Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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22.

Leeds, den 29. November 1861.

Bewegte Zeiten! Zum Glück, vielleicht auch zu meinem Schaden habe ich mich in den philisterhaften Grundsatz hineingearbeitet, das Nächstliegende für das Wichtigste zu nehmen, und so will ich unbeirrt mit Hatham fortfahren, wo ich im letzten Brief steckenblieb.

Ja, »steckenblieb« in mehr als einem Sinn, ganz abgesehen vom Morast, in dem ich manchmal buchstäblich Gefahr lief, die Stiefel zu verlieren. Das Unglaubliche hat sich ereignet, daß ich mich um ein Haar sterblich verliebt hätte. Vielleicht hab' ich's. Wer kennt sich selbst in diesem Zustand? Die »moderne Idylle«, die bis Hatham in Rauch, Dampf, Nebel, Regen und Schnee recht kühl dahinlief, bekam plötzlich Hände und Füße und ein über die Maßen liebliches Gesichtchen. Mir gegenüber brauche ich keine Entschuldigung. Der Welt gegenüber sage ich mit Stolz, daß es die schönste Engländerin ist, die ich je, von Kent bis Lancastershire, gefunden habe. Es kam bis zum Austausch von Haarlöckchen; schwarz und rot, die schwäbischen Landesfarben. Was, bei allen alten Göttern, ließe sich dagegen einwenden?

Es waren rauhe Tage in Hertfordshire trotzdem! Morgens vor dem Grauen des Tages heraus, eine Stunde Wegs durch den fröstelnden Nebel, durch Schneefall oder strömenden Regen nach dem Gute. Die Tagesarbeit: Stunde um Stunde auf dem Pflug sitzen und steuern, oder durch den von der Maschine fußtief zerwühlten Kot waten, gelegentlich förmlich darin liegen und mit den nassen, schmutzüberzogenen Werkzeugen hantieren, wenn etwas gebrochen war; das Frühstück und Mittagessen in einem elenden Kneiplein, eine Viertelstunde vom Gut; war's ein Regentag, von den Knien abwärts – ein Vorteil des Regenmäntelchens – stets naß zum Auswinden, und so den lieben langen Tag feldauf und -ab, bis die Dämmerung gnädig die Signale unsichtbar machte; dazu keine andre Gesellschaft als die rohesten Bauernjockel, deren einziges Gefühl ein dumpfer Haß gegen den »foreigner« zu sein schien. Ja, es war eine Idylle, die sich in kein mir bekanntes Versmaß bringen lassen wollte. Mit jedem Tag wurde ich daher froher, wenn die Sonne drunten war und ich im Geschwindschritt meinem gemütlichen Kaminfeuer zusteuern konnte, wo ich wußte, daß ich nicht lange allein bleiben würde.

Aber schwere und heitere Stunden – das Schaffen im halbgefrorenen Kot und das Spielen mit heißen Kastanien nahm sein Ende, und gegen Schluß der vierten Woche schrieb ich der Verabredung gemäß nach Leeds, daß ich nun genug wisse. Sie hing ihr Köpfchen tief und kutschierte eigenhändig unsre beiden abschiedschweren Herzen nach der nächsten Eisenbahnstation. Damit endete Leid und Freud von Hatham für immer.

Nun folgten in London ein paar Tage aufregender moderner Romantik, die ich noch nicht ganz verwunden habe. Mr. Fowler, freundlich wie immer, fragte mich, wie mir's gegangen, und schloß, als spräche man von einem kleinen Ausflug nach Wakefield: »Gut, Herr Eyth! Sie können sich bereithalten, in vierzehn Tagen nach Ägypten aufzubrechen; hätten Sie Lust?« Wie ein elektrischer Schlag fuhr mir's durch Leib und Seele. Mein schlechtes Englisch wollte im ersten Augenblick nicht ausreichen, die himmelhoch jauchzende Freude auszudrücken. Aber ich glaube, sie war genug sichtbar, und so kam die Sache nach einer Stunde nahezu zum Abschluß. Zwei Dampfpflüge mit den dazugehörigen Maschinen müssen nächste Woche in Liverpool eingeschifft werden. Es schien nur noch fraglich, ob ich den Seeweg mit den Maschinen oder zu Land über Triest gehen sollte. Die Maschinen gehören dem Oheim des Vizekönigs; das Feld, auf dem sie zu arbeiten haben, liege am Fuß der Pyramiden, und Miß Bitter, die meine Begeisterung teilt, bestellte bereits Steine von Memphis und Thebä und womöglich ein Stück von der Memnonsäule, das morgens noch klinge.

Allerdings zeigte sich auch alsbald eine Schwierigkeit. Der Pascha wollte seine Engländer ein Jahr lang behalten, und ich sollte zur Weltausstellung im Mai zurück sein. Der Gedanke, daß es zu schön wäre, wenn der Plan zur Ausführung käme, ließ mich keine Ruhe finden. Und es wäre zu schön gewesen! Nach zwei Tagen waren die Würfel gefallen; ich hatte verloren. Mr. Fowler fand es freundlicherweise der Mühe wert, mir etliche Trostworte zu spenden, mit denen er mich nach Leeds zurückschickte. Und da bin ich nun wieder, halb verliebt, halb mich sehnend nach den Palmen des Ostens, nach wie vor inmitten eines wunderbar gestalteten Haufens von Unrat, in welchem die ewige Allmacht den lebendigen Odem nicht noch ganz hat ausgehen lassen. In technischer Beziehung ist es vielleicht ein Glück, daß mir Ägypten entwischte. Fowler denkt so und hat wahrscheinlich recht.

Bei Mrs. Bitter, wo noch immer mein Absteigequartier war, wenn mich der Weg durch London führte, hatte ich im Laufe des Jahres einen Herrn Lobscheid, einen deutschen Missionar, kennen gelernt, der in halb politischer Mission aus China zurückgekehrt war und sich bemühte, Sympathien und namentlich auch Leute für die damals in vollem Siegeszug vordringende Taipingrebellion zu werben. Er hatte auch mir Anträge in diesem Sinne gemacht, und meine Verhandlungen mit ihm hatten sich durch den ganzen Sommer und Herbst hingezogen. Natürlich hatten meine Eltern gegen diese phantastischen Pläne die ernstesten Bedenken, während mich die abenteuerlichen Schilderungen Lobscheids lebhaft anzogen. Auf diese Verhältnisse bezieht sich der letzte Brief aus dem vielbewegten Jahr, das mich im dunkeln Drange nach einer Lebensaufgabe noch zu keinem Ziele geführt hatte.


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