Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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105.

Philadelphia, den 4. Mai 1867.

Mein Aufenthalt in Buffalo war vom ersten bis zum letzten Tag harte Arbeit, doch ist sie, wenn nicht alles trügt, nicht ins Wasser gefallen.

Ohne eine kurze Einleitung kommen wir jedoch nicht mehr weiter. Laßt mich ein kleines Geschäftsbild photographieren. Bitte, jetzt recht freundlich!

Die Bewegung von Waren auf Flüssen und Kanälen ist trotz der Eisenbahnen noch immer die billigste und der Masse nach eine ungeheure. Auf großen Flüssen ist die bewegende Kraft längst der Dampf geworden, auf kleinen jedoch und vor allem auf Kanälen sind es bis heute noch Maultiere und Pferde, von Heilbronn am Neckar bis Chikago am Illinoiskanal. Ursache: die einzige Form, worin Dampf bis jetzt auf dem Wasser angewendet wurde – in Schrauben- und Raddampfern –, ist in seichten Flüssen und engen Kanälen teurer als Pferdekraft und nicht unter allen Umständen technisch anwendbar.

In Amerika ist der Verkehr zwischen dem Westen, der seine unübersehbaren Massen von Naturprodukten zu verkaufen und dagegen sämtliche Erzeugnisse der Industrie zu kaufen hat, und dem Osten, welcher sich in der umgekehrten Lage befindet, ein riesiger. Die Anzahl und Länge der Kanäle von Westen nach Osten mit ihren Zweigen gegen Süden und Norden, das Pulsieren in diesen Adern des Weltteils läßt sich mit unsern kleinen Verhältnissen in Europa gar nicht vergleichen. Millionen Tonnen schwimmen jeden Sommer vom Erie nach Neuyork, vom Michigan nach dem Mississippi. Tausende und aber Tausende von Barken und Booten rüsten sich in diesem Augenblick zur Arbeit, die sieben Monate lang weder durch Sonn- noch Feiertage, Sturm oder Regen, Tag oder Nacht unterbrochen wird. Hunderttausende von Pferden schleppen diese Boote den mühseligen Leinpfaden entlang und erliegen tausendweise der harten Arbeit.

Es ist deshalb nicht zu verwundern, daß die schlauen Yankees ihren Scharfsinn und Geldbeutel schon vielfach angestrengt haben, um sich den Dampf auch auf ihren Kanälen dienstbar zu machen. Die wunderlichen Pläne und Versuche, die unter diesen Verhältnissen ausgeheckt wurden, sind ein Beweis, von welcher Bedeutung die Sache ist.

Unter denselben erreichte in Europa nur die Kettenschiffahrt eine gewisse, bis heute noch immer fragliche Bedeutung und kämpft mit technischen Schwierigkeiten mannigfachster Art. Vor einigen Jahren brachte sodann ein Franzose namens Bouquié einen vielversprechenden Gedanken zur Ausführung, indem er die Kettentrommeln auf dem Schlepper durch ein Kettenrad ersetzte. Beiden Systemen gemeinsam ist die durch die ganze Kanallänge liegende Kette, an der sich das Schiff fortzieht.

Mein vielerwähnter Freund, Baron de Mesnil, ein blonder, aristokratischer Belgier, lernte Bouquié in Paris kennen und begeisterte sich für die Einführung seines Systems. Sein Landsmann Baron van Havre, ein guter, runder Flame, schwarzhaarig, soweit er noch Haare hat, die ihm, wie er behauptet, infolge dieser Angelegenheit ausgefallen sind, lebens- und liebeslustig, erregbar wie de Mesnil, ist sein Teilhaber, Leidens- und Freudengefährte. Beide sind von Handwerk weder Techniker noch Geschäftsleute, sondern Diplomaten bei der belgischen Gesandtschaft in Washington; beide haben die Welt gesehen und genossen von San Franzisko bis Teheran, van Havre hatte zu Paris in einem Buche die Notiz gefunden, daß der Eriekanal einen Verkehr von jährlich drei Millionen Tonnen habe, worauf sich beide nach Washington versetzen ließen.

Mittlerweile hatte de Mesnil mit Bouquié Streit bekommen. In dem Drange, sich von dessen Patenten loszumachen, kam er auf unser clip-drum, die eigentümliche, von Burton erfundene Klappentrommel, womit noch vor kurzem beim Dampfpflügen das Seil in Bewegung gesetzt wurde. In Leeds wurde, wie Ihr wißt, die Sache mir übergeben, und so kam die Tauerei, das Schleppen von Schiffen an einem ruhenden Drahtseil, zur Welt.

Nach den Versuchen auf dem Eriekanal im vergangenen Dezember, die in Eis und Schnee ihr Ende fanden, war de Mesnil nach Europa zurückgekehrt, wo er sich noch heute befindet, van Havre schickte mir vor drei Wochen ein Telegramm nach St. Louis, in dem er mich dringend bat, in Buffalo die Sache wieder aufzunehmen. Dort erwarte er mich »avec impatience«.

So kam ich von Chikago wieder nach Buffalo; van Havre war jedoch nicht zu finden. Er lag unwohl in Washington. Zum Glück war er auch nicht nötig. Die Maschinen mußten vorerst wieder instand gesetzt werden. Vor allem war das Drahtseil, das wir im Kanal hatten liegen lassen, während des Winters von einem Schraubendampfer erfaßt, eine Viertelmeile weggeschleppt und dann zerrissen worden. Man mußte es auffischen, flicken und wieder legen. Auch brauchte ich Zeit zu gewissen Änderungen der die Klappentrommel in Tätigkeit setzenden Maschinenteile, die ich in einer Buffaloer Fabrik ausführen ließ.

Nach einigen Tagen erschien van Havre. Seine Ungeduld war keine Phrase und ließ mir keine Ruhe. Ehe die erwähnten Änderungen, sogenannte Preßrollen, die das Seil zwischen die Klappen der Trommel drücken, um sein Gleiten zu verhindern, angebracht werden konnten, mußte ein Versuch ohne dieselben gemacht werden. Das Schiff bewegte sich, aber das Seil glitt, van Havre war untröstlich. Die Sache, an der sein Herz hing, schien verloren. Dann verschafften mir drei Schneesturmtage die Zeit, das unumgänglich Notwendige zu tun. Wie oft er mich während dieser drei Tage fragte, ob ich denke – ob ich gewiß glaube – ob ich überzeugt sei – ob ich wenigstens hoffe – ob ich's für wahrscheinlich halte und für wie wahrscheinlich, daß meine Rollen dem Jammer abhelfen würden, bin ich nicht zu zählen imstande. Ein stoisches Schweigen war meine Antwort. Die Tatsache war, ich wußte es selbst nicht. Versuche brauchte man ja nicht zu machen, wenn man wüßte, was sie ergeben.

Schließlich waren die Rollen fertig, van Havre aber auch in fieberhafter Aufregung. Ich habe unter ähnlichen Umständen schon zu oft den Anlaßschieber einer Maschine geöffnet, um es nicht auch diesmal mit der Ruhe eines Fatalisten zu tun. Die ersten schweren, keuchenden Stöße des Dampfes sagten mir alles. Die Klappen faßten das Seil mit eisernem Griff; langsam setzte sich das schwerbeladene Schiff in Bewegung, rascher und leichter dampfte die Maschine, und jetzt schossen wir mühelos dem Strom entgegen, durch schwimmende Eisfelder brechend, unter der ersten Brücke durch.

Der Erfolg war glänzend, van Havre wartete nicht, bis wir am Ende unsrer Meile angelangt waren. Er stürzte ans Ufer, um die Telegraphen der halben Welt, den atlantischen nicht ausgenommen, in Bewegung zu setzen. Abends wurde wie billig etwas Sekt getrunken, und dann in Buffalo, Neuyork, Philadelphia, Washington und Pittsburg Zeitungssturm geläutet.

Darauf folgte nach mehrtägigem allseitigem Beglückwünschen der gewöhnliche Rückschlag der öffentlichen Meinung – der ewige Kampf, den alles Neue mit dem Alten zu kämpfen hat. Der Eriekanal gehört dem Staat. Die Erlaubnis, ein Drahtseil in den Kanal zu legen, hat von einer Körperschaft, den Kanalkommissären, erteilt und von der Abgeordnetenkammer des Staats bestätigt zu werden. Das Seil hindert niemand, aber die Erlaubnis ist natürlich für den, der sie bekommt, goldeswert.

Es braucht nun nicht verschwiegen zu werden, denn es ist weltbekannt, daß in Amerika das Beste wie das Schlechteste um Geld zu haben ist. »Business, Sir!« In Deutschland würde man unverblümt von Bestechung sprechen, »denn die deutsche Sprak ist eine grobe Sprak«, wie schon Lessing bemerkte, der sie leidlich verstand. Und so wurde denn allabendlich Kriegsrat gehalten. Die große Frage war vor allem diese: Wen? Und dabei handelte es sich einzig um hochgestellte, verantwortliche Beamte des Staats, von denen nichts verlangt wurde, als ihre Pflicht zu tun! Wen also? Mit wieviel? Wie?

Van Havre, der mit der Türe zum Hause hineinfällt, wo es irgend angeht, eine Politik, die in Amerika die erfolgreichste ist, machte schließlich den Zweifeln ein Ende, indem er zu Alberger, dem in Buffalo wohnenden Kanalkommissär, ging und also sprach: »Sie sind ein ehrlicher Mann – gegenseitiges Lächeln –, aber Ihre Kollegen sind ohne Zweifel Spitzbuben! Dies ist in der Tat weltbekannt. Sie, Herr Alberger, sind uns freundlich entgegengekommen. Unsre Schleppgeschichte ist vermutlich von unberechenbarem Nutzen für den allgemeinen Verkehr. Wenn sie je mißlänge, so schaden wir niemand als uns selbst. Sie würden uns deshalb die Konzession ohne weiteres geben. Ihre Kollegen aber nach ihrer Art. Als Fremde wissen wir nun in der Tat nicht, wen wir zu schmieren haben und wieviel Öl dazu nötig ist. Tun Sie uns den Gefallen, die Sache in die Hand zu nehmen! Nennen Sie die Summe, die Sie für genügend halten, und wir stellen Ihnen dieselbe morgen zur Verfügung!« – Glaubt Ihr nun, Herr Alberger habe unsern Herrn van Havre die Treppe hinuntergeworfen, wo sie am steilsten ist? Mit nichten. In aller Ruhe und mit stehendem Lächeln, dem sichern Zeichen des Verstandenseins, wurde tagelang hin und her verhandelt. Alberger bleibt unser Freund und Berater, die Konzession ist soviel als gesichert. Das ist die Art, wie man in einer Republik regiert und regiert wird!


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