Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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X.
Kleombrotus an Aristipp.

Laß ab von mir, guter Aristipp! Alle deine Mühe, mir das Bild des gewaltsam sterbenden Sokrates und das Gefühl meiner Undankbarkeit gegen ihn erträglich zu machen, ist vergeblich. Niemahls, niemahls werd' ich mir verzeihen können, daß ich die heiligste der Pflichten einer fantastischen Leidenschaft und selbstsüchtigen Weichlichkeit aufzuopfern fähig war! Und daß ich es nicht könne, – daß die Zeit, die alle andern Seelenschmerzen heilt, nur für die meinigen keinen Balsam habe, dafür hat Plato gesorgt.

Dieser Tage wird mir ein Buch von Athen zugeschickt, Fädon betitelt, worin Plato diesen Eleaten seinem Freunde Echekrates erzählen läßt, wie Sokrates am Tage seines Todes sich noch mit den Seinigen unterhalten und überhaupt bis zum letzten Augenblick sich benommen habe. Dem Buche war ein kleines Stück Papier beygefügt, worauf nichts als das einzige furchtbare Wort Lies! mit großen Buchstaben geschrieben stand. – Unmöglich könnt' ich dir beschreiben, wie mir beym ersten Anblick dieser Rollen zu Muthe war. Es währte eine gute Weile, bis ich nur die Buchstaben zu unterscheiden vermochte; mehr als einmahl ergriff ich das Buch mit zitternder Hand, und mußt' es immer wieder bey Seite legen. Aber, wie ich endlich die Augen wieder gebrauchen konnte, und bis zu der Stelle gekommen war, wo Fädon alle Athener, die sich an diesem traurig feierlichen Tage um ihren dem Tode geweihten Freund und Vater versammelt hatten, aufzählt, und Echekrates fragt: Waren auch Auswärtige dabey? und Fädon den Simmias, Cebes und Fädondes von Theben, und den Euklides und Terpsion von Megara nennt, und dann auf die Frage: Wie? waren denn Aristipp und Kleombrot nicht auch da? die Antwort giebt: nein, es hieß sie wären zu Ägina – fiel mir das Buch aus der Hand, mir ward finster vor den Augen und ich sank zu Boden.

Von diesem Augenblick an sind mir die schrecklichen Worte: »es hieß sie wären in Ägina,« nicht aus den Gedanken gekommen; sie erklingen immer in meinen Ohren, und stehen allenthalben mit kolossischen Buchstaben geschrieben, wo ich hin sehe. Aber von diesem Augenblick an stand es auch fest und unerschütterlich in meiner Seele, was mir noch allein übrig sey. – Beneidenswürdiger Aristipp! Dir that das verläumderische Gerücht Unrecht! Dich hatte die Pflicht nach Cyrene abgerufen! Aber ich Unglückseliger, ich war zu Ägina! – In wenigen Stunden konnt' ich zu Athen seyn – wußte alles was vorgefallen war – hatte vierzig Tage um zur Besinnung zu kommen, und ließ mich, bald durch falsche Scham, bald durch die unmännliche Furcht, ich würde den Anblick des geliebten Sterbenden nicht ertragen können, bald durch die thörichte Hoffnung daß seine Freunde Mittel finden würden ihn zu befreyen, zurück halten, die schönste, dringendste, heiligste der Pflichten zu erfüllen! – Nein, Aristipp! muthe mir nicht zu, daß ich mit dieser Furienschlange im Busen, mit diesem in meinem Innern wühlenden Bewußtseyn, länger leben soll! Daß ich leben soll, um in jedem Auge, das mich anblickt, die Worte zu lesen: Er war in Ägina! – O Sokrates! wenn noch ein Mittel ist deinen zürnenden Schatten zu versöhnen, so ist es dieß allein! Wenn noch ein Mittel ist, meine Seele von diesem schwarzen Flecken zu reinigen, so ist es dieß allein! Und wär' es (wie du sagtest) allen andern Menschen unrecht, eigenmächtig aus dem Leben zu gehen, ich bin ausgenommen! Mir ist es Pflicht, dich im Hades, im Elysium, im unsichtbaren Reiche der Geister, überall wo du auch seyn magst, aufzusuchen, und so lange zu deinen Füßen zu liegen bis du mir vergeben hast! – Wähne nicht ich schwärme, Aristipp! Meine Sinne sind in diesem Augenblick reiner, meine Seele freyer als jemahls – die Stunde ist da – Ich höre den dumpfen Ruf der Unterirdischen – Was säum' ich länger? Lebe wohl, Aristipp! – Lais! – Musarion! – Lebet wohl! Vergeßt mich! ich bin nicht würdig in euern Herzen fort zu leben.Daß Kleombrot durch Lesung des Platonischen Dialogs Fädon veranlaßt worden sey, seinem Leben freiwillig ein Ende zu machen, war aus einem Epigramm des Kallimachus bekannt, welches die einzige Quelle dieser Anekdote zu seyn scheint. Denn Cicero, welcher derselben im 34. Kapitel des ersten Buchs seiner Tuskulanischen Gespräche Erwähnung thut, beruft sich auf dieses Epigramm; und alle andern, die dieser Begebenheit erwähnen, oder über sie räsonnieren, sind um mehrere Jahrhunderte später, und scheinen das, was sie davon wissen, entweder aus dem Griechischen Dichter selbst, oder aus dem Römer geschöpft zu haben. Das Epigramm des Kallimachus lautet:

Ειπας Ηλιε χαιρε Κλεομβροτος Αμβρακιωτης
ηλατ' αφ' υψηλου τειχεος εις αὶδην
Αξιον ουτι παθων θανατου κακον, αλλα Πλατωνος
εν το περι ψυχησ γραμμ' αναλεξαμενος.
 
Rufend Sonne fahr wohl! sprang von Ambraziens hohen
Mauern Kleombrotus einst rasch in den Hades hinab;
Nicht als hätt' er etwas des Todes werthes erlitten,
Bloß weil er Platons Schrift über die Seele durchlas.

Der Fädon (welcher vermuthlich gemeint ist) hätte also bey diesem Jünger des Sokrates völlig das Gegentheil von dem gewirkt, was er auf den Filosofen Olympiodorus wirkte, der in seinem Kommentar über diesen Platonischen Dialog versichert: er würde sich schon lange ums Leben gebracht haben, wenn ihn Plato nicht von der Unsterblichkeit der Seele überzeugt hätte. Es wird wohl immer eine unauflösliche Frage bleiben, ob die Worte des Epigramms, »αξιον ουτι παθων« u.s.f. nur eine Vermuthung des Dichters sind, oder sich auf irgend ein besonderes historisches Zeugniß gründen. Daß Kleombrot sich zu Ambrazien (gleichviel ob von der Stadtmauer oder von einer Felsenspitze) ins Meer gestürzt habe, weil er Platons Fädon gelesen, scheint Thatsache zu seyn: daß er es aber aus ungeduldigem Verlangen, sich von der Wahrheit der im Fädon vorgetragenen Lehre zu überzeugen, gethan habe, ist wenigstens ungewiß, und bey weitem nicht so wahrscheinlich als die Ursache und Veranlassung, die in dem vorliegenden Briefe angegeben wird. So dünkt es wenigstens mir, jedem sein Recht, die Sache anders zu sehen, vorbehalten.


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