Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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95.

Neuyork, den 25. November 1866.

So haben wir's endlich dahin gebracht, daß ein Weltmeer zwischen uns flutet! Mehr Wasser, als ich erwartete, manchmal eine heillose Zugluft, Regen und Kälte und eine Reihe andrer Annehmlichkeiten, die mich wehmütig an das sonnige Mittelmeer erinnerten, auf dem ich ein so ausgezeichneter Matrose geworden zu sein glaubte. Kein Blütengarten wie Korfu, kein träumerisches Ithaka, keine Pinien, keine Tempel – Wasser, Wasser, wogend und rauschend, verdampfend und in kalten Schauern zurücksinkend, ohne Vergangenheit und Zukunft, heute wie gestern das einförmige, bewußtlose Walten der Elemente des Chaos soweit das Auge reicht in Zeit und Raum!

Meine gereizte Stimmung gegen den hochgepriesenen, vielbesungenen Ozean wird sich wieder geben, ist aber zurzeit berechtigt. Wenn mich einer vierzehn Tage lang schüttelt und schaukelt, mit Salz anspritzt und mit Wasser übergießt, mir jede unschuldige Lebensfreude verdirbt und die nötigsten Existenzmittel entzieht, nachdem ich sie schon im Magen habe – kann der erwarten, daß ich ihm noch eine Lobrede halte?

Der 9. November, mein letzter Tag in London, wurde mir nicht schwer. Gegen zehn Uhr befand ich mich in Nebel und Nacht auf dem Wege nach Liverpool. Es war kalt, und die Welt sah melancholisch genug drein. Ein französischer Flüchtling, der sich seit dem Staatsstreich in der Welt herumtreibt, teilte mit mir den Wagen und hatte eine lebendige Katze unter dem Überzieher, an welcher sein Herz hing. »Der Mensch muaß a Freud' han!« Ich dachte an die Zeit vor vier Jahren, als ich in einer ähnlichen Nacht von Leeds aus meine indischägyptische Reise antrat. Damals ging ich mit weniger Entschlossenheit, weniger Mut und Zuversicht und einem schweren Herzen. Der liebe Gott war in Ägypten wie in England. Er wird wohl auch in Amerika sein. Aber eine Katze sollte ich das nächstemal doch auch mitnehmen! Das fehlt mir.

Ankunft in Liverpool morgens früh um drei Uhr. Um acht Uhr aufs Boot, das rauchend im undurchdringlichen Nebel der Mersey begraben lag.

Die »Afrika« ist ein altes, schwerfälliges Schiff der Cunardlinie, für dreihundert Passagiere. Ich bekam meine Kajüte, die für zwei berechnet ist, allein. Auf dem Deck ist ein eleganter Salon, worin fünfmal des Tags gegessen wird, auch ein Rauchzimmer. Das flache Dach des Salons ist der gewöhnliche Aufenthalt der Reisenden erster Klasse, die sich gerne in der ruhigeren Mitte des Schiffs um den gewaltigen Rauchfang gruppieren und daselbst alle Stadien der Seekrankheit, von dem sauersüßen schlechten Witz über des Nächsten Leiden bis zur eignen Verzweiflung an Gott und Welt, zur Darstellung bringen.

Um neun Uhr wurden die Anker gelichtet, und auch der Nebel lichtete sich, während wir gegen Mittag an der schönen Küste von Nordwales hinfuhren, wo mich meine alten Bekannten, Conway, der Snowdon und Penmeanmawr, begrüßten. Gegen Abend fegte ein lebhafter Südwest zunächst die Damen vom Deck. Holyhead gegenüber wurde der Wind zum Sturme, so daß es unmöglich war, den Liverpooler Lotsen, der gewöhnlich hier das Schiff verläßt, ans Land zu setzen. Um neun Uhr war alles Sterbliche todkrank. Die Wogen brachen sich über den Radkästen, der Schornstein war bis zum Gipfel mit Salz überzogen, und auf dem Deck rollte das Wasser knietief hin und her. Beim Nachtessen flogen Rostbeef, Flaschen und Teller auf den Boden, und man hatte ordentlich Mühe, zu zielen, wenn man glücklich durch eine Türe kommen wollte. Der Morgen war naß und stürmisch, wenn auch etwas besser als die Nacht, wie ich mir sagen ließ; denn ich lag, mit Händen und Füßen mich anklammernd, im Bett. Damit waren die Freuden des Ozeans würdig eingeleitet. Während der nächsten Tage beschränkte ich mich darauf, die Seekrankheit zu studieren, wozu mir die stöhnende und krächzende Stille meiner Kajüte reichlich Gelegenheit bot.

Die fühlbaren Bewegungen des Schiffs, wenn man am zweiten oder dritten Tag das philosophische Gleichgewicht so weit wiedergefunden hat, um beobachten zu können, und halb verhungert, doch unfähig zu essen, in dem nicht gemachten Bette diagonal ausgestreckt daliegt, die Füße gegen das eine, den schmerzenden Kopf gegen das andre Längenbrett der Karthäuser Bettstätte gepreßt – diese Bewegungen sind wesentlich drei. Die erste ist das Aufundabgehen, das sogenannte Stampfen des Schiffes, das dich alle vier bis sechs Sekunden mit leiser Gewalt, deren Sanftmut wütend macht, eine unbestimmte Anzahl von Metern hinauf und hinunter wiegt. Manchmal schätzest du die Bewegung auf zwölf Meter, manchmal nur auf zwei, immer aber ist sie um einen Meter größer oder kleiner, als du erwartet hast, und diese getäuschte Hoffnung ist eine der Hauptqualen der Seekrankheit. Unabhängig hiervon ist eine schaukelnde Bewegung um die Längenachse des Schiffs, das sogenannte Rollen, das mit derselben sanften Gewalt deinen hülflosen Leib von der einen auf die andre Seite und dann wieder zurückzuwälzen sucht. Die erste dieser zwei Bewegungsarten ist im allgemeinen vorherrschend, doch manchmal wird es auch die zweite, und häufig vereinigen sich beide zu einem nur dem höchsten stereometrischen Gefühlssinn verständlichen Zwilling, wie folgt: auf, mit einer Drehung nach dem linken Ohr – ab, mit der Drehung nach rechts – auf, links – ab, rechts – auf, links – ab, rechts – wobei man die Empfindung hat, durch den Urbrei des Weltalls geschraubt zu werden. Die dritte Bewegung ist ein fortwährendes nervöses Zucken in der Längenrichtung des Schiffs und wird durch die Gewalt der Maschine und der Segel, die den ganzen Bau durchzittert, hervorgerufen. Diese, obgleich im Getäfel der Kajüten und Gebälke des Schiffs überall und fortwährend hörbar, ist doch die harmloseste der drei Wasserfurien. Sie macht den Eindruck, wie wenn sich unter dem Bett ein großer Hund, den die Flöhe wahnsinnig gemacht haben, unablässig kratzte.

Was aber krank macht, ist etwas ganz andres. Es ist das Trägheitsmoment, das Gesetz, wonach ein Körper die ihm mitgeteilte Bewegung beizubehalten sucht, bis andre Ursachen ihn in Ruhe oder in eine veränderte Bewegung versetzen. Du legst deinen müden Kopf aufs Kissen. Das Kissen mit dem ganzen Schiff hebt sich – sanft, langsam, unwiderstehlich; du fühlst den erhöhten Druck von unten und ergibst dich in die Auffahrt. In der Mitte geht es rascher, mit einem phantastischen Schwung. Schiff, Kissen und Kopf sind in gleichförmiger, gewaltiger Bewegung. Plötzlich fühlst du den Druck zwischen Kissen und Kopf geringer werden. Noch scheint der Kopf aufwärts zu fliegen; Kissen aber und Schiff sind bereits auf dem Rückweg – sanft, fast unmerklich, und doch ist dir's, als komme der Kopf, der nur noch federleicht das Kissen berührt, fast nimmer nach in dem gewaltigen Schwung nach unten. Ab – ab – bis plötzlich (und dieses Gefühl unbewußter physischer Überraschung muß erlebt sein, um es zu verstehen) das Kissen dem Kopfe entgegenkommt und ein mächtiger, unwiderstehlicher Druck von unten die Aufwärtsbewegung wieder einleitet. Was nun zwischen Kopf und Kissen vorgeht, geht selbstverständlich auch zwischen dem übrigen Körper und der Matratze, und in umgekehrtem Verhältnis zwischen Körper und Decke vor, die beim Aufschwung schwer, beim Abschwung desto leichter über dir liegt. Doch nicht genug. Bald beginnt auch im Innern des Körpers das dämonische Atemholen wachgewordener Kräfte. Du spürst dein Gehirn als etwas Getrenntes von dir gegen die obere und untere Schädelwandung abwechselnd andrücken. Auch dein Magen, den du bis jetzt vielleicht nur dem Namen nach gekannt, wird ein zweites Ich und hebt und senkt sich innerlich in dem wechselnden, unberechenbaren Takt, den Schiff, Kissen, Kopf und Gehirn einhalten. Du hast dich vielleicht fünfmal erbrochen; sonst würdest du im Magen die letzte Bouillon ganz sicher als ein drittes Ich empfinden, das zwischen den Magenhäuten genau dieselben sanftgewaltigen, auf und ab atmenden Bewegungen macht wie der Magen in dir und du im Bett, und das Bett in der Kajüte und die Kajüte im Schiff – alle im Takt, nur jedes um den Bruchteil einer Sekunde hinter dem andern drein. Und alles um dich her nimmt an dem grausamen Spiel teil, bis auf das Handtuch, das in langsamen Schwingungen dir gegenüber am Nagel baumelt.

Selbst das Geheimnis der Prädestination spielt mit. Es gibt Landratten, die ungestraft den Atlantischen Ozean kreuzen, aber auch alte, wettergebräunte Matrosen, die noch immer krank werden. Es gibt Schwächlinge, die wochenlang sich lächelnd schaukeln lassen, und starke Männer, die in sechs Stunden unter entsetzlichen Qualen den Geist und die letzte Spur des gestrigen Frühstücks aufzugeben bereit sind. Ich schäme mich nicht, zu gestehen, daß ich das Schicksal der erwähnten Matrosen und starken Männer heldenmütig teilte.

Die Schiffsgesellschaft bestand fast ausschließlich aus Amerikanern, die sich den Sommer über in Europa herumgetrieben hatten, um mit der Überzeugung zurückzukehren, mit der sie gekommen waren: daß die United States der absolute Superlativ von allem Denkbaren seien. »The greatest country – the finest cities – the best citiziens – the strongest army – the richest people of the world.« Doch waren die Leute höflich, mitteilsam und ließen mit der größten Gutherzigkeit ihre politischen und sozialen Glaubensartikel anzweifeln und angreifen. Näheren Anschluß verhinderte der grämliche Neptun. Das Wetter blieb trüb und kalt, der Wind fortwährend Südwest und West, so daß wir erst am elften Tag unter strömendem Regen in den Hafen von Halifax einfuhren, wobei unser Dampfer mit einem Zweimaster in Kollision geriet, dem er den halben Bugspriet wegriß. Die Lage des Hafens mag bei schönem Wetter hübsch sein, aber nicht zu vergleichen mit dem von Boston, das trotz des Schneegestöbers, welches uns empfing, ahnen ließ, was es an einem schönen Sommertag zu bieten vermag.

Seitdem ich festen Boden unter mir fühle, bin ich wieder ein Mann. Das Wetter ist herrlich, kalt und frisch wie in Deutschland, und alles läßt sich vorderhand gut an.


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