Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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97.

Neuorleans, den 30. Dezember 1866.

Neuyork, Philadelphia, Pittsburg, Columbus, Cincinnati, Louisville, Rom, Memphis, Granada, Canton, Neuorleans; acht verschiedene Eisenbahnen und eine Dampferlinie, alles zusammen 1458 englische Meilen, eine Linie durch die Staaten Neuyork, Neujersey, Pennsylvanien, Ohio, Indiana, Kentucky, Tennessee, Mississippi, Luisiana, durch zehn Breitegrade und fünfzehn Längengrade. »It's a great country!« (»'s ist ein großes Land!«) das dritte Wort jedes echten Amerikaners spür' ich in allen Knochen. Es ist mir zumut wie nach einer fürchterlichen Geographiestunde, nur ganz anders. Während Bücher und Katheder bloß eine Reihe von unzusammenhängenden Namen zu geben vermögen, gaben mir die letzten Tage ein gewaltiges Bild mit Bäumen, Menschen und Tieren, mit Eisenbahnen und Dampfschiffen, Sümpfen, Bergen, Wäldern, gaben mir einen bunt kolorierten Streifen mitten durch den großen Weltteil, der leb- und farblos vor mir lag, als ich in Boston ans Land stieg.

Die Bahnen sind gegen den Süden hin unglaublich schlecht. Hölzerne Schwellen, roh, wie sie der Holzspälter im nächsten Walde liefert, liegen in beliebigen Abständen der Bahn entlang, gefährlich weit voneinander auf festem Boden, in Sümpfen etwas enger. Das Sumpfwasser spritzt zwischen denselben empor, wenn der Zug über sie hinbraust. Zum Glück gibt es ein Landesgesetz, das keinem Zug eine größere Geschwindigkeit als zwanzig englische Meilen in der Stunde gestattet. Dies ist nichts Außerordentliches und wird in England, wo die Züge sechsunddreißig bis fünfundfünfzig Meilen machen, weit übertroffen. Die Größe der zurückzulegenden Entfernungen verleiht dagegen dem Leben auf einer amerikanischen Eisenbahn seinen eigentümlichen Charakter. Man saust und jagt, aber man saust und jagt nicht aneinander vorbei und auseinander wie auf den kleinen Strecken in der Heimat. Man ist tagelang beisammen, man ißt, trinkt und hungert vereint, man geht zu Bett und steht auf, erzählt sich Lebensschicksale und Rauchzimmergeschichten, kurz, es wäre wieder etwas von der alten Postkutschenromantik gerettet, wenn das Klima der Romantik nicht so gar zuwider wäre.

Es war nachts zehn Uhr, als ich Neuyork verließ. Ich hatte ein Billett bis Neuorleans in der Tasche, das mich ohne jede weitere Bemühung sicher durch die acht verschiedenen Eisenbahngebiete führt und mir in jedem Neste jeden beliebigen jahrelangen Aufenthalt gestattet. Schon im Gasthof zu Neuyork wird mein Gepäck von einem Eisenbahnbediensteten abgeholt, und ich erhalte zwei Blechmarken, die meinen Koffer vorstellen. Will ich den Tag darauf in Cincinnati aussteigen, so gebe ich diese Marken dem Gepäcksschaffner und finde meine Koffer in dem Hotel oder Haus, das ich ihm bezeichne, fast noch früher, als ich selbst dort bin. Ebensogut aber kann ich sie nach Neuorleans vorausgehen lassen, und das erste, was mir eine Woche später in Neuorleans in die Augen springen wird, sind abermals meine Koffer, in der Empfangshalle des Hotels, das ich gewählt hatte. Man hat bei uns keinen Begriff davon, wie sicher und regelmäßig und ohne unsre gewohnheitsmäßige Angst und Not um das liebe Eigentum dies alles vor sich geht. Ein kindliches Vertrauen in die Ehrlichkeit der ganzen Welt scheint jedermann zu beseelen – gewiß ein merkwürdiger Zug in Amerika!

Ich bezahle einen Dollar für ein Bett und begebe mich in den Schlafwagen. Die Betten sind bereits aufgeschlagen. Das hintere Drittel des Wagens ist mit einem großen Vorhang abgeschlossen; dort befindet sich die Damenwelt. Daß diese Betten ein Ideal von Behaglichkeit seien, läßt sich gerade nicht behaupten. Man hat eine gewisse Neigung, mitten in einem aufregenden Traum seine Nase gegen den Rücken des Obermanns zu schlagen, man ärgert sich wohl auch über ein fremdes Bein, das, von oben kommend, den süßesten Schlummer unterbricht. Auch die Luft ist morgens mehr für Chemiker als für gewöhnliche Sterbliche von Interesse. Doch verglichen mit einer Nachtfahrt von Wien nach München oder von Straßburg nach Paris, bei der sich der arme Leib stundenlang umsonst quält, sich den marterwerkzeugartigen Sitzen anzupassen, ist die Einrichtung schätzenswert. Man hat wenigstens in der Frühe das wohltuende Gefühl, mittelmäßig geschlafen zu haben. Gewöhnlich geht man dann auf eine halbe Stunde in den nächsten Wagen, um dem Schlafwagen Zeit zu lassen, sich zusammenzufalten, und sieht die Sonne, die gestern hinter den wilden Höhen von Pennsylvanien unterging, durch das wirre Waldgestrüpp von Tennessee wieder aufsteigen.

Station um Station erscheint und verschwindet, kleine Nestchen mit großen Namen, große Städte, von deren Dasein wir bisher nur eine dunkle Ahnung gehabt hatten, fliegen an uns vorüber.

Es wird neun Uhr; ein Junge erscheint mit den neuesten Zeitungen. Ein andrer kramt eine ganze Bibliothek leicht verdaulicher Reiseliteratur aus und legt jedem Mitfahrenden ein Buch in den Schoß, indem er so seinen Vorrat in dem ganzen Zug verteilt. Nach einer halben Stunde kommt er wieder, um seine Bücher einzusammeln. Mancher hat mittlerweile eine Geschichte angefangen und kauft deshalb das Buch. Auch hier zeigt sich der wunderliche Zug von Vertrauen in die Ehrlichkeit des Publikums. Nichts wäre leichter, als diese Bücher in der Stille einzustecken.

Mindestens alle zwei Stunden erschallt die laute Aufforderung, sein Leben gegen Unfälle zu versichern. »Dreitausend Dollar für zehn Cents der Tag! Gentlemen, versichern Sie Ihr Leben! Dreitausend Dollar für zehn Cents!« – Ein Eisenbahnwagen die Kartause; »dreitausend Dollar für zehn Cents« das Memento mori unsrer Zeit! Ich begreife wohl, daß Lenau wieder umgekehrt ist!

Mittlerweile zeigt sich ein mit Teilnahme beachteter Anschlag über der Wagentüre: »Dieser Zug frühstückt in Bagdad!« und bald darauf erscheint das aus fünf Häusern in einem verbrannten Wald bestehende Bagdad. Alles stürzt in verworrener Eile hinaus, über einen im Weg stehenden Zug hinein, dem wilden Getöse entgegen, das ein Hammer auf einem Blechschild erzeugt, welcher hier die sanftere Eßglocke vertritt. Der Tisch ist gedeckt und mit Platten besetzt, die Omeletts, Rostbeef, Schweinefleisch, Bratwürstchen, Kartoffeln, Schinken, indische Maiskuchen und so weiter enthalten. Jedermann reißt an sich, was er bekommen kann und steckt unbefangen seine Gabel in des Nachbars Braten. Freundschaften, die man in der verflossenen Nacht gestiftet, sind vergessen, Feindschaften werden mit Erbitterung erneuert. Niemand spricht ein Wort; man fühlt, daß es einen Kampf auf Tod und Leben gilt, jeder gegen jeden. Auch Tee und Kaffee sind zu haben, aber sie verfehlen ihre besänftigende Wirkung. Nach vier Minuten stürzt der Schwarm wieder hinaus, Mann für Mann einen Dollar an der Türe zurücklassend. Mein Nachbar, der mir während des Essens die besten Brocken fast aus den Zähnen gerissen hat, wirft mir, in einer Backe eine halbe Bratwurst, in der andern ein Stück Apfelkuchen, einen verschmitzt lächelnden Blick zu und nimmt dann den Faden der Freundschaft und des Gesprächs wieder auf, als wäre nichts geschehen.

Außer den Fütterungszeiten benimmt sich die sehr gemischte Gesellschaft der amerikanischen Eisenbahnen erstaunlich anständig. Von betrunkenem Geschrei, von lautem Fluchen und Streiten ist nie etwas zu hören. Eine gewisse Trennung der Stände macht sich nur insofern geltend, als sich ganz von selbst die ärmeren Leute in den vorderen Wägen zusammenfinden. Die Reichen sitzen hinten, wo man seines Lebens sicherer sein soll. Auch in den Nordstaaten ist der erste Wagen hinter der Lokomotive als Puffer der Weißen für die Schwarzen bestimmt.

Je weiter man nach Süden vordringt, um so schlechter werden die Bahnen, um so zäher die Beefsteaks, um so kleiner die Züge. Die Spuren des Kriegs, wenn auch äußerlich verschwunden, sind tief in das Fleisch des Landes eingegraben, und der höfliche, aber bittere Ton, womit die großen Tagesfragen, vor allem die Sklavenfrage, bei jeder Gelegenheit verhandelt werden, zeigte mir, sobald ich die Grenze von Kentucky überschritten hatte, wieder einmal recht deutlich, wie schwer es ist, über scheinbar sonnenklare Dinge gerecht zu urteilen, wenn man sie nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen hat.

Aber wo will das hinaus? Wann und wie soll ich auf diese Weise von meinen eignen Erlebnissen erzählen: wie mir die Quäker in Philadelphia behagen, wie mir die ganze Reise gefallen, wie ich zwei volle Tage, als Christtagsfeier, in der Mammuthöhle von Kentucky gesteckt, wie es in Neuorleans schneit, wie ich für General Taylor, einem früheren konföderierten Heerführer, Kanal-Schleppmaschinen entwerfe und mit General Longstreet, einem berühmteren Helden des Bürgerkriegs, eine Baumwollensäemaschine erfinde, wie mein Dampfpflug leider noch nicht angekommen ist, und wie ich bei all dem über den Erfolg meiner hiesigen Mission noch immer in großen Zweifeln bin? –


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