Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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XXV.
Lais an Aristipp.

Ich habe, seit einiger Zeit, einen Abend in jeder Dekade dazu bestimmt, eine Tischgesellschaft von Filosofen, Sofisten, oder Frontisten, (wenn du ihnen lieber einen Aristofanischen Nahmen giebst) bey mir zu sehen. Doch muß ich dir sagen, daß diese Benennungen in meinem Wörterbuche nicht für gleichbedeutend gelten. Jede bezeichnet mir eine besondere Klasse der Hauptgattung, die man im gemeinen Leben mit dem allgemeinen Nahmen der Sofisten zu belegen gewohnt ist. Es giebt eine Art heller Köpfe, welche die Ausbildung einer glücklichen Anlage hauptsächlich dem Leben in der wirklichen Welt und den mannigfaltigen Gelegenheiten und Aufforderungen zum Nachdenken, die ihnen darin aufgestoßen sind, zu danken haben. Sie zeichnen sich durch einen schärfern Blick in die menschlichen Angelegenheiten von den beiden andern Klassen aus, welche gemeiniglich in der Welt um sie her so fremd und neu sind, als ob sie eben erst aus der berühmten Platonischen Höhle hervorgekrochen wären. Jene sind meistens eben so vielseitig und geschmeidig als fein und an sich haltend; sie entscheiden selten, kleben nicht hartnäckig an ihren Meinungen, widersprechen mit Bescheidenheit, glauben wenig zu wissen, und unterrichten oft mit ihrer Unwissenheit besser, als die positiven Herren mit ihrer Allwisserey. Ich gestehe meine Vorliebe zu den Mitgliedern dieser Klasse, die eben nicht sehr zahlreich ist, und die ich, wiewohl sie die Filosofie nicht als ein Geschäft treiben, Filosofen in der eigentlichen Bedeutung des Worts nenne. Sofisten heißen bey mir euere Filosofen von Profession, die dem Spekulieren bloß um des Spekulierens willen obliegen, und bey gesellschaftlichen Gesprächen, wie interessant auch der Gegenstand seyn mag, keinen andern Zweck haben als Recht zu behalten. Gehen diese dialektischen Herren in der Grübeley so weit, daß sie genöthigt sind, für Begriffe, die niemand hat als sie, neue Wörter zu erfinden, die niemand versteht als sie, so nenne ich sie Frontisten. Ich habe nur einen einzigen dieses Schlags in meinen Zirkel aufgenommen, weil er seine Spinnenweberey mit einer drolligen Art von Laune treibt, und wenn die Unterhaltung einen gar zu ernsthaften und schwerfälligen Gang nehmen will, immer zu seiner eigenen Verwunderung Mittel findet, die Gesellschaft durch die sublime Absurdität seiner Behauptungen wieder in den rechten Ton zu stimmen. Um dem gewöhnlichen Schicksal solcher Gesellschaften desto sicherer zu entgehen, werden außer Kleonidas und Musarion immer auch zwey oder drey schöne und geistvolle Milesierinnen aus Aspasiens Schule eingeladen, mit deren Hülfe es mir bisher noch so ziemlich gelungen ist, meine kampflustigen Symposiasten in den Schranken der Urbanität zu erhalten.

In unsrer letzten Sitzung lenkte einer unsrer Sofisten das Gespräch auf die Frage, was das höchste Gut des Menschen sey? – In allen Dingen immer nach dem Höchsten zwar nicht wirklich zu streben, aber wenigstens den Schnabel aufzusperren und darnach zu schnappen, ist, wie du weißt, eine angeborne Eigenheit der menschlichen Natur. Das Problem erregte also allgemeine Aufmerksamkeit, und verschaffte uns den ganzen Abend reichen Stoff zu mannigfaltiger Unterhaltung. Jede anwesende Person hatte ihr eigenes höchstes Gut, welches sie (vermöge eines andern unserer Naturtriebe) zum allgemeinen zu erheben suchte. Einer meinte, dieser Vorzug könne nur demjenigen Gute zuerkannt werden, das uns, auf der einen Seite, allen vermeidlichen Übeln entgehen, und alle unvermeidlichen ertragen lehre; auf der andern uns in den Besitz des besten von allem Guten, dessen wir fähig sind, setze, und uns alles übrige entbehrlich mache; und dieß könne, seiner Meinung nach, nichts anders als die Weisheit seyn.

Ein anderer behauptete, nur die Tugend vermöge das alles; und nachdem sie sich eine Weile darüber gestritten hatten, verglich sie einer meiner Filosofen, indem er klar machte, daß Weisheit und Tugend nur zwey verschiedene Ansichten und Benennungen einer und eben derselben Sache seyen; so daß endlich alle drey, zum Erstaunen der ganzen Gesellschaft, die ein solches Wunder noch nie gesehen hatte, friedlich übereinkamen, die Sokratische Sofrosyne, welche Weisheit und Tugend zugleich bezeichnet, für das höchste Gut zu erklären.

Sofrosyne, sagte ein vierter aus der Familie des Hippokrates, ist Gesundheit der Seele; ein großes und wesentliches Gut, aber ohne Gesundheit des Leibes doch nur die Hälfte des höchsten Gutes. Gesundheit von beiden ist die nothwendige Bedingung des Genusses alles andern Guten, so wie das Gegentheil derselben alle andere Übel in sich begreift; das höchste aller Güter ist also Gesundheit.

Nachdem der Enkel des großen Hippokrates seinen Satz mit stattlichen Gründen ausgeführt hatte, nahm Kleonidas das Wort und bewies mit allem Feuer, womit ihn die Augen der gegen ihm über sitzenden Musarion reichlich versahen, und mit großem Beyfall des weiblichen Theils der Gesellschaft: »das höchste Gut verdiene nur das genennt zu werden, dessen reinster Genuß uns den Göttern an Wonne gleich mache;« und nun berief er sich mit einem Ernst, der ein allgemeines Lachen erregte, auf das Gewissen aller Anwesenden, ob wir etwas anderes kennten, von welchem sich dieß mit so viel Wahrheit sagen lasse, als die Liebe?

Wider beide erhob sich ein sechster, und bewies gegen den Arzt: »die Gesundheit könne schon darum nicht selbst das höchste Gut seyn, weil sie nur eine Bedingung des Genusses desselben sey;« gegen Kleonidas: »seine Behauptung könnte allenfalls nur von der glücklichen Liebe gelten;« und gegen beide: ein Gut, das nicht immer in unsrer Gewalt sey, könne nicht das höchste Gut des Menschen heißen. Indessen schien er ziemlich verlegen zu seyn, etwas Besseres aufzustellen, als der Hausmeister, der uns in den Speisesahl berief, einem meiner Filosofen Gelegenheit gab, mit einer scherzend ernsten Miene zu behaupten: wenn eine Gesellschaft von Repräsentanten des ganzen menschlichen Geschlechtes sich den ganzen Tag über diese Frage gestritten hätte, so würde eine wohlbesetzte Tafel sie endlich dahin vereinigen, daß alle – wenigstens gerade so thun würden, als ob sie die angenehmste Befriedigung der Eßlust für den höchsten Genuß hielten, den die Natur dem Menschen vergönne, so lange Zunge und Gaumen die empfindlichsten seiner Organe, und der Magen das große Rad bleibe, wodurch seine Existenz im Gang erhalten werde.

Ich muß der ganzen Gesellschaft die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie sich zwey Stunden lang, jedes in seiner Manier, beeiferte, der Hypothese des Filosofen Ehre zu machen. Mitunter wurde viel Schönes zum Preis der Kochkunst gesagt, und (nicht ohne Grund, dünkt mich) behauptet: »Daß sie eine der ersten Stellen unter den schönen Künsten verdiene, und einen der wesentlichsten Vorzüge des Menschen vor den übrigen Thieren ausmache. Auch dem Erfinder des Weins wurde mit vieler Andacht ein schallender Lobgesang angestimmt, und der Becher der Freude war kaum dreymahl herumgegangen, als verschiedene von unsern Weisen ziemlich naiv merken ließen, daß es nur einiger Aufmunterung von Seiten der schönen Milesierinnen bedurft hätte, um die Verfechter der Weisheit und Tugend über die schmale Grenzlinie der Sokratischen Sofrosyne hinüber zu locken. Als aber zum Schluß des Gastmahls der große Sesamkuchen aufgetragen wurde, bemächtigte sich der Frontist (der unter dem Essen der Stillste und Geschäftigste von Allen gewesen war) des Worts mit allgemeiner Einstimmung, und bewies uns, nachdem er seinen Kuchen einem hinter ihm laurenden kleinen Bedienten einzusacken gegeben hatte,Es war eine alte Sitte bey den Athenern, daß jeder Gast seinen eigenen Bedienten mitbrachte, um sich von ihm bey der Tafel bedienen zu lassen, und vornehmlich um von den verschiedenen Gerichten, wovon jedem Gast eine reichliche Porzion vorgesetzt wurde, alles was dieser nicht selbst verzehrte und was transportabel war, (z. B. Stücke gebratnen Wildbrets, Würste, Hühner, Fische, wildes Geflügel, Kuchen u. s. w.) in einen bey sich habenden Korb oder Sack stecken und nach Hause tragen zu lassen. aus voller Selbstüberzeugung: »das höchste Gut bestehe in dem Entschluß, freywillig aller Dinge außer uns zu entbehren, und den reinsten und vollständigsten Selbstgenuß im bloßen Daseyn zu finden.« Zur Erläuterung dieses paradoxen Satzes brachte der Mann Anfangs einige kurzweilige Dinge vor; z. B. einen Beweis, daß die Menschen durch eine künstliche Verminderung der Ausdünstung und eine allmähliche Austrocknung des Magens zuverlässig so weit kommen könnten, bloß von Luft und Wasser zu leben; ingleichen daß das gesellschaftliche Leben und die Sprache als die zwey größten Hindernisse unsrer Vervollkommnung anzusehen seyen, und es also ohne eine gänzliche Absonderung der Menschen von einander nie möglich seyn werde, zu jener reinen Existenz an sich selbst, und in sich selbst, und durch sich selbst und für sich selbst zu gelangen, in welcher unser höchstes Gut bestehe. Dieser Unsinn schien eine Zeit lang die ganze Gesellschaft zu belustigen: aber als unser Frontist, um uns desto gründlicher zu überzeugen, sich von einer Abstrakzion zur andern empor arbeitete, und endlich so hoch über die Region des Menschenverstandes hinauf gekommen war, daß er uns Erklärungen von Worten, wobey nichts zu denken war, und Worte für Begriffe, die keinen Gegenstand hatten, geben wollte, wurde er durch einen allgemeinen Aufstand unterbrochen, und an das ewige Schweigen erinnert, das er sich durch seine Grundsätze selbst auferlegt habe. Alle übrigen vereinigten sich nun in dem Wunsche, daß Aristipp zugegen seyn möchte, um den Ausspruch zu thun, welche der vorgetragenen Auflösungen des Problems die wahre sey, oder, wofern er keine dafür halte, uns seine eigene mitzutheilen.

Ich versprach, dich von allem Vorgegangenen zu benachrichtigen, und da ich dich für zu bescheiden hielte das Amt eines Richters zu übernehmen, dich wenigstens zu bewegen, uns deine Meinung von der Sache zu sagen. Ich verspreche mir von deiner Gefälligkeit, Freund Aristipp, du werdest nicht wollen, daß ich vergebens drey lange Stunden mit dem Schreibstift in der Hand, auf meinem Faulbettchen gesessen haben soll. – Ich darf nicht vergessen, daß wir uns ausbitten, die hiermit an dich gelangende Frage einer genauern Aufmerksamkeit zu würdigen, und uns deine Gedanken, ohne Sokratische Ironie, in ganzem Ernst mitzutheilen.


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