, daß die zärtliche Musarion sich keine große Gewalt anthun müßte, ihm den ersten Platz in ihrem Herzen wieder einzuräumen, wenn er mit einem aufgeheiterten Gesicht zu ihr zurück kehrte.

Ich bin im Begriff, eine Reise durch alle Städte von Ionien und Karien zu machen, und gedenke mich zu Efesus lange genug zu verweilen, um dich da zu erwarten. Was wolltest du länger in dem unruhigen Syrakus? Wie schön auch Himmel und Erde in Sicilien sind, mit dem warmen Glanze dieses Himmels der mich umfließt, mit der üppigen Pracht dieser Erde, mit der herzerweiternden Milde der wollüstigen Blumenluft, die ich hier athme, kurz mit dem Leben in diesem Götterlande, ist nichts anders zu vergleichen.


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