Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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Beide Grundgesetze scheinen auf den ersten Anblick ihre Richtigkeit zu haben: allein so scharf und ohne alle Einschränkung, wie Plato sie annimmt, sind sie nicht was sie scheinen, und könnten auf keinen wirklichen Staat ohne die nachtheiligsten Folgen angewendet werden. Der Irrthum liegt darin, daß er die Bürger als organische Theile eines politischen Ganzen, d. i. als eben so viele Gliedmaßen Eines Leibes betrachtet, welche nur durch ihre Einfügung in denselben leben und bestehen, keinen Zweck für sich selbst haben, sondern bloß zu einem gewissen besondern Dienst, den sie dem Ganzen leisten, da sind. Da dieß bey den Gliedmaßen eines jeden organischen Körpers wirklich der Fall ist, so kann man freylich mit Grund behaupten: daß die Glieder um des Leibes willen da sind, nicht der Leib um der Glieder willen. Allein mit einer bürgerlichen Gesellschaft, die aus lauter für sich bestehenden Gliedern zusammen gesetzt ist, hat es eben deswegen eine ganz andere Bewandtniß. Die Menschen, woraus sie besteht, haben sich (wie Plato selbst Anfangs voraussetzt,) bloß in der Absicht vereinigt, ihre natürlichen, d. i. ihre weltbürgerlichen Rechte, in die möglichste Sicherheit zu bringen, und sich durch diesen Verein desto besser zu befinden. Hier ist es also gerade umgekehrt: der Staat ist um des Bürgers willen da, nicht der Bürger um des Staats willen. Die Erhaltung des Staats ist nur in so fern das höchste Gesetz, als sie eine nothwendige Bedingung der Erhaltung und der Wohlfahrt seiner sämmtlichen Glieder ist; nur, wenn es allen Bürgern, in so fern Jeder nach Verhältniß und Vermögen zum allgemeinen Wohlstand mitwirkt, verhältnismäßig auch wohl ergeht, kann man sagen, daß der Staat sich wohl befinde; und damit dieß möglich werde, darf der Einzelne in freyer Anwendung und Ausbildung seiner Anlagen und Kräfte nur so wenig als möglich, d. i. nicht mehr eingeschränkt werden, als es der letzte Zweck des Staats, mit Rücksicht auf die äußern von unsrer Willkühr unabhängigen Umstände, unumgänglich nöthig macht. Daher ist denn auch das zweyte Grundgesetz der Platonischen Republik so vielen genauern Bestimmungen, Einschränkungen und Ausnahmen unterworfen, daß, wofern es so scharf und streng, wie Plato will, in Ausübung gebracht würde, eben dadurch, daß es den einzelnen Bürgern ungebührliche und unnöthige Gewalt anthut, dem Ganzen selbst weit mehr Schaden als Vortheil daraus erwachsen müßte. Doch dieß nur im Vorbeygehen; denn es gehörig auszuführen und anschaulich zu machen, würde ein größeres Buch erfordert, als ich, so lange noch etwas besseres zu thun ist, zu schreiben gesonnen bin.

So bald man unserm Filosofen seine beiden Grundgesetze zugegeben hat, so ist alles übrige in seiner Gesetzgebung so folgerichtig und zweckmäßig als man nur verlangen kann. Vor allen Dingen ist nicht außer Acht zu lassen, daß die gänzliche Ausschließung von allem Eigenthum, die Gemeinschaft der Weiber und Kinder, und die männliche Erziehung, Lebensweise und Bestimmung der erstern, nur in der mittelsten der drey Bürgerklassen, in welche seine Republik zerfällt, nehmlich nur unter den bewaffneten Beschützern oder, wie man sie auch mit gutem Fug nennen könnte, den menschlichen Jagd- und Hofhunden seines Staats, Platz findet. Denn die Archonten und Räthe, welche die erste Klasse ausmachen, sind zu alt und zu sehr im Anschauen der Ideen der Dinge und der Uridee der Ideen vertieft, um der Weiber noch zu bedürfen; und wiewohl Plato über das häusliche und eheliche Leben der dritten Klasse (die er überhaupt sehr kurz und mit einer ziemlich sichtbaren Geringschätzung abfertigt) sich nicht besonders erklärt, so läßt sich doch aus verschiedenen Äußerungen nichts anders vermuthen, als daß er die Gemeinschaft der Weiber für ein viel zu erhabenes und heiliges Institut ansieht, als daß der Pöbel der Handwerker, Künstler, Krämer, Kaufleute und aller andern die sich mit Erwerb beschäftigen oder um Lohn arbeiten, daran Theil haben dürfte. In der That bringt dieß auch die Natur der Sache mit sich; denn die Weiber und Töchter dieser Leute haben nöthigere Dinge zu thun, als den Wissenschaften und Musenkünsten obzuliegen, sich in den Palästren nackend mit den Jünglingen herum zu balgen, mit ihnen auf die Wache und in den Krieg zu ziehen u.s.f. Sie sind natürlicher Weise mit Haushaltungsgeschäften, mit Spinnen, Wirken, Kleidermachen, Kochen, Brotbacken und tausend andern Arbeiten dieser Art beladen; müssen auch – außer der Wartung und Pflege ihrer eigenen Kinder – bey den Kindern der zweyten Klasse (wie sich aus verschiedenen Umständen schließen läßt) gelegenheitlich Ammendienste thun, und was dergleichen mehr ist; kurz sie stehen in den Augen unsers Filosofen zu tief unter den edeln Heroinen, die er zu Müttern seiner Staatsbeschützer bestimmt, als daß man glauben könnte, er wolle das hohe Vorrecht der Vielmännerey bis auf sie ausgedehnt wissen; zumahl da bey der dritten Klasse die Beweggründe gänzlich wegfallen, aus welchen er die Gemeinschaft der Weiber und Kinder in der zweyten für nothwendig hält. Bey dieser also allein findet in Platons Republik diese aller Welt so anstößige Einrichtung Statt; und dazu hat er theils fysische theils sittliche Bewegursachen von so großem Gewicht, daß alle entgegen stehenden in keine Betrachtung bey ihm kommen können. Seine Republik soll weder zu groß noch zu klein, sondern gerade so seyn, daß sie weder Verderbniß von innen, noch Anfechtung von mißgünstigen und streitsüchtigen Nachbarn zu befürchten habe. Die Anzahl der Bürger darf also nicht viel über eine bestimmte Zahl zunehmen; aber desto mehr ist daran gelegen, daß sie muth- und kraftvolle, von der edelsten Ruhmbegierde und reinsten Vaterlandsliebe glühende, und mit allen zu ihrer Bestimmung erforderlichen Tugenden in vollestem Maße begabte Jünglinge und Männer zu Beschützern habe. Der Stifter der Republik hat also diese Klasse, auf welcher die Erhaltung derselben in jeder Rücksicht beruht, mit ganz besonderer Sorgfalt ausgewählt, und zu ihrer erhabenen Bestimmung erzogen und ausgebildet. Er mußte aber auch die dienlichsten Maßregeln nehmen, daß eine so wichtige Körperschaft immer wieder durch gleichartige Elemente ersetzt werde, immer von eben demselben Geist beseelt bleibe, und sich dadurch in einer Art von ewiger Jugend und Unsterblichkeit erhalte. Um zwey Hauptquellen einer möglichen Ausartung auf immer zu verstopfen, mußten diejenigen, welche bloß für den Staat leben sollten, weder Eigenthum noch Familie haben. Die möglichste Gleichheit sollte unter ihnen herrschen; alles Gute und Böse, Arbeit und Vergnügen, Gefahr und Ruhm, Leben und Sterben immer gemeinschaftlich seyn. Solche Menschen können von allem, was mein und dein heißt, nie weit genug entfernt, und unter einander niemahls eng genug verbunden werden. Wie gut er aber auch für dieß alles gesorgt hätte, immer würden die Weiber alle seine Mühe zu Schanden gemacht haben, wofern ihm sein Genius nicht ein Mittel zugeflüstert hätte, diesen reitzenden Schlangen ihren Gift zu benehmen. Lieber wär' es ihm ohne Zweifel gewesen, wenn die Mutter Erde, als sie seine Krieger in voller Waffenrüstung aus ihrem Schooß hervor springen ließ, sie auch mit dem Vermögen begabt hätte, ihres gleichen entweder aus sich selbst, oder mit ihres gleichen hervor zu bringen. Da die Weiber nun aber Einmahl zu diesem wichtigen Geschäft leider! unentbehrlich sind, und überdieß nicht wohl geleugnet werden kann, daß die Neigung zum weiblichen Geschlecht gerade die Seite ist, wo die Natur den Mann am wenigsten befestigt hat: was blieb dem guten Plato übrig, um zu verhindern, daß seine braven Krieger durch den Umgang mit diesen Zauberinnen nicht geschwächt, weichlich gemacht und durchaus verdorben werden könnten, als den künftigen Müttern der Kriegs- und Staatsmänner durch eine rauhe männliche und kriegerische Erziehung so viel nur immer möglich von ihren gefährlichen Reitzungen abzustreifen, sie, so weit es die Zärte und Schlaffheit ihrer Natur gestatten möchte, zu einer Art von Androgynen zu erheben, oder wenigstens mit den Atalanten, Deianiren und Penthesileen der heroischen Zeit auf gleichen Fuß zu setzen? Durch dieses Mittel war nun zwar für eine derbe und kräftige Nachkommenschaft gesorgt: aber wenn er den Vätern erlaubt hätte, in eine monogamische Verbindung mit den Müttern zu treten, würden zwey mächtige Naturtriebe, die Liebe zu den eignen Kindern und die wechselseitige Zuneigung des Mannes zu der Mutter, des Weibes zu dem Vater ihrer gemeinschaftlich Erzeugten, zum Nachtheil der Vaterlandsliebe ins Spiel gesetzt worden seyn, und die unvermeidlich aus dem Stande der Ehe hervor gehenden besondern Familien-Verhältnisse würden, so zu sagen, eine Menge kleiner Staaten im Staat erzeugt haben, wobey sich die Grundsätze, der Geist und die Tugend des letztern unmöglich lange in ihrer ersten Reinheit hätten erhalten können. Mit Einem Wort, es bedurfte nichts als die bloße Beybehaltung der gewöhnlichen Ehe, um aus unsrer Platonischen Republik an Sich (dieser vollkommensten oder vielmehr einzigen, in welcher, nach Plato, die reine Idee der Republik sichtbar dargestellt ist) ein so armseliges Ding von einer gemeinen heillosen Alltagsrepublik zu machen, wie man ihrer in Griechenland, klein und groß, zu Hunderten zählt. Es blieb ihm also, um der Verderbniß des Staats von dieser Seite den Zugang auf ewig zu versperren, kein anderes Mittel, als die Gemeinschaft der Weiber und Kinder zu einem Grundgesetz zu machen. Jeder Soldat der Republik erhielt dadurch ein unbestimmtes Recht an alle Frauen und Jungfrauen seiner Klasse, keiner ein ausschließliches an Eine. Die Liebe in der eigentlichen Bedeutung des Worts fand hier keine Statt; das Zeugungsgeschäft sollte als eine rein fysische oder thierische Sache behandelt werden, wobey es bloß darum zu thun wäre, sich einer Pflicht gegen den Staat zu entledigen, und also auf selbstsüchtige Befriedigungen keine Rücksicht genommen würde. Man muß gestehen, unser Filosof thut sein Bestes, um einer sich aufdrängenden Vergleichung seiner so genannten Ehen mit dem ungefähren momentanen Zusammenlaufen jener kaum durch die Gestalt vom Vieh unterschiede nen Waldmenschen, welche man sich gewöhnlich als die Stammältern des menschlichen Geschlechts vorstellt, zuvor zu kommen. Vor dem zwanzigsten Jahre der Weiber und dem dreyßigsten der Männer erklärt das Gesetz alle Befriedigungen des Triebes, von welchem hier die Rede ist, für unrechtmäßig, unheilig und sakrilegisch. Der Tag, an welchem eine Anzahl von Jünglingen und Mädchen das gesetzmäßige Alter zur Platonischen Ehe erreicht haben, ist ein republikanisches Fest, das mit Opfern, Gebeten, und von den Dichtern der Republik besonders dazu verfertigten Epithalamien aufs feierlichste begangen wird. Jede Verbindung zwischen einem Jüngling und einem Mädchen (wiewohl sie nur für den Augenblick gilt) wird von den Archonten, vermittelst eines künstlichen Looses angeordnet, wodurch immer die schönsten, stärksten und muthigsten zusammen kommen, die schlechtern hingegen lauter Nieten ziehen; eine Veranstaltung, welche zu Verhütung aller schlimmen Folgen, die aus dieser durch das gemeine Beste nothwendig gemachten Übervortheilung der armen Schlechtern, wenn sie bekannt würde, zu befürchten wären, ein Staatsgeheimniß bleiben muß. Von diesem ersten großen Kopulazionstage an, zählen die Glücklichen, welche von den Archonten mittelst dieses heiligen patriotischen Betrugs würdig und tauglich erfunden wurden, der Republik Kinder zu geben, die Weiber zwanzig, die Männer sechs und zwanzig Jahre, während deren ihnen die Pflicht obliegt, sich von dieser Seite, um den Staat so verdient zu machen, als ihnen nur immer möglich ist. Alle Kinder, welche binnen dieser Zeit geboren werden, nennen jeden dieser in Diensten der Republik stehenden Zeuger, Vater, jede dieser Gebärerinnen, Mutter, und werden hinwieder von ihnen Söhne und Töchter genannt; aber dafür ist gesorgt, daß kein Vater und keine Mutter ihre leiblichen Kinder unterscheiden, noch von diesen unterschieden werden könne. Denn in dieser Klasse, wo niemand etwas eigenes haben darf, ist es auch nicht erlaubt ein eigenes Kind und einen eigenen Vater zu haben. Alle, die in dem Lauf einer Generazion von fünf und zwanzig Jahren geboren werden, nennen sich Brüder und Schwestern, und erhalten, nachdem sie das gesetzmäßige Alter erreicht haben, auf obige Weise von den Archonten die Erlaubniß, für die Fortdauer der Republik zu arbeiten. Vor dieser Zeit aber ist z. B. einem Jüngling von sechs oder acht und zwanzig Jahren nicht erlaubt, ein Mädchen von siebzehn oder achtzehn zur Mutter zu machen, wie entschieden auch immer ihre beiderseitige Tüchtigkeit, und wie dringend ihr innerer Beruf dazu seyn möchte, da sie täglich auf der Palästra handgemein mit einander zu werden Gelegenheit haben; und sollte gleichwohl ein solcher unglücklicher Fall sich ereignen, so muß die Frucht der gesetzwidrigen Verbindung abgetrieben, oder, wenn sie dennoch Mittel findet lebendig ans Tageslicht zu kommen, sogleich als der Ernährung unwürdig auf die Seite geschafft werden. Zwischen Ältern und Kindern, d. i. zwischen Männern und Frauen von der ersten Generazion mit Frauen und Männern von der zweyten und dritten findet (da jene zu diesen Kraft des Gesetzes sich als Ältern und Großältern verhalten) keine gesetzmäßige Begattung Statt; und überhaupt ist es eine der heiligsten Pflichten der Regierer des Staats, den Zeugungstrieb bey ihren Bürgern so viel als möglich einzuschränken, und ja nicht mehr Kinder aufkommen zu lassen, als nach Beschaffenheit der Umstände nöthig sind, damit der Staat sich immer bey gleicher Stärke erhalte; woraus klar ist, daß sie auch von Zeit zu Zeit für einen tüchtigen Krieg zu sorgen haben. Denn es brauchte nur einen hundertjährigen Frieden, um die Regierung in die gefährliche Nothwendigkeit zu setzen, das vorbesagte Loos so einzurichten, daß von hundert Paar Jünglingen und Mädchen wenigstens drey Viertel zu einer unfreywilligen Unfruchtbarkeit verdammt werden müßten, wofern die Menge der Kinder, denen der Eintritt ins Leben an der Pforte versagt wird, nicht auf eine so ungeheure Zahl steigen sollte, daß dem Platonischen Sokrates selbst, wie kaltblütig er auch diese Dinge ansieht, bey ihrer Überrechnung die Haare um seinen Glatzkopf zu Berge stehen müßten.

Alle diese und eine Menge anderer Ungereimtheiten und Abscheulichkeiten, die sich jedem Unbefangenen bey diesem Theil seiner Gesetzgebung aufdringen, verschwinden in Platons Augen vor dem großen Grundsatz: daß die höchste denkbare Vollkommenheit des Staats der einzige Zweck desselben, und der einzelne Bürger nur in so fern für Etwas zu rechnen sey, als er bloß für das Ganze lebt, und immer bereit ist, diesem seine natürlichsten Triebe und gerechtesten Ansprüche aufzuopfern. Ob der Staat solche Opfer zu fordern berechtigt sey, ist bey ihm keine Frage; auch lehrte ihn die in Sparta so lange Zeit befolgte Gesetzgebung Lykurgs, daß es möglich sey, Menschen so zu erziehen und zu bilden, daß man ihnen alles, selbst das Unnatürlichste, zumuthen kann. Er trug also um so weniger Bedenken, die Hauptzüge des Spartanischen Instituts in seiner Republik noch weiter und bis zu einer Konsequenz zu treiben, die, wie ein eiserner Streitwagen, alles was ihr entgegen steht zu Boden tritt, und über alle Bedenklichkeiten und Rücksichten, d. i. über die Köpfe und Eingeweide der Menschen weg, in gerader Linie auf das Ziel losrennt, das sie sich vorgesteckt hat.


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