Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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124.

Magnolia, den 10. April 1868.

Vermutlich erschreckt Euch das »Magnolia« mit jedem Monat mehr. Aber trotz der letztjährigen Epidemie beharre ich bei der Behauptung, daß während neun Monaten das Landleben in Luisiana so gesund ist als irgendwo, und auch die drei Monate im Spätsommer nicht schlimmer sind als drei Wintermonate in nördlicheren Breiten. Lawrence behauptet, daß es das gesündeste Klima der Welt sei, was allerdings jeder Amerikaner von seinem jeweiligen Wohnsitz glaubt. Den Gedanken von der Tödlichkeit der Swamps, der sich in Europa festgesetzt hat, weil jeder Reisende seine überstandenen Gefahren in das bestmögliche Licht zu stellen liebt und ein Fieber mit etwas Chinin dem Gemälde den tropischen Anstrich gibt, den es vielleicht sonst nicht hätte – diesen Gedanken dürft Ihr getrost dem glücklich geretteten Reisenden selbst überlassen.

Die Grenze der Magnoliaplantage nach der vom Mississippi abgekehrten Seite bildet ein Kanal und ein Damm, hinter dem das Buschwerk wie eine Mauer aufsteigt. Von diesem Kanal bis zum Meer sind es etwa zwölf bis fünfzehn Meilen (ich verstehe hierunter immer nur englische Meilen), der ganze Streifen Landes ist mit Urwald, Urschilf und Urbinsen bedeckt und in allen Richtungen von sogenannten Bayous durchzogen. Dies sind flußbreite, natürliche Kanäle, die in den wunderlichsten Schlangenwindungen verirrtes Mississippiwasser dem Golf zuführen. Die Höhenlage des Bodens in den Swamps ist verschieden. Große Strecken sind beständig knietief unter Wasser, andre sind trocken und werden nur bei hohen Fluten und anhaltendem Südwind überschwemmt. Wieder andre, vermutlich infolge von jetzt veränderten Wasserströmungen des deltabildenden Flusses aufgestaut, liegen sogar über dieser Grenze und sind mit dichten Urwäldern bedeckt, in denen die Lebenseiche (live-oak), die eigentümlichste unter den Eichen Luisianas, die große Rolle spielt.

Ein solcher Wald, fünfundzwanzig Meilen lang und etwa drei Meilen breit, liegt südlich von Magnolia. In seinem Innern sollen sich, wie ich hörte, bedeutende alte indianische Totenhügel befinden, die mir als würdiges Ziel eines längst beabsichtigten Ausflugs erschienen.

Die Vorbereitungen hierzu waren einfach genug. Sobald von der Sache gesprochen wurde und meine Dampfpflugniggers vernahmen, daß ich in freigebiger Weise für den nötigen Whisky sorgen werde, erboten sie sich leidenschaftlich, mich als Bootsleute und Wegweiser zu begleiten. Samstagabend jedoch, als wir den großen Nachen des Guts auf einem Wagen vom Fluß in den Kanal brachten, sagten sie mit hängenden Köpfen, daß es recht gut wäre, wenn einer ihrer Freunde, ein gewisser Washington, an der Expedition teilnehmen würde, da er der einzige Sterbliche sei, der den Weg nach den Indianerhügeln kenne. Schließlich ergab sich, daß Washington zwar den Weg nicht selber wußte, aber einen dritten Schwarzen, einen Squatter in den Swamps, kannte, mit dessen Hilfe wir ohne Zweifel die berühmten Hügel erreichen würden.

Ein Essigkolben voll Whisky, zwei andre voll Wasser, Flinten und Revolver, Brot und Schinken, und mein Skizzenbuch waren am folgenden Morgen, der einen Tag voll südlichen Frühlingssonnenglanzes einleitete, rasch beisammen. Das Zusammentrommeln der Leute nahm mehr Zeit in Anspruch. Noch saßen wir um sieben Uhr in dem großen Boote, das uns zunächst nach der »Chainea«, wie der Distrikt genannt wird, bringen sollte. Der künstliche Kanal, der die Regenwasser der Plantage dem eine Meile weit entfernten Bayou zuführt, lag nach kurzer, etwas mühseliger Fahrt hinter uns, und wir bogen mit entfaltetem Segel in das spiegelglatte Gewässer ein, das sich durch die mit hohen Binsen und Riedgras bedeckten, kaum betretbaren Prärien hinschlängelt.

Meilenweit bieten die Ufer nichts als diese Binsengräser, hinter denen da und dort ein halbverkohlter Baum seine Äste emporstreckt. Der Horizont ist nach allen Seiten vom Waldsaum der höher gelegenen Swamps begrenzt. Große wie kleine Fische schnellen über den sonnigen Spiegel, während alle Arten von Vögeln uns vom Ufer aus neugierig betrachten und ein gelegentlicher Schuß nur selten imstande ist, sie aus ihrer vertrauensvollen Sicherheit aufzuschrecken. Kaum unterscheidbar von einzelnen Baumstämmen, welche nahezu regungslos der langsamen Strömung folgen, erscheinen hier und da die braunen, wie mit Rinde bedeckten Köpfe und Rücken der Alligatoren, die bei unserm Näherkommen lautlos, fast ohne einen Ring im Wasser zu hinterlassen, verschwinden oder auch, plötzlich lebendig werdend, uns auf lange Strecken vorausschwimmen und in dem grünen Schatten der Binsen den Silberstreifen einer rasch und lautlos sich fortpflanzenden Welle ziehen. Es ist nicht leicht, dieser Bestien habhaft zu werden, trotzdem sie harmloser Natur sind, und die gräßlichen Bilder von Alligatoren, die mit einem Negerbein im Maul frohlockend das Weite suchen, eben auch nur eine jener beliebten amerikanischen Reiseskizzen europäischen Ursprungs sind. Mehrere unsrer Schüsse, die nicht fehlten, hatten bloß das augenblickliche Versinken des getroffenen Tieres zur Folge, und nur einmal kamen wir einem jungen, etwa fünf Fuß langen Burschen auf zwanzig Schritt nahe, der sich auf einem im Wasser liegenden Baumstamm sonnte. Eine Kugel traf ihn in den Kopf. Der überraschte Alligator machte einen wunderbaren Sprung, vier Fuß hoch, in die Luft und fiel dann wie ein Block ins Wasser. Aber all unsre Versuche, der Leiche habhaft zu werden, waren vergeblich. Sie war ins Bodenlose gesunken und erscheint erst einen oder zwei Tage später wieder an der Oberfläche.

Nach einer Fahrt von anderthalb Stunden wurden die Ufer des Bayous waldig, und die alten, verrotteten Eichenstämme, die fast wagerecht über das Wasser hinliegen und deren senkrecht stehende Riesenzweige zu neuen Bäumen heranwachsen, die Schlingpflanzen und Moosgirlanden, welche, von den Zweigen herabhängend, langsam vom Wasser bewegt werden, die als einzelne Pflanze steifen Palmettos, deren gewaltige Fächer jedoch, in vornehmen Gruppen vereinigt, eine gewisse künstlerische Ordnung in das bodenlose Pflanzenlabyrinth bringen, geben Bilder von überraschender Mannigfaltigkeit.

Aber all dies wurde auf dem Spaziergang durch den eigentlichen Wald nach den indianischen Grabhügeln übertroffen. Drei von unsrer Partie, mit breiten, beilartigen Zuckerrohrmessern bewaffnet, hatten den Weg durch das fast undurchdringliche Dickicht zu hauen, während die andern sämtlich im Gänsemarsch mit Flinten und Schießbedarf und – was noch wichtiger schien – mit dem Wasser- und Whiskykrug folgten. Eine halbe Stunde, nachdem wir die Hütte des Squatters, der uns führte, verlassen, zeigten sich noch Spuren von menschlicher Tätigkeit: kleine Lichtungen, von grünen Mauern umschlossen und mit weißblühenden Brombeeren mannshoch überwuchert, verkohlte Stämme alter Waldriesen mit Schlinggewächsen malerisch behängt; dann aber hörte alles auf, und der Urwald in seiner jungfräulichen Pracht lag vor uns. Den Boden bedeckten Palmetten, Brombeerstauden und wilde Rosen, Gras und Schilf mit Gruppen blauer Waldlilien, von den spärlichen Sonnenstreifen manchmal prächtig beleuchtet Aus diesem Gewirr der unteren Welt schossen wie Pfeile die schlanken Rohre des Zuckergrases empor, die zwanzig und fünfundzwanzig Fuß über unsern Köpfen ihre zierlichen Fliederbüschel schwenkten, oder wanden sich, oft haushoch frei hängend und erst in den hohen Zweigen der Eichen ihren Halt findend, die mancherlei Schlingpflanzen dieser unerschöpflich üppigen Pflanzenwelt. Die gewaltigen Pfeiler des ganzen Baues bildeten die Lebenseichen, ihre riesigen Zweige bedeckt von grünen Ranken und behängt mit den langen, sanft schwingenden Festons des silbergrauen hängenden Mooses, während da und dort, vom Blitz getroffen oder von Sturm und Alter niedergedrückt, eine Rieseneiche, die alles um sich her zusammengebrochen hatte, niedergestürzt dalag und ein wahres Kletterlabyrinth von Zweigen darbot, von denen aus eine kleine Fern- und Übersicht, wenigstens auf etliche Schritte, in diese stille, grünschattige Welt voll wunderbaren Lebens gewonnen werden konnte.

Eines der schönsten Waldbilder dieser Art fanden wir beim Durchkreuzen eines kleinen versumpften Bayous, über den ich, teils auf dem Rücken unsers Führers, teils von Baumstamm zu Baumstamm springend, setzte. Das schwarzbraune Wasser, voll modrigen Lebens, worin sich Schlangen von Finger- bis zu Mannslänge bewegen, ist fast begraben in niederem Schilf und fetten, wachsartigen Wasserpflanzen. Umgestürzte Baumstämme, mit Schwämmen und Orchideen überwachsen, strecken ihre Äste aus dem feuchten Grab. Dicht wie Mauern steht auf beiden Seiten der Wald, der mit dem Sumpfschilf wie aus einem Stücke gehauen scheint. Tritt man aus dem dunkeln Innern, so zeigt sich die Lichtung in hellem Sonnenschein wie eine grüne Feengrotte mit einer tiefblauen Kristalldecke. Die einzigen lebenden Wesen sind ein paar große gelbschwarze Schmetterlinge, welche um die nächsten Waldlilien kreisen, und eine kleine, hellgrüne Schlange, die, von dem Zweig herabhängend, auf welchem mein Skizzenbuch liegt, den Eindringling mit klugen, neugierigen Äuglein betrachtet. Von den Moskitos nicht zu sprechen und den Wasserspinnen und andern ähnlichen Kleinigkeiten, ohne die ein irdisches Paradies nun einmal nicht gefunden werden kann.

Die »Indian Mounds« erwiesen sich nicht sonderlich interessant. Es sind Hügel, von denen der größte, pyramidenförmig aufgeworfene, etwa 50 Fuß hoch sein kann, während die andern, 25-35 Fuß hoch, einen flacheren Gipfel darbieten – die einfachen Grabhügel eines Volkes, das durch Jahrtausende sich nicht über die ersten Stufen des schlichtesten Jäger- und Fischerlebens zu erheben vermochte und dessen letzte Gräber selbst kaum noch ein halbes Jahrhundert überdauern werden. Sie waren derart mit Gestrüppe überwachsen, daß wir nur mit der größten Mühe auf dem Gipfel des höchsten einen bescheidenen Lagerplatz klären konnten, auf welchem der mühevoll herbeigebrachte Branntwein getrunken wurde. Der Squatter, angeregt von den Feierlichkeiten des Augenblicks, der ihm einen Viertelliter Feuerwasser gebracht hatte, gab uns ein paar alte, wunderliche Kreolenlieder zum besten, und meine Nigger ergaben sich einem Tanz, der die alten Indianerknochen unter unsern Füßen grausam in ihrer Ruhe gestört haben mag. Eine halbe Stunde später war es still auf dem Grabhügel; die niedergeschlagenen Stauden und Binsen richteten sich auf; der Urwald und die Toten hatten ihren Frieden wieder.


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