Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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XLIII.
Lais an Aristipp.

Verzeihe, mein Lieber, wenn ich dich länger als recht ist auf Nachricht warten ließ, wie deiner Freundin die Luft des Isthmus wieder bekommt, und wie sie nach einer so langen Abwesenheit von den Korinthiern aufgenommen worden. Jene hat mir mit dem ersten Athemzug alle meine vorige Leichtigkeit und Unbefangenheit wiedergegeben; diese benehmen sich so artig und anständig, als es die etwas zweydeutige Wittwe eines noch vollauf lebenden Persischen Fürstensohns nur immer verlangen kann. Ich mache ein ziemlich großes Haus, lebe wieder so frey wie die Vögel des Himmels nach meiner eigenen gewohnten Weise, und erinnere mich zuweilen des Aufenthalts zu Sardes, und aller seiner Herrlichkeiten, als eines seltsamen Morgentraums, der im Erwachen unvermerkt an der aufgehenden Sonne zerrinnt, und, wie angenehm er auch war, kein Bedauern daß er ausgeträumt ist in der Seele zurückläßt. Freylich befinde ich mich in dem ungewöhnlichen Fall einer Person, die im Traum einen großen Schatz erhoben hätte, und beym Erwachen wirklich einen kleinen Berg von Goldstücken vor ihrem Bette aufgeschüttet fände; und wenn du glaubst, daß dieser Umstand nicht wenig zu der Ruhe, deren ich mich rühme, beytragen könnte, so will ich so ehrlich seyn, und gestehen, daß du es nahezu errathen hast.

Ich lebe hier ungefähr auf eben demselben Fuß wie zu Milet. Mein Haus ist, zwar nicht zu allen Stunden, aber doch in den gewöhnlichen, wo man Gesellschaft sieht, allen offen, die man zu Athen Kalokagathen nennt. Eupatriden, Staats- und Kriegsmänner, Dichter, Sofisten und Künstler, alte und junge, reiche und arme, fremde und einheimische, jedermann, der sich in guter Gesellschaft mit Anstand zeigen kann, ist gern gesehen; nur daß immer zwey oder drey mit einander kommen müssen: denn die Unterhaltungen unter vier Augen sind nur den vertrautern Freunden, lauter Männern, die meine Väter seyn könnten, vorbehalten, und unter den jüngern, höchstens Einem, den die Götter etwa in besondere Gunst genommen haben; dir, zum Beyspiel, wenn du hier wärest; zumahl da sich bisher noch keiner gefunden hat, der mich vergessen machen könnte, daß du es nicht bist.

Es ist wohl kein Zweifel, daß ich mich durch diese Lebensordnung weder den Matronen noch den Hetären (deren Orden hier sehr zahlreich und begünstigt ist) sonderlich empfehle; wiewohl die letztern mehr Ursache hätten, mich für eine Wohlthäterin als für eine Konkurrentin anzusehen. Denn bey weitem die meisten meiner Anbeter unterliegen am Ende doch der Versuchung, sich bey ihnen, wie die Freyer der Penelope bey – den gefälligen Hofmägden des Ulyssischen Hauses, für ihre bey mir verlorne Zeit und Mühe zu entschädigen. Indessen muß ich gestehen, daß die Verbindlichkeit, die sie mir von dieser Seite schuldig sind, vielleicht doch einige Einschränkung leiden mag. Die Sache ist, daß ich, theils um mir selbst die Pflichten der Frau des Hauses zu erleichtern, theils (wenn du willst) aus Gutherzigkeit, einige schöne junge Mädchen zu mir genommen habe, die zwar Korinthische Bürgerinnen sind, aber aus Mangel an Vermögen und Unterstützung wahrscheinlich sich genöthigt gesehen hätten, ihren Unterhalt der Afrodite Pandemos abzuverdienen. Diese lasse ich von den geschicktesten Lehrmeistern im Lesen der Dichter, in der Musik und in der Tanzkunst unterrichten, und mache mir, nach dem Beyspiele der schönen Aspasia, selbst ein Geschäft daraus, sie zu angenehmen Gesellschafterinnen für mich und andere zu bilden. Könnte ich ihnen mit meinen Grundsätzen auch zugleich meine Sinnesart einflößen, so würde meine Absicht vollkommen erreicht. Da sich aber darauf nicht rechnen läßt, so bin ich zufrieden, ihnen so viel Achtung gegen sich selbst und so viel Mißtrauen gegen euer übermüthiges Geschlecht beyzubringen, als einem Mädchen nöthig ist, das sich in den gehörigen Respeckt bey euch setzen, und wenn sie, unglücklicher Weise, der Liebe sich nicht gänzlich erwehren kann, wenigstens keinem andern Amor unterliegen will, als jenem Anakreontischen, den die Musen

Mit Blumenkränzen gebunden
Der Schönheit zum Sklaven gegeben.

Du kannst dir leicht vorstellen, lieber Aristipp, was für eine alberne Celebrität ich mir durch diese, den Söhnen und Töchtern der Achäer so ungewohnte und so vielerley Vorurtheile vor die Stirne stoßende, Lebensart zuziehen werde. Dieß ist eben nicht was ich wünsche; aber ich sehe nicht wie ich es vermeiden könnte: wer schwimmen will, muß sich gefallen lassen naß zu werden.

Ich habe die traulichen kleinen Symposien, die ich zu Milet bey mir eingeführt hatte, wobey eine freye muntre Unterhaltung über interessante Gegenstände die bessere Hälfte der Bewirthung ausmachte, auch hier wieder in den Gang gebracht; wiewohl die Korinthier überhaupt genommen keine Liebhaber von so nüchternen Gastmählern sind. Bilde dir darum nicht ein, daß mein Koch sich dabey vernachlässigen dürfe. Wenige Schüsseln, aber das Beste der Jahreszeit aufs feinste zubereitet; kleine Becher, aber die edelsten Weine Cyperns und Siciliens, – darin besteht meine ganze Frugalität, und ich gestehe gern, daß ich sie – dir selbst abgelernt habe. Zu Athen reicht man damit aus und erhält noch Lob und Dank: aber so genügsam sind unsre Korinthischen Kalokagathen nicht. Außer deinem Freunde Learchus, und einem viel versprechenden jungen Künstler, Nahmens Eufranor (der, im Vorbeygehen gesagt, einer meiner wärmsten und hoffnungsvollsten Anbeter ist,) sind es daher fast lauter Fremde, die sich um den Zutritt zu meinen Aristippischen Orgyen (wie ich sie dir zu Ehren nennen möchte) bewerben, oder von freyen Stücken dazu eingeladen werden. Die Unterhaltung gewinnet nicht wenig dadurch, und ich denke es sollte sich aus unsern Tischreden etwas ganz artiges machen lassen, wenn sie, von einem Geschwindschreiber aufgefaßt, als bloßer Stoff einem Meister wie Xenofon oder Plato in die Hände fielen. Nicht selten wagen wir uns, auf die Leichtigkeit unsrer Hand vertrauend, sogar an die verschlungensten Knoten der Filosofie; und wenn uns die Entwicklung zu langweilig werden will, ziehen wir uns zuweilen auf die kürzeste Art aus der Sache, und kommen der Subtilität unsrer Finger – mit der Schere zu Hülfe. Gestern z. B. erwähnte Einer zufälliger Weise, daß Sokrates das Schöne und Gute für einerley gehalten, und also nichts für schön habe gelten lassen wollen, wenn es nicht zugleich gut, d. i. nützlich, ja sogar nur in so fern es nützlich sey. Dieß veranlaßte einen Dialog, wovon ich dir, weil ich gerade zum Schreiben aufgelegt bin und (die Wahrheit zu gestehen) deine eigene Meinung von der Sache wissen möchte, so viel als mir davon erinnerlich ist, mittheilen will, wenn du anders Lust und Muße hast weiter zu lesen.

Die Hauptpersonen des Gesprächs waren der junge Speusipp, (Platons Neffe von seiner ältern Schwester, einer der liebenswürdigsten Athener die ich noch gesehen habe,) ein gewisser Epigenes von Trözen, der seine Geistesbildung vornehmlich von den Sofisten Prodikus und Protagoras erhalten zu haben vorgiebt, und Eufranor, welchem, da er Mahler und Bildner zugleich ist, ein unstreitiges Recht zukam, mit zur Sache zu sprechen. Daß die Frau des Hauses sich ein paar Mahl in das Gespräch mischte, wirst du einer so erklärten Liebhaberin alles Schönen zu keiner Unbescheidenheit auslegen.

Mich dünkt (sagte Epigenes, der zu dieser Erörterung den Anlaß gegeben hatte) ehe wir uns auf die Frage »was das Schöne sey?« einlassen, wäre wohl gethan, den Sprachgebrauch um die Bedeutung des Wortes zu fragen, da es so vielerley, zum Theil ganz ungleichartigen Dingen beygelegt wird, daß der allgemeine Begriff, der mit diesem Worte verbunden zu werden pflegt, nicht leicht zu finden seyn dürfte. Wir sagen: ein schöner Himmel, eine schöne Gegend, ein schöner Baum, eine schöne Blume, ein schönes Pferd, ein schönes Gebäude, ein schönes Gedicht, eine schöne That. Man sagt: dieser Wein hat eine schöne Farbe, dieser Sänger eine schöne Stimme, diese Tänzerin tanzt schön, dieser Reiter sitzt schön zu Pferde. Ich würde nicht fertig, wenn ich alle die körperlichen, geistigen und sittlichen Gegenstände, Bewegungen und Handlungsweisen herzählen wollte, denen das Prädikat schön beygelegt wird. Was ist nun die ihnen allen zukommende gemeinsame Eigenschaft, um derentwillen sie schön genannt werden? Ich kenne keine allgemeinere als diese, daß sie uns gefallen. Die Menschen nennen alles schön was ihnen gefällt.

SPEUSIPP. Ich gebe gern zu, daß das Schöne allen gefällt, deren äußerer und innerer Sinn gesund und unverdorben ist: aber daß alles, woran ein Mensch Wohlgefallen haben kann, darum auch schön sey, kann schwerlich deine Meinung seyn.

LAIS. Sonst wäre nichts schöneres als ein mit Fässern und Kisten wohl beladenes Lastschiff voll morgenländischer Waaren; wenigstens in den Augen des Korinthischen Kaufmanns, vor dessen Hause sie abgeladen werden, und der in diesem Augenblick gewiß mehr Wohlgefallen an seinen ohne Symmetrie über einander hergewälzten Fässern, Kisten und Säcken hat, als an dem schönsten Gemählde des Parrhasius.

EPIGENES. Also, mich genauer auszudrücken, nenne ich schön, was allen Menschen, ohne Rücksicht auf den Nutzen, der daraus gezogen werden kann, gefällt,

SPEUSIPP. Sollte damit zu Erhaltung des Begriffs vom Schönen etwas gewonnen seyn? Was gefällt, ist (deinem eigenen Geständniß nach) nicht immer schön; aber das Schöne gefällt immer, bloß weil es schön ist. Die Frage was ist schön? bleibt also noch unbeantwortet.

EUFRANOR. Könnte uns nicht irgend ein Werk der Kunst am leichtesten zu der Antwort verhelfen, die wir suchen?

LAIS. Mich dünkt, Eufranor bringt uns auf den rechten Weg.

EUFRANOR. Zum Beyspiel, der junge Bacchus dort, dem der lachende Faun den rosenbekränzten Becher reicht, indem er mit dem linken Zeigefinger schalkhaft auf die neben ihm an einem Weinschlauche eingeschlafene Mänas hinweiset.

LAIS. Es soll eines der besten Werke des berühmten Alexis von Sicyon seyn.

EUFRANOR. Lassen wir diesen Bacchus für schön gelten, oder hat jemand etwas wesentliches an ihm auszusetzen?

SPEUSIPP. Ewige Jugend in ewig fröhlicher Wollusttrunkenheit kann unmöglich schöner dargestellt werden.

EUFRANOR. Das möchte ich nun eben nicht behaupten; genug, wir alle geben zu, daß er nicht häßlich ist.

ALLE. Unstreitig.

EUFRANOR. Was mag wohl die Ursache dieses einstimmigen Urtheils seyn?

LAIS. Unser Gefühl vermuthlich.

EPIGENES. Aber warum wir es alle fühlen, und fühlen müssen, wir mögen wollen oder nicht, das ist es wohl was Eufranor hören möchte?

EUFRANOR. Und worin könnte dieß liegen, als in der Gestalt des jungen Gottes, in der bestimmten Form eines jeden seiner Glieder, in ihren Verhältnissen gegen einander, und in ihrer Verbindung zur harmonischen Einheit des Ganzen?

Ich und Epigenes und die übrigen alle waren sogleich mit unserm Ja bey der Hand. Nur Speusipp lächelte beynahe unmerklich und schwieg.

EUFRANOR. Aber die schlummernde Mänas zu seinen Füßen – kann man läugnen daß sie schön ist?

LEARCHUS. Ich glaube in aller Männer Nahmen kühnlich sagen zu dürfen, sie ist sehr schön.

EUFRANOR. Und der junge Faun?

LAIS. Ich wenigstens habe noch keinen schönern gesehen.

EUFRANOR. Also der Gott ist schön, der Faun ist schön, die Bacchantin ist schön, ungeachtet das, warum wir jedes für schön halten, die Form und Verhältnisse der einzelnen Theile und die Symmetrie des Ganzen, an allen dreyen die augenscheinlichste Verschiedenheit zeigt. Würden wir aber zufrieden seyn, wenn der Faun für den Weingott angesehen werden könnte, oder der Weingott für einen Faun? Mit der Form des schönsten Fauns würden wir den Bacchus nicht schön genug, mit den Formen des letztern hingegen jenen allzuschön finden. Und wenn die Mänas ihren hohen Busen gegen die breite Brust des Bacchus, er seine Schultern und Hüften gegen die ihrigen umtauschte, würden nicht beyde dabey verlieren, wiewohl sie Schönes um Schönes gäben?

EPIGENES. Ganz gewiß. Schön wäre demnach etwas so verhältnismäßiges, daß es unter veränderten Umständen häßlich werden könnte; wie z.B. ein schönes Weib einen mißgestalteten Mann, ein schöner Faun einen häßlichen Bacchus abgäbe?

EUFRANOR. Dieß möchte doch wohl zu viel gesagt seyn. Ein Mann mit weiblichen Gliederformen, wäre doch immer ein schönes Ungeheuer, und ein Bacchus mit den Formen eines schönen Fauns würde nur unedel, nicht häßlich seyn. Indessen könnte auch aus lauter schönen Theilen ein sehr widriges Ganzes zusammengesetzt werden, ohne daß die Theile aufhörten schön zu seyn; es braucht dazu nichts weiter, als jedem eine unrechte Stelle zu geben. Der schönste Mund schief auf die Stirn, das schönste Auge an die Stelle des Mundes, und die zierlichste Nase an den Platz des Auges gesetzt, würde aus dem Gesicht einer Lais eine lächerliche Fratze machen.

LAIS. Führt uns dieß nicht unvermerkt auf den Sokratischen Begriff zurück, daß jedes Ding schön ist, wenn es das ist, was es seiner Natur und seinem Zwecke nach, seyn soll?

EPIGENES. Wenn dieß keine Ausnahmen leidet, so würde der Elefant, der Dachs und die Fledermaus eben so wohl an Schönheit Anspruch zu machen haben, als der Onager, das Reh und der Fasan.

LAIS. Warum nicht, wenn wir dem unerschöpflichen Erfindungsgeist der göttlichen Bildnerin Natur nicht unbefugte Schranken setzen, und durch eigensinnige Vorliebe für gewisse uns vorzüglich gefällige Gestalten uns zu kleinlichen einseitigen Urtheilen verleiten lassen wollen?

EUFRANOR. Mit allem Respekt, den ich dir und der göttlichen Bildnerin schuldig bin, verzweifle ich doch es jemahls so weit zu bringen, daß mir die Fledermaus oder der Krokodil schön vorkomme, und ich glaube hierin die Augen aller Menschen, und die deinigen zuerst, auf meiner Seite zu haben. Auch sehe ich nicht, warum alles, was die Natur hervorbringt, gerade für unsern Schönheitssinn gebildet seyn müßte; und da es uns an Worten nicht mangelt, warum muß denn etwas, das nur dem Verstande schön ist, mit einem Worte bezeichnet werden, welches in seiner eigentlichen Bedeutung vorzüglich solchen Dingen zukommt, die durch Formen und Farben, harmonische Verhältnisse und Symmetrie unsre Augen, oder vielmehr den innern Sinn, dessen Werkzeug sie sind, vergnügen? Die meisten Schöpfungen der Natur haben diese Eigenschaft in höhern und mindern Graden. Ich zweifle sehr, daß ein Mensch in der Welt ist, der nicht auf den ersten Anblick die Gans schöner als die Ente, den Schwan schöner als die Gans, den Pfau schöner als den Schwan finden sollte: aber vor der Fledermaus schaudert jeder, der sie erblickt, zurück.

LAIS. Wiewohl die Unverschämtheit zu Athen eine Göttin ist, so verlasse ich mich doch nicht genug auf ihren Beystand, um dir hierin zu widersprechen; sie könnte mich häßlich im Stiche lassen, wenn einer dieser schönen Nachtvögel unversehens daher geschossen käme, um sich für die unverdiente Ehre zu bedanken, die ich ihm erwiesen habe.


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