Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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Erster Teil

In Deutschland und England

Nicht jedem ist es beschieden, seine Lebensaufgabe ambulando, hier richtiger und deutsch gesagt wandernd, zu lösen. Nicht jedem wäre es wohl dabei. Der alte fromme Spruch: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt,« erfreut sich nicht der allgemeinsten Anerkennung. Doch gibt es glücklicherweise Naturen, denen es aus der Seele gesprochen ist, und doppelt glücklicherweise sind sie so notwendig für das Gedeihen der Menschheit als die seßhaftere Gattung. Zu der letzteren gehörte ich nicht. So kommt es, daß die folgenden Mitteilungen – Briefe und Bruchstücke aus Briefen – schon äußerlich von der unruhigen Bewegung der Zeit erfaßt scheinen, deren Strömung wir um die Mitte des vorigen Jahrhunderts auch in Deutschland zu spüren begannen.

Strohhalme zeigen, wie der Wind weht. Solche Strohhalme wehten auch durch mein junges Leben. Ich wußte zurzeit kaum, wie klein sie waren; ich wußte noch weniger, was sie bedeuteten. Beides ist mir seitdem klarer geworden, und deshalb mögen sie ihre Stelle unter Erinnerungen behalten, die manchem klein und bedeutungslos erscheinen dürften. Sie bezeichnen den Mann – einen unter Tausenden – und die Zeit, die im Werden waren.

1.

Stuttgart-Berg, den 6. Mai 1859.

»Alles begegnet dem, der wartet.« Auch ein Zeichner wird schließlich in die Welt hinausgeschickt, wenn er sie lang und sehnsüchtig genug durch die mattgeschliffenen Scheiben seines Bureaus betrachtet hat. Seit gestern bin ich von meiner ersten technischen Geschäftsreise zurückgekehrt, freudig erregt und hochbefriedigt.

Schon das Ziel: Unterweißach, Oberamt Backnang, Königreich Württemberg, acht volle Stunden von Berg, nur auf Wegen zu erreichen, die meines Wissens noch kein Techniker betreten hat, war meiner Tatkraft und Erfahrung würdig. Denn je unerfahrener ein Pionier ist, um so mutiger wird er an seine Arbeit gehen, das fühle ich jetzt schon.

In Unterweißach weiß man noch nichts vom neunzehnten Jahrhundert und seinen industriellen Zielen. Ein unterschlächtiges Wasserrad in einem meist vertrockneten Bach ist der Gipfel seiner mechanischen Begriffe, eine Dampfmaschine Teufelswerk. Auch der Sägemüller, zu dem ich geschickt wurde, teilte diese Auffassung, denn er hatte sich mit einer alten oszillierenden kleinen Maschine betrügen lassen, die er uns klagend ans Herz legte. Sie wollte sich kaum rühren, geschweige denn sägen. Um so mehr rührte mich der Mann, seine Frau und vier minimale Kinder, die sämtlich bankrott gewesen wären, wenn die Maschine hätte aufgegeben werden müssen. Sie selbst war unschuldig, nur zu schwach und zu alt für ein Sägegatter. Eine teure Reparatur und die Anwendung höherer Dampfspannung waren Auskunftsmittel, an die ich mich nicht herangewagt hätte, wenn die Würmchen nicht gewesen wären. So aber dachte ich wie einst Eberhard im Bart: ›Attempto!‹ und ließ machen, was zu machen war.

Beim Montieren an Ort und Stelle hatte ich selbst Hand anzulegen, stets umgeben und ermuntert von den kleinen, drei- bis siebenjährigen Sägmüllern. Hauptergebnis: zerschlagene Finger; weshalb ich auch mit meinem Hilfsmonteur vortrefflich auskam, dem dies viel Spaß machte. Meine stillen Sorgen in betreff des Erfolgs wußte ich gut zu verstecken, wenn ich auch manchmal schauernd an dem Eichblock vorüberging, welchen der Sägmüller als Probestück bereithielt und demgegenüber das Maschinchen aussah wie ein Zwerg.

Am Mittwoch vor acht Tagen konnten wir zum erstenmal Dampf machen. Ich übernahm das Heizen – eine Kunst, die ihre überraschenden Schwierigkeiten hat. Ganz Unterweißach rannte natürlich zusammen, als der einzige Schornstein im Umkreis von drei Meilen zu rauchen anfing. Wir jagten aber alles mit ausgesuchter Grobheit wieder zum Tempel hinaus. Der erste Versuch sollte im engsten Familienkeis stattfinden. Er verlief nicht ganz unbefriedigend. Die Maschine drehte sich wenigstens, was sie früher nicht getan hatte. Doch wuchsen meine Sorgen in betreff des Eichblocks. Wir stellten wieder ab, um eine Patentsteuerung zu entfernen, welche Kohlen zu ersparen vorgab. Mit solchen Feinheiten wollte der Eichblock jedenfalls nichts zu tun haben.

Zwei Tage später war Generalprobe. Die Maschine lief wie besessen. Ich hängte aber auch Backsteine an die Sicherheitsventile, wie dies in Amerika gebräuchlich ist. Zuerst sägten wir ein tannenes Stämmchen. Der Erfolg war über Erwarten gut. Dann kam – es war um vier Uhr abends – der Eichblock an die Reihe. Um neun Uhr war er gesägt. Mit seiner Wasserkraft hätte der Mann zwei bis drei Tage dazu gebraucht. Meine Aufgabe war gelöst. Ihr könnt Euch denken, daß ich den folgenden Morgen mit leichtem Herzen Unterweißach den Rücken kehrte, fast als hätte ich neben der gelungenen Arbeit ein gutes Werk getan. Während ich Tag für Tag über meines Sägmüllers Knirpslein stolperte, war mir die Sägmühle fast zur Herzens- und Gewissenssache geworden. Jetzt erst fühlte ich dies deutlich. Orgelpfeifenartig geordnet umstanden die Kleinen die alte Postkutsche, um »den Herrn Schenier« abfahren zu sehen. Das Kleinste heulte laut. Seinetwegen hatte ich mir die Finger zerschlagen und die Hände verbrannt. So findet das Gute manchmal schon in dieser Welt seinen Lohn.


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