Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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Einführung

Die Entwicklung der Dampfmaschine ist die Schule gewesen, in der die moderne Industrie großgewachsen ist, und der Missionar, der von ihrer Geburtsstätte ausziehend den Samen über Europa verbreitet hat, ist der englische Monteur, der bei jeder Lieferung einer Dampfmaschine vertragsmäßig mitgeschickt wird und mit seiner Maschine in den Dienst des Käufers übergeht. Der englische Monteur im »Schneider von Ulm« ist ein Beispiel.

Nirgends fiel dieser Samen auf so fruchtbaren Boden wie in Deutschland. Die theoretische Behandlung der Technik war ein spezifisch deutsches Talent, und gleichzeitig mit den neuen Maschinenfabriken, die es ihren englischen Vorbildern, wenn auch nicht so bald an Unternehmungsgeist und Kapitalkraft, so doch an Gediegenheit und Vielseitigkeit gleich und zuvortun konnten, wuchsen überall die technischen Hochschulen auf. Ihre ersten Erfolge empfindet der junge Eyth schon am eignen Leibe, und ihre vollen Triumphe beginnen sich erst in unsern Tagen zu entfalten, da die Technik sich immer mehr zur Wissenschaft verfeinert und den alten Praktikern, die sie geschaffen haben, längst entwachsen ist.

Gerade in der Zeit, in der Eyth seine Lehrjahre in den heimischen Werkstätten durchlebte, setzte eine Rückströmung ein. Es begannen aus der jungen deutschen Schule Ingenieure hervorzugehen, denen ihre gründliche wissenschaftliche Vorbildung sogar in England eine Überlegenheit sicherte, die bald gefühlt wurde und den Schrei nach systematischem Unterricht auslöste, der noch in unsern Tagen nicht ganz verstummt ist.

Eyth war einer der ersten, den die Sehnsucht, das Heimatland des Maschinenbaues kennen zu lernen, über die See trieb, und in demselben Briefe, in dem er unter dem frischen Eindruck der himmelstürmenden jungen amerikanischen Industrie das bedächtige Nachhinken der deutschen Schulweisheit hinter der schaffenden Arbeit der Angelsachsen bespöttelt, bemerkt er mit Erstaunen, daß er mit den Resten chemischer Kenntnisse, die er aus dem Kolleg daheim mitgebracht hat und längst mit anderm Schulkram in der Rumpelkammer seines Gedächtnisses begraben wähnte, unter den amerikanischen Zuckersiedern als Lehrmeister auftreten kann.

Solche halb unbewußte Wahrnehmungen sind es gewiß nicht zum kleinsten Teil, die sein eigentümliches Wesen geformt haben. Das Gefühl, trotz der praktischen Überlegenheit der ausländischen Technik, in deren Welt und Wesen er sich einzuleben hatte, doch einer höheren Kultur anzugehören, bewahrte ihn davor, wie es so vielen andern in ähnlicher Lage ergangen ist, Engländer oder Amerikaner zu werden.

So mag es gekommen sein, daß dieselben Anlagen und dieselbe Schulung, die ihm seine Erfolge als Ingenieur sicherten, ihn gleichzeitig daran gehindert haben, ein typischer großer Ingenieur zu werden.

Solange er im Dienst fremder Unternehmer stand, brachten es die Umstände mit sich, daß seine technische Arbeit der Lösung von mehr sekundären Aufgaben galt, wie sie sich jedem selbständig denkenden Ingenieur in der Praxis des Geschäftslebens beständig stellen. Obgleich die Liste seiner technischen Erfindungen und Konstruktionen, die er bei Gelegenheit seines Abschiedes von der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft selbst mitgeteilt hat, eine stattliche Reihe ausmacht, findet sich doch keine grundlegende Neuerung darunter, die seinen Namen trägt.

Als er dann mit ungebrochenem Unternehmungsmut und überreich an wertvollen Erfahrungen in die Heimat zurückkehrte, zeigte es sich, daß sein Ehrgeiz, für sich als Techniker weitere Lorbeeren zu erringen, schon gestillt war. Er ging ganz in der neuen Lebensaufgabe auf, die ihm anfangs wie eine kurze Episode erschienen war.

Und auch aus seinem Wirkungskreis in der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft sehen wir ihn freiwillig scheiden, um endlich als Dichter seine Tage zu beschließen.

Daß er seinem Vaterlande so besser gedient hat, als wenn er eine der zahlreichen glänzenden Anerbietungen angenommen hätte, die ihm bei seiner Heimkehr gemacht wurden, kann niemand bezweifeln. Aber auch die Zunft der Techniker darf ihn mit größerem Stolze zu den ihren zählen, als wenn er bloß die Zahl der bedeutenden Erfinder und Unternehmer vermehrt hätte, denn er ist ihr ein seltenes Vorbild eines Mannes, der mit gewaltiger praktischer Leistungsfähigkeit eine echte vielseitige Geistesbildung verband.

A. du Bois-Reymond.


Als wir Max Eyth im Jahre 1886 kennen lernten, lagen die Lehrjahre und die Wanderjahre, die er in diesen Briefen so unvergleichlich schildert, schon hinter ihm – er widmete sich, von Bonn aus, der Gründung seiner Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft –, die Meisterjahre hatten begonnen! Unsre Freundschaft mit ihm wurde gerade durch diese Reisebriefe angebahnt. Mein Vater, Sebastian Hensel, der sie mit Entzücken gelesen hatte, schrieb an Eyth. Eyth antwortete und besuchte uns, als er bald darauf nach Berlin kam. Daraus entwickelte sich dann allmählich eine feste Freundschaft, und in den Zeiten seiner Abwesenheit von Berlin ein regelmäßiger Briefwechsel mit meinen Eltern und später mit mir.

Es war für unsre Freundschaft vom größten Wert, daß wir Eyth durch diese wundervollen Briefe an die Seinigen schon einigermaßen kennen gelernt hatten, ehe der persönliche Verkehr begann, denn er gab sich schwer, so offen, so unbefangen heiter er aus der Fülle des Erlebten mitzuteilen schien. Es war einer seiner Glaubenssätze, über den wir in späteren Jahren oft, scherzhaft und ernsthaft, gestritten haben, daß leichter fremde Nationen einander nahekommen, miteinander vertraut werden könnten, als Norddeutsche und Süddeutsche. Und das Schwabentum war in ihm bei all seinen Wanderungen auf beiden Halbkugeln (für die er Gott zu danken pflegte) ganz unvermischt geblieben, und diese starke Lokalfarbe des vielgereisten und weltgewandten Mannes bildete einen der merkwürdigsten Gegensätze, in denen ich immer den großen Reiz seiner Persönlichkeit und eines der Hauptgeheimnisse seiner ungewöhnlichen Erfolge gesehen habe!

Wer noch das Glück gehabt hat, ihn zu kennen, wird mir darin recht geben, die Freunde, die seine Bücher ihm erworben haben, werden, was ich meine, auf jeder Seite der vorliegenden Briefbände bestätigt finden: das schwäbische Gemüt und die englische Zähigkeit, die deutsche Poesie und die englische Energie und Geschäftsklugheit, das warme Herz und der kühle Kopf, der Wahlspruch des Mannes: »Dem Phlegma gehört die Welt«, und der Lieblingsvers desselben Mannes – schon als er ein sanftes Büblein von drei Jahren und zwei Fuß zwei Zoll Größe war: »Und wenn die Welt voll Teufel wär!« – die tiefe Religiosität, der rastlose Tatendrang – und der Hang zu träumerischer Mystik, zu buddhistischer Weltflucht – und besonders: die schwieligen Hände des Technikers und der Schulsack des schwäbischen Humanistensohnes!

Dieser letzte Gegensatz scheint mir der merkwürdigste und wichtigste, und hätte Eyth das im Grunde nicht selber geahnt, seine Ausfälle auf die humanistische Bildung würden wohl kaum so zahlreich und herzhaft sein. Durch die buntwechselnden Bilder dieser Briefbände hindurch habe ich mit Rührung und Behagen diese widerspruchsvolle Harmonie seines Wesens verfolgt. Gleich sein erstes technisches Abenteuer in der Sägemühle zeigt das warme Herz, was dem kühlen Kopf die Arbeit diktiert, »weil der Sägemüller mit seiner Frau und vier netten Kinderlein bankrott geworden wäre, wenn die Maschine hätte aufgegeben werden müssen, war ihm die Sägemühle fast zur Herzenssache und Gewissenssache geworden, und er hatte seine Finger verklopft und verhämmert, hauptsächlich deshalb«. –

Und bei dem zweiten Abenteuer, da der junge Kesselschmied, unter seinen rinnenden Kesseln liegend, an Schillers Flucht denkt, zwischen den mathematischen Berechnungen Scharaden reimt, außer den Kesseln Verse schmiedet – wie deutsch ist dieser junge Mann, der seinen Landsleuten ihr Träumen und Dichten gar nicht streng genug vorhalten kann! Bald kommt er dann nach England mit der Losung, die ihn nie im Stich läßt: kühl! Wirklich bewunderungswürdig ist die kühle Ruhe, mit der der Fünfundzwanzigjährige die – wie es zuerst scheint – aussichtslose Stellungsjagd in diesem überwältigend großartigen, lärmenden, atemlosen, neuen Leben betreibt, mit der zähen Ausdauer und leidenschaftslosen Energie, die ihm gleich an den Engländern so imponieren; aber so oft er einen Knopf an seine Hosennaht und auf dem Knopfschächtelchen liest: »Zwinksche Apotheke in Göppingen, Herrn Pastor C.s Söhnle, täglich zwei Eßlöffel voll!« schlürft er »Ludwig Richtersche Bilder von Ruhe, Gemütlichkeit und lieblichem Kindergeschrei – unklugerweise täglich zwei Löffel voll!«

Aber das ist es eben – schon der junge Mensch versteht sich darauf, die Dinge auseinanderzuhalten und richtig zu bewerten. Das »Jedes zu seiner Zeit« ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Wenn er, während der Londoner Ausstellung, einen impertinenten Artikel in der »Times« findet, in dem die Freude der Deutschen an Spielsachen lächerlich gemacht wird, so eilt er zu seinen Landsleuten und liest den würdigen Herren, die durch das andachtsvolle Spielen mit einer aufgezogenen Maus den Spott hervorgerufen haben, den Artikel vor.

Von derselben Ausstellung schreibt er: »Die Abende und Nächte brachte ich mit Fowler und andern großen englischen Ingenieuren zu und lernte dabei in der Tat vieles, was man in Büchern und Studierstuben nicht lernt. Bei solchen Leuten wird einem der Unterschied zwischen dem deutschen Dichten und Trachten, zwischen Beobachten und Handeln, zwischen Vergangenheit und Zukunft fast etwas unangenehm klar. Ich gebe mir alle Mühe, mich von dem urdeutschen Fehler, das Fremde mit günstigen Augen zu betrachten, möglichst freizumachen. Aber wo finden wir einen Maßstab, um derartige Vergleiche unparteiisch zu halten? Keine plastischere Illustration kann ich mir denken als den Fowlerschen Stand in der Weltausstellung. Hier steht die wuchtige Maschine und die wunderlichen Werkzeuge, die jetzt schon Hunderten ihr Brot verschaffen und Tausenden in allen Weltteilen dienen werden, das Produkt einer energischen Jugendkraft – im Grunde eines Lebens; auf dem Ehrenplatz des Standes steht auch das Produkt eines Lebens, eines jahrelangen gründlichen Studiums; hier stehen die Pflüge und wundersamen Geräte, die teilweise vor tausend und zweitausend Jahren schon vergessen waren. Und es ist immer das erste Zeichen, woran ich den Deutschen von einem Engländer unterscheide: der eine bleibt vor der Sammlung stehen und betrachtet Stück für Stück, wie's die Väter gemacht, der andre mustert die Maschinen, mit denen wir und unsre Enkel arbeiten werden!« Und keine bessere Illustration zu der glücklichen Mischung deutscher und englischer Vorzüge konnte es geben, als daß dieser begeisterte Ingenieur Fowlers doch so viel deutsches Verständnis für die historische Pflugmodellsammlung des Hohenheimer Professors hatte, daß er im Schweiße seines Angesichts gearbeitet hatte, um ihr einen würdigen Platz auf der Ausstellung zu sichern.

Und nun geht es in die Welt hinaus, die schon des kleinen Knaben heimliche Sehnsucht gewesen war, zu der Zeit, da er die Ränder seiner Schulhefte durch seltsame Figuren entweihte, in denen der entrüstete Lehrer nicht die uralte Rätselbildung der Sphinx erkannte – nun geht es nach Ägypten!

Sein Motto »kühl« läßt ihn fast auch im Stich bei dem Auf und Ab der ersten Verhandlungen, während deren er sich wieder und wieder bereithalten darf, sofort nach Ägypten oder Indien abzureisen, um dann doch wieder in Leeds bleiben zu müssen. Endlich aber wird es ernst, und er fährt »an der Küste Griechenlands hinunter. Alles, vom Schäferleben Arkadiens bis zur Schlacht von Navarin herab, voll gewaltiger Erinnerungen, mit denen man die deutsche Jugend großsäugt, oder kleinsäugt? Ich weiß es nicht; – und alles tot!« so schreibt er wenigstens – aber waren ihm diese Erinnerungen tot?

Nur wenige Tage später heißt es: »Wie soll ich Euch auf einem Blättchen Postpapier auseinandersetzen, was ich seitdem gesehen, gehört, gefühlt und geschmeckt habe – vom rauhen und realen Meißelschlag am zerbrochenen Dampfpflug bis zu dem einsamen Träumen im Schatten des Obelisken von Heliopolis, vom widerlichen Intrigieren in dem Hofstädtchen eines Paschas bis zu dem ergreifenden Beten eines Arabers in der öden, unabsehbaren Wüste?« – Wie bezeichnend ist diese Gegenüberstellung.

Nur wenige Wochen später heißt es zwar wieder: »Hätt' ich was Rechtes gelernt! Warum jagt ihr, ihr Mütter, Großmütter und Tanten Deutschlands den strebsamen Sprößling der Familie mit einem kränkenden ›Küchenmichel‹ aus der Küche hinaus, so oft er instinktmäßig die Bedeutung eures Berufes anerkennt? Eine Stunde in der Küche ist nützlicher als zehn im Cornelius Nepos. Und warum brandmarkt man das Wichsen eines Stiefels mit Verachtung? Es kann unter Umständen schwerer ins Gewicht fallen als der schönste Hexameter.« –

Aber würden Eyths Briefe, und gar erst seine Bücher, wohl diesen großen, ganz eigentümlichen Reiz haben, wenn er Kochen und Stiefelwichsen ohne Hexameter und Cornelius Nepos betrieben hätte? »Die heutige Menschheit würde in einen bodenlosen Abgrund versinken, wenn die Jugend auf dem Wege zum Jahrmarkt des Lebens nicht den stillen Tempel des erhabenen klassischen Altertums durchschritte,« sagt Jean Paul (Levana), und man möchte dieses schöne Wort heute tiefer hängen! Heute, da der Jahrmarktsstandpunkt und -maßstab so verbreitet ist, daß man immer wieder die Frage hören muß, was denn das humanistische Studium den jungen Leuten für ihr späteres Leben nutze! Eyths Leben und Eyths Werke sind die beste Antwort auf diese banausische Frage – um so überzeugender, weil er selbst so wenig überzeugt ist oder scheint, weil er, wie gesagt, jede Gelegenheit ergreift zu scherzhaften oder ernsthaften Ausfällen auf die philologische Umgebung und Anschauungsweise, aus der er hervorgegangen ist, auf deren Grunde er aber viel fester wurzelt, als er selber ahnt, wenn er zum Beispiel schreibt: »Wie himmelweit fühle ich mich von der Welt entfernt, in der ich doch eigentlich geboren bin, wie unbegreiflich wird mir's allmählich, was bei Euch Geist und Gedanken bewegt, Kraft und Leben verzehrt! Eine Charakterschilderung Agamemnons! Ich verstehe, wie man über den historischen Wallenstein, über Nero und Themistokles Bücher schreiben kann, über Agamemnon, über den Mythus, das Gedicht eines längst vergessenen Jahrtausends – nein! Warum nicht Erbsen durch ein Nadelöhr werfen?« Was er verurteilt, ist nicht die Methode, sondern ihre Auswüchse. Klarer geht das aus einem andern Briefe hervor, in dem er schreibt: »Es ärgert mich immer, daß so wenige unsrer deutschen Gelehrten imstande sind, solche Bücher (Tyndalls Fragmente) zu schreiben, daß sie nicht von ihren Kathedern herunter wollen, daß sie nicht merken, wie langweilig sie da droben, in ihrer bornierten Unfehlbarkeit, erscheinen. Es ist das Dozieren und Dozierenwollen, was das Volk an Leib und Seele ruiniert und was ihnen den Stil und Stoff verdirbt. Denn uns, die wir unten stehen, fehlt der Glaube.«

Tyndall zeigt uns auf jeder Seite, nicht wie er lehrt, sondern wie er lernt; nicht bloß die glänzenden Resultate seiner oder fremder Arbeit, sondern auch die hundert unüberwundenen Schwierigkeiten, die den Weg der Wissenschaft im Labyrinth der Natur umlagern, und schämt sich nicht, die Grenzen – nicht des menschlichen (denn wer weiß, wo diese in 3000 Jahren sind), sondern des Tyndallschen Begreifens zu zeigen, wo immer er ihnen begegnet! Gerade das ist es nun, was Eyths erste literarische Versuche auszeichnet. Er zeigt uns – in einem hübschen novellistischen Rahmen – die Resultate seiner eignen und fremden Arbeit auf technischem Gebiet, und macht zugleich auch dem Laien klar, wo die Schwierigkeiten liegen, die zu überwinden waren.

Er hat damit ein für Deutschland noch fast ganz brachliegendes Feld seiner literarischen Pflügerarbeit erschlossen; mir wenigstens sind, außer den sehr viel unbedeutenderen Skizzen von Max Maria Weber (Vom rollenden Flügelrade, Schauen und Schaffen) keine ähnlichen Bücher wie Eyths »Hinter Pflug und Schraubstock« bekannt geworden.

Über seinen Roman: »Der Kampf um die Cheopspyramide« haben wir viel korrespondiert, und ich habe die meisten seiner Briefe, die sich darauf beziehen, hier veröffentlicht, weil sie einen hübschen Einblick geben in seine Art zu arbeiten: die erstaunliche, methodische Gewissenhaftigkeit, mit der jedes, auch das scheinbar unbedeutendste Detail ergründet wurde!

Es existieren dicke Aktenstücke über jedes seiner Bücher. Das zum »Schneider von Ulm« beginnt mit einem genauen Journal, was der damals fast siebzigjährige Geheime Hofrat über seine Lehrzeit bei dem würdigen Ulmer Schneidermeister geführt hat. Jeder Stich, den er gelernt hat, ist zierlich darin aufgezeichnet und beschrieben, die Gespräche der Mitgesellen notiert. Als ich ihn das letztemal in Ulm besuchte, zeigte er mir, nicht ohne eine kleine, berechtigte Eitelkeit, das Probetuch, auf dem er die verschiedenen Stiche, Knopflöcher und so weiter geübt hatte.

Er arbeitete eben nicht wie der Deutsche in dem bekannten Vergleich, der sich das Kamel aus der Tiefe der sittlichen Anschauung konstruiert, sondern wie der Engländer, die in die Wüste geht und das Kamel dort zeichnet.

Einen andern der vielen Widersprüche, die Eyths so harmonisches Wesen bildeten, kann man in den Briefen über die Cheopspyramide und vielen andern finden. Eyth, der einen so stark entwickelten Familiensinn hatte, der alle eignen Lebens- und Reisepläne aufgab, um bei seiner alten Mutter zu bleiben, der überall an fremdem Familienleben gemütlichen und verständnisvollen Anteil nahm, der eigentlich kein Weihnachtsfest vorübergehen läßt ohne einen Anflug von deutscher Sentimentalität, den er unter allerlei Masken, doch gar nicht verbergen kann. Eyth konnte Ausfälle auf Liebe und Ehe ebensowenig unterdrücken wie solche auf humanistische Bildung und Philologie, und aus demselben Grunde, wie mir scheint!

Fast spaßhaft wirkt ja seine Entrüstung über die unschuldigen Liebespaare, die ihm selber in das weit gespannte Garn seiner Pyramidengeschichte gelaufen sind – wie es scheint, gegen seinen Willen!

Und – um mit einem letzten Widerspruch zu schließen – Eyth, der friedlichste Mensch, in seinem persönlichen Leben, der Hunderte von Freunden gehabt hat und gewiß keinen Feind, war der überzeugteste Kriegsgläubige, der mir je begegnet ist! Es stand für ihn unumstößlich fest, daß die Menschheit ohne Kriege nicht leben könnte, noch sollte, noch jemals würde, und er pflegte meine entgegengesetzte Ansicht sehr anmutig ins Lächerliche zu ziehen, meistens in Briefen an unsern jüngsten Sohn, seinen Paten, von denen ich einige folgen lasse, weil sie Eyth von einer besonders liebenswürdigen Seite zeigen.

Denn das ist, was ich möchte: Max Eyth hat vielen so viel gegeben. Seinem Vaterland, an dem er mit starker Treue hing, hat er durch die Gründung der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft ein wirklich wertvolles Geschenk geben dürfen. Den deutschen Landwirten hat er gezeigt, was man aus eigner Kraft, ohne Staatshilfe erreichen kann. Hunderten, Tausenden haben seine Bücher Freude und Belehrung gebracht – hier möchte ich ihn nun, im persönlichen Verkehr mit nahen Freunden, von Seiten zeigen, die nicht viele gekannt haben, aber von vielen gekannt zu werden verdienen.

Als ich, am Morgen nach seinem Begräbnis, durch das sonnenbeglänzte schöne Schwabenland fuhr, das einer reichen Ernte entgegenreifte, als ich überall die Schnitter an der Arbeit sah und die Obstbäume in den goldenen Feldern ihre schwerbeladenen Äste niederbeugten, da mußte meine tiefe Trauer um den Tod des Freundes dem Gefühl ebenso tiefen Dankes weichen für die reiche Ernte dieses Lebens! Wo immer er ins volle Menschenleben hineingegriffen hatte, da hatte er die reifen Früchte gebrochen und die vollen Garben gebunden. Und sein Vermächtnis an uns andre, die wir noch weiter im Lichte dieser goldenen Sommersonne wirken durften, schien mir in Goethes Worten zu liegen, wie auch in der wunderbaren Übersetzung, die Carlyle für sie gefunden hat: Wir heißen euch hoffen – und work and despair not!

Potsdam, Herbst 1909.

Lili du Bois-Reymond.



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