Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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12.

London, den 30. Mai 1861.

»Arbeit« im Sinn des wandernden Handwerksburschen habe ich noch nicht, wenn auch genug zu tun. Es wird immer unwahrscheinlicher, daß ich sie in London finden werde. Meine Empfehlungsbriefe scheinen eher abschreckend zu wirken.

Daß ich nicht sogleich eine im Geldpunkte befriedigende Stellung erhalten werde, ist vorauszusehen. Aber das wird sich machen, wenn ich nur einmal zum Anbeißen komme. Vielleicht wäre ich am Ziel, wenn ich gewußt hätte, was ich heute weiß. Häufig fragt man mich nach Zeichnungen. Hätte ich, anstatt meine Zeugnisse mitzunehmen, die niemand sehen will, ein paar saubere Blätter ausgeführt und dabei zwei Wochen länger unser klösterliches Stilleben genossen, so brauchte ich vermutlich jetzt nicht länger betteln zu gehen. Um wenigstens in Zukunft der Frage nach meinem Können zuvorzukommen, entlehnte ich Brett und Reißschiene und malte eine Gasmaschine, mit der ein mir geneigter Herr Becker, der Direktor einer Fabrik optischer Instrumente, weiter operieren will.

Die Zeichnung wäre zu Hause billiger geworden, obgleich sie mich nur drei Tage kostete. Das Leben in London hat Häkchen, an denen die Rockschöße eines armen Deutschen übel hängen bleiben. Für Kost und Logis bezahle ich wöchentlich, wie jeder andre im Haus, anderthalb Pfund. Dann habe ich noch nichts gesehen, habe keine Wäsche bezahlt, bin barfuß und barhaupt. Nun rechnet! Ändern läßt sich hieran zurzeit nichts. Sobald ich eine Stelle habe, streck' ich mich, geh's wie's will, nach der Decke. –

Mit Londons allgemein menschlicher Seite bin ich nun bald zu Ende. Aber was will das heißen, wenn man fünf Stunden im Britischen Museum war, wenn man einen Tag im Kristallpalast herumlief oder der Probe wegen die Riesenstadt von einem Ende zum andern durchrannt oder durchfahren hat? Das Ergebnis ist ein Gefühl der Betäubung, der Verzweiflung an sich selbst, an seinem eignen Können und Wissen, diesen Schätzen der ganzen Menschheit gegenüber. Es tat mir ordentlich wohl, als ich mich unlängst in den grünen Wäldern des Parks von Richmond verirrte, wo ich Pembrokelodge, die Villa Earl Russels, und dort einen Freund und Landsmann aufsuchte. Diese Parks, diese Bäume sind riesenhaft, aber sie sind doch noch menschlich groß. Auch Earl Russel, ein kleines Männchen inmitten einer großen Familie, ist keine überwältigende Gestalt.

In den letzten Tagen sind wieder ein paar Versuche, eine Stelle zu finden, glücklich gescheitert. Es gehört dies zu meiner derzeitigen Berufstätigkeit und stärkt Mut und Geduld. Selbst in der Geographie kann der Mensch Trost suchen und finden; er darf nur wollen. Der Westen der Erde ist groß und steht jedem offen, der im Osten keinen Platz mehr findet.


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