Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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Übrigens muß ich noch bemerken, daß diese ironische Art zu fragen nicht mit einer andern vermengt werden muß, deren er sich, gewöhnlich in Verbindung mit der Indukzion, als einer Lehrart bey seinen Freunden (am häufigsten bey jungen Leuten) bedient, und in welcher, wenn ich nicht irre, seine Kunst den Seelen zur Geburt zu helfen besteht, deren ich in einem meiner vorigen Briefe gedacht habe. Die Fragen werden in dieser Absicht immer so gestellt, daß der Gefragte die rechte Antwort entweder gar nicht verfehlen kann, oder falls er sie verfehlte, durch die Folgerungen, welche vermittelst neuer Fragen aus seiner Antwort hervorgelockt werden, sich selbst gar bald von ihrer Unrichtigkeit überzeugen muß. Diese Lehrart, außer dem daß sie die leichteste und populärste ist, scheint mir vorzüglich darin auf den besondern Karakter der Athener berechnet zu seyn, daß sie die Aufmerksamkeit des Lehrlings fester hält, und indem sie dem Lehrer das Ansehen giebt, als ob er selbst durch seine Fragen erst belehrt zu werden wünsche, die Rollen gleichsam verwechselt und den Lehrer zum Schüler macht oder wenigstens beide auf gleichen Fuß setzt, nehmlich in aller Gelassenheit etwas mit einander zu suchen, das keiner von beiden hat, und woran beiden gleich viel gelegen ist. Er weiß es dann immer ohne Mühe so einzurichten, daß der Lehrling das schmeichelhafte Vergnügen hat, derjenige zu seyn, der das Gesuchte findet, wiewohl dazu eben keine große Scharfsichtigkeit erfordert wird; denn er bringt ihn unvermerkt Schritt vor Schritt so nahe zu der Sache hin, daß er endlich mit der Nase darauf stoßen muß.

Ein Beyspiel wird dir dieß am besten erläutern. Es war dem Sokrates darum zu thun, den Begriff eines seiner Lehrlinge von der Religiosität gegen die Götter ins Reine zu bringen. Daraus entstand der folgende Dialog. SOKRATES. Sage mir, Euthydem, was hältst du von der Gottesfurcht? EUTHYDEM. Ich halte sie für etwas sehr schönes. SOKRATES. Kannst du mir also sagen, was du unter einem gottesfürchtigen Menschen verstehst? EUTHYDEM. Einen der die Götter in Ehren hat. SOKRATES. Steht es aber bloß in eines jeden Willkühr, auf welche Weise er die Götter ehren will? EUTHYDEM. Nein; sondern es sind Gesetze vorhanden, deren Vorschrift man hierin zu befolgen schuldig ist. SOKRATES. Wer diese Gesetze befolgt, wüßte der also nicht, wie man die Götter zu ehren schuldig ist? EUTHYDEM. Ich sollt' es denken. SOKRATES. Wer nun weiß wie er die Götter zu ehren schuldig ist, glaubt also nicht, daß er es auf eine andere Art zu thun schuldig sey, als wie er es weiß? EUTHYDEM. Gewiß nicht! SOKRATES. Meinst du, daß es einen Menschen gebe, der die Götter anders ehrt als er glaubt daß er es zu thun schuldig sey? EUTHYDEM. Ich sollt' es nicht meinen. SOKRATES. Wer also weiß, was die Gesetze in Betreff der Götter verordnen, ehrt der die Götter gesetzmäßig? EUTHYDEM. Allerdings. SOKRATES. Und wer sie gesetzmäßig ehrt, ehrt sie wie es seine Schuldigkeit ist? EUTHYDEM. Wie könnt' er denn anders? SOKRATES. Wer sie also gesetzmäßig ehrt, ist gottesfürchtig? EUTHYDEM. Ganz unläugbar. SOKRATES. Wir haben also den Begriff des Gottesfürchtigen richtig bestimmt, wenn wir sagen: es sey derjenige, der da weiß, was die Gesetze in Betreff der Götter verordnet haben? EUTHYDEM. So dünkt michs.«Dieses Gespräch zwischen Sokrates und Euthydemus ist von Wort zu Wort das nehmliche, welches im sechsten Abschnitt des vierten Buchs der Sokratischen Denkwürdigkeiten zu lesen ist. Aristipp sowohl als Xenofon erzählen es, als ob sie dabey zugegen gewesen, welches sehr wohl Statt haben konnte, da Xenofon sich nicht eher als im vierten Jahre der vier und neunzigsten Olympiade von Athen entfernte, um unter den Griechischen Hülfstruppen, welche der jüngere Cyrus zum Behuf seiner Unternehmung gegen den König seinen Bruder angeworben hatte, Dienste zu nehmen. Xenofon und Aristipp konnten sich also etliche Jahre lang öfters in Gesellschaft des Sokrates gesehen haben, wiewohl die große Verschiedenheit ihrer Sinnesart, und der Umstand, daß Xenofon damahls schon ein Mann von funfzig Jahren war, und überhaupt einen ganz andern Weg im Leben ging als Aristipp, Ursache seyn mochte, daß beide einander immer fremd und gleichgültig geblieben; nur mit dem Unterschied, daß dieser Mangel an Sympathie Aristippen nicht verhinderte, dem Xenofon bey jeder Gelegenheit Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, dieser hingegen in mehr als einer Stelle der Memorabilien eine Abneigung gegen jenen verräth, die sogar der Billigkeit Abbruch thut, welche man sonst in seiner Art, selbst von sehr tadelhaften Menschen zu urtheilen, wahrnehmen kann.

Ich sehe dich zu dieser Manier, den Seelen zur Geburt zu helfen, die Achseln ein wenig zucken, Kleonidas; – unter uns gesagt, auch ich habe schon oft große Noth gehabt, die meinigen bey solchen Gelegenheiten im Respekt zu erhalten. Aber es ist nun nicht anders. Dieß ist einmahl seine Manier, und du wirst wenigstens gestehen müssen, daß Mangel an Deutlichkeit nicht ihr Fehler ist. – »Sie ist nur gar zu deutlich, hör' ich dich sagen. Was soll man von dem Verstande der jungen Athener denken, wenn sie einer so wortreichen Methode nöthig haben, um einen so leichten Satz zu begreifen? Und das schlimmste ist denn noch, daß er nicht einmahl wahr ist. Denn es ist doch ein täglich vorkommender Fall, daß einer recht gut weiß, was er nach dem Gesetz zu thun schuldig ist und es doch nicht thut.« – Auf das letztere hab' ich dir keine andere Antwort zu geben als, bey Sokrates ist zwischen Wissen und Ausüben dessen was pflichtmäßig ist kein Unterschied, und er bemüht sich, auch seine Zöglinge so zu gewöhnen. Was aber die Lehrart betrifft, wovon ich dir ein Beyspiel aus Tausenden gegeben habe, so weiß ich mir die Sache selbst nicht anders zu erklären, als daß er sie nöthig gefunden haben muß, um die unsägliche Flatterhaftigkeit der jungen Leute in Athen, wenigstens einige Minuten lang, bey dem nehmlichen Gegenstande fest zu halten. Hätte er zu Cyrene oder Korinth oder Theben gelebt, so würde er vermuthlich gefunden haben, daß er auf einem kürzern Wege zum Ziele kommen könne. Aber nun ist ihm diese Methode so sehr zur Gewohnheit geworden, daß er sie auch bey solchen Personen gebraucht, bey denen sie keine gute Wirkung thut. Ich wenigstens bekenne, daß ich schon mehr als einmahl alle meine Geduld aufbieten mußte, um die Ehrerbietung nicht aus den Augen zu setzen, die jedermann, und ein junger Mensch mehr als irgend ein anderer, einem Greise schuldig ist, der an Naturgaben und Geisteskräften den Besten gleich ist, an sittlicher Vollkommenheit vielleicht alle übertrifft; und, da ein Sterblicher doch nicht ganz ohne Tadel seyn kann, sich durch die wenigsten und unbedeutendsten Schwachheiten von dem allgemeinen Loose der Menschheit, so zu sagen, frey gekauft hat.

Die neuesten Nachrichten, die mir aus Cyrene zugekommen sind, lassen mich besorgen, daß die zeitherige Ruhe unsers so glücklich scheinenden Vaterlandes von keiner langen Dauer mehr seyn werde. Doch vielleicht giebt irgend ein guter Dämon unsern Regenten noch ein Mittel ein, das Ungewitter vor dem Ausbruch zu beschwören. Auf alle Fälle, mein Lieber, suche dich so lang' als möglich frey zu erhalten; und siehst du, daß die Sachen eine Wendung nehmen, die dich entweder unvermerkt verwickeln oder wohl gar gewaltsam in eine der Fakzionen, die sich bereits zu bilden scheinen, hinein ziehen möchte, so folge meinem Beyspiel, und flüchte dich in Zeiten unter den zwar etwas engen und sichern Mantel des weisen Sokrates. Das politische Meer, worin die Griechischen Republiken, wie eben so viele schwimmende Inseln, hin und her treiben, ist zwar immer ein wenig stürmisch; aber in Vergleichung mit den letztern Zeiten, genießen wir dermahlen halcyonischer Tage, und für einen aufstrebenden Zögling der Musenkünste ist doch Athen der einzige Ort in der Welt.


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