Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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Eine der wichtigsten Folgen des Verhältnisses, worin er mit Anaxagoras und Kriton stand, war (meines Erachtens) der freye Zutritt in das Haus des Perikles, und die Gelegenheit, die er dadurch erhielt, diesen großen Mann und seine Staatsverwaltung näher kennen zu lernen, und in dieser Absicht auch den Umgang mit der berühmten Aspasia, der Juno dieses Attischen Jupiters, (wie sie der alte Kratinus in einer seiner Komödien nennt) sich zu Nutze zu machen. Aus dieser Zeit schreibt sich auch seine Bekanntschaft mit dem berüchtigten Neffen des Perikles, Alcibiades, her, von welchem er schon damahls sehr richtig urtheilte, daß er entweder zum Heil oder zum Verderben Griechenlands geboren sey, je nachdem sein guter oder böser Dämon die Oberhand über ihn gewinnen würde; und diese Überzeugung allein war es, was ihn bewog, sich unter die erklärten Liebhaber, von welchen dieser so viel Gutes und Böses versprechende Jüngling beständig umgeben war, zu mischen, und alles mögliche anzuwenden, um das Vertrauen desselben zu gewinnen, die Liebe des Schönen und Guten in ihm zu entzünden, und ihm für seine Schmeichler und Verführer Gleichgültigkeit und Verachtung einzuflößen.

Ohne Zweifel trugen alle diese Verhältnisse vieles dazu bey, ihn auf den wahren Standpunkt in seinem künftigen Wirkungskreise zu stellen, und über den Plan seines Lebens in sich selbst gewiß zu machen. Vermuthlich faßte er schon damahls den festen Entschluß, dem er bisher immer treu geblieben ist, der strengsten Erfüllung aller seiner Bürgerpflichten unbeschadet, sich jeder Einmischung in die Staatsverwaltung zu enthalten, so selten als möglich in den Volksversammlungen zu erscheinen, und nie als öffentlicher Redner aufzutreten. Weder seine Familie, noch seine Glücksumstände, noch seine Neigung bestimmten ihn eine politische Rolle in Athen zu spielen; so viele andere hatten dazu einen nähern Beruf, und waren, wofern sie nur wollten, weit besser im Stande, sich auf diesem Wege um den Staat verdient zu machen. Ihm hingegen zeigte sich ein neuer, von keinem andern noch betretener Weg, wie er seinen Mitbürgern und Zeitgenossen auf eine ihm eigene Weise ungleich nützlicher als auf jede andere werden konnte. Die Republik hatte ein sehr dringendes Bedürfniß, an welches keiner von ihren Vorstehern und Rathgebern dachte, und diesem nach Vermögen zu Hülfe zu kommen, fühlte er sich von seinem Genius berufen. In einer Zeit, wo niemand zu bemerken schien, daß die täglich zunehmende Ausartung der alten Sitten den Staat eben so unvermerkt dem Verderben immer näher bringe; in einer Zeit, wo der allzu rasche Übergang von der ehmahligen goldnen Mittelmäßigkeit zu der hohen Stufe von Macht und Reichthum, worauf Perikles die Republik erhoben hatte, den eiteln Athenern so glänzende Aussichten eröffnete, daß sie, aller Mäßigung vergessend, nichts als Alleinherrschaft und unbegrenzte Vermehrung ihrer Besitzthümer und Einkünfte träumten; zu einer Zeit, wo ein Mann von so ruhigem Blick und gesundem Urtheil, wie er, leicht voraussehen konnte, daß sich ein furchtbares Ungewitter gegen Athen zusammen ziehe, und daß bald genug Umstände eintreten würden, in welchen der allgemeine Mangel an sittlicher und politischer Tugend durch die unseligsten Folgen tief gefühlt werden müßte: in einer solchen Zeit, sich selbst in Gesinnungen und Grundsätzen, Worten und Werken zum Vorbilde aller häuslichen und bürgerlichen Tugenden darzustellen, und Jünglinge von edler Art durch den Reitz seines Umgangs an sich zu ziehen, um sie zu gleichen Grundsätzen und Gesinnungen zu bilden; dieß war unleugbar der größte Dienst, den ein Mann dem Vaterlande leisten konnte; und der einzige Mann, der es wollte und konnte – war Sokrates.

Du siehest nun, lieber Kleonidas, in welchem Sinne Sokrates ein öffentlicher Lehrer genennt werden kann, wiewohl er nie eine Schule gehalten noch gestiftet, nichts geschrieben, und mit allen seinen Bemühungen, die Leute, die mit ihm umgehen, weiser und besser zu machen, keinen Obolus gewonnen hat. Auch ist zwischen ihm und den Sofisten, die den Unterricht in den Wissenschaften, besonders in der Moral, Politik und Demagogik als eine Profession treiben, nicht die geringste Ähnlichkeit. Er giebt sich so wenig für einen Gelehrten aus, daß er sich vielmehr im Scherz, zuweilen auch wohl in vollem Ernst, auf seine Unwissenheit viel zu Gute thut. Der ganze Unterschied, hörte ich ihn einmahl sagen, zwischen mir, der nichts weiß, und diesen bewunderten Herren, die Alles wissen und sich dafür bezahlen lassen, besteht darin, daß sie zu wissen glauben, was sie nicht wissen, ich hingegen weiß, daß ich nichts weiß. Offenherzig zu reden, scheint er sich in diesem Punkte zuweilen ein wenig zu täuschen, und die Geringschätzung gewisser spekulativer Wissenschaften, deren Nutzen nicht sogleich in die Augen fällt, oder vielleicht erst künftig noch entdeckt werden mag, weiter zu treiben, als er thun würde, wenn er sich seiner Unwissenheit immer bewußt wäre. Übrigens, und wenn er auch mit einigen Fächern des menschlichen Wissens zu wenig bekannt ist, um ein vollgültiges Urtheil über ihren Werth fällen zu können, so ist er hingegen desto gelehrter in den Künsten und Handwerken, die im gemeinen und bürgerlichen Leben von anerkanntem Nutzen sind. Er spricht mit einem jeden sehr verständig von seiner Profession und giebt ihnen nicht selten Anleitung oder Winke, wie sie dieß oder jenes besser einrichten oder ihre Fabrikate und Kunstwerke zu einer größern Vollkommenheit bringen könnten; benimmt sich aber so geschickt dabey, daß er, indem er sich mit ihnen über ihre Kunst bespricht, vielmehr das Ansehen eines Unwissenden hat, der durch bescheidene Fragen von ihnen belehrt zu werden sucht, als eines Klüglings, der sich anmaßt den Meistern Lehren zu geben. Er hat sich in verschiedenen Feldzügen als einen guten Soldaten bewiesen, versteht sich auf alles was zum Kriegsdienst zu Wasser und zu Lande gehört, und weiß im Nothfall das Steuerruder so geschickt zu führen als der erfahrenste Schiffer. Schwerlich giebt es irgend ein Geschäft, das durch ruhige Besonnenheit, unerschütterliche Festigkeit, ausharrende Geduld, Nüchternheit, Wachsamkeit, Gleichgültigkeit gegen Vergnügen und Schmerz, gegen Hunger und Durst, Frost und Hitze, mit Einem Worte, durch alle Eigenschaften und Tugenden, die einen echten Mann von Marathon ausmachen, und nur durch diese wohl gelingen kann, schwerlich giebt es ein solches Geschäft im Frieden oder im Krieg, womit er nicht zu seiner Ehre zu Stande kommen würde; und ich bin gewiß, wenn die Götter den armen Kechenäern zu einem so klugen Einfall verhelfen wollten, wie der wäre, wenn sie, anstatt ihre Kriegsobersten zu Dutzenden aus dem Glückstopf zu ziehen, ihn zu ihrem Oberfeldherrn machten, ihre Angelegenheiten sollten gar bald eine bessere Gestalt gewinnen. Mit Einem Wort, Freund Kleonidas, Sokrates ist ein – tugendhafter Mann im höchsten und vollständigsten Sinne des Wortes, und darin besteht sein eigenthümlicher Karakter, Werth und Vorzug vor allen seinen Zeitgenossen. Er taugt zu allem, wozu ein Mann taugen soll, kann alles was jedermann können sollte, weiß gerade so viel als niemand ohne seinen Schaden nicht wissen kann, und ist, in jedem Verhältniß des Lebens, was man seyn muß, um ein Vorbild für alle zu seyn.


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