Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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29.

London, den 27. April 1862.

Ob ich am Ende doch Nerven habe? Geschäftssorgen können in meinen Jahren an der ersten buchstäblich schlaflosen Nacht doch nicht schuld sein, wenn sie mich in den letzten vierzehn Tagen auch von verschiedenen Seiten angriffen. Ich war nämlich gleichzeitig Schriftsteller, Übersetzer, Setzer (letzteres jedoch nur in Messingbuchstaben), Maler, Lackierer, Glaser, Schreiner, Schlosser, Tapezier, Maschinenwärter, Zeichner, Ingenieur, Laufbube, Gerichtszeuge, technischer Sachverständiger, Dolmetscher, Agent, Spediteur, Tagelöhner, Kaufmann und Dichter. Daß ich mich selbst besungen habe, wird mir unter obwaltenden Umständen verziehen werden.

Der östliche Anbau des Hauptgebäudes der Ausstellung, in welchem wir von der englischen Landwirtschaft hausen, ist nahezu eröffnungsfähig. Ich wäre gestern vollständig ins reine gekommen, hätte nicht mein liebes Vaterland mir einen Streich gespielt, oder ich ihm. Direktor von Steinbeis fragte mich vor einigen Tagen, ob Fowler nicht geneigt wäre, eine Sammlung von hundert Pflugmodellen aller Nationen aus Hohenheim irgendwie in der englischen Abteilung aufzustellen, da die Württemberger schlechterdings keinen Platz dafür fänden. Die Kiste lag hoffnungslos im westlichen Anbau. Im stillen war ich voller Jubel; denn ich hatte unter meinem Tempel den prächtigsten Raum für die hübsche Sammlung und nur die eine Sorge, die deutschen Kommissäre möchten ihren kühnen Entschluß nach einer halben Stunde bereuen. Rasch nahm ich deshalb Leute und Pferde und führte meine Beute im Triumph herüber, packte alles aus, zerschlug die Kiste und begann damit, das erforderliche Gestell aus schwäbischen Brettern aufbauen zu lassen. Dies ahnt Deutschland heute noch nicht, trotz der vielen Wappen, welche die schlaue Zentralstelle auf das Holz gebeizt hatte, um jeden Diebstahl unmöglich zu machen.

Die Reue in Gestalt des Herrn Assessors Gaupp kam denn auch bald genug, und ich konnte den Sturm nur durch Anbringung mehrerer schwarzroter Fahnen und auf besonderes Verlangen, da ich mich gegen das Annageln eines württembergischen Wappens sträubte, einiger messingener W beschwören. Fowler, der mich fast täglich besucht, war über die neue Erwerbung entzückt, und die Württemberger müssen es schließlich mit sauersüßem Gesicht als Gefälligkeit betrachten, daß man ihnen einen der interessantesten Gegenstände entführt hat.

Im übrigen steigt die Ausstellungsverzweiflung ins Riesenhafte. Noch drei Tage! Der Festzug, der durch den Torweg in der Cromwell Road eintreten soll, naht so gewiß als der Tod; die Löcher und Mauerdurchbrüche, durch welche Kisten ein- und ausgebracht werden, fangen seit gestern an enger zu werden und müssen bis übermorgen verschwunden sein. Meyerbeer ist hier und Auber, mit Pauken und Trompeten; Standarten, Staatskarossen und Eröffnungsreden in Glace stehen vor der Türe, und wie sieht's innen aus!

Die Engländer mit ihrer ruhigen Geschäftigkeit sind am weitesten. Da geht's im gemessenen Schritt vorwärts, ob der Lordmayor am Tore pocht oder der Kaiser von Frankreich. Glaubt Ihr, ich könne meine Tischler bewegen, nach sieben Uhr abends noch einen Hammer aufzuheben? Am trostlosesten scheint es in dem lebhaftesten Viertel zu sein, bei den Franzosen. Drum bleibt es eben überall wahr: »Dem Phlegma gehört die Welt.«

Ist's auch nicht so schlimm wie bei den Franzosen, so kann man doch nirgends so gut lernen, was »verzwatzeln« heißt, als in der deutschen Abteilung. Die vaterländischen Einheitsbestrebungen gipfelten in dem Beschluß: »die verschiedenen Kommissäre mögen die rühmliche Idee kollegialisch zu verwirklichen suchen«. Damit war der kleine industrielle Bundestag begründet. Zuerst waren die Preußen auf dem Platz. Dann kamen die andern, und die »kollegialische« Tätigkeit begann. Nach zwei Wochen war deren Ergebnis die allgemeine Überzeugung, daß es ganz unmöglich sei, »kollegialisch« die Einheit Deutschlands zur Darstellung zu bringen. Somit sollte jedem Ländchen seine Anzahl von Quadratfuß zugeteilt werden. Damit begann ein heißer Territorialkampf, in welchem, wie ich vermute, das Übergewicht preußischer Militärmacht über Württembergs Intelligenz zugunsten der ersteren entschied, weshalb man »hierseits« die Preußen mit voller Herzensüberzeugung »den unfähigsten Volksstamm Deutschlands« nannte. Ein kleiner Saal wird dennoch als »Vereinigtes Deutschland« behandelt. Dorthin stellt man, was sonst nirgends Platz hat, entbehrlich oder zu schlecht erscheint. Dort wütet denn auch die deutsche Eintracht unbeeinträchtigt. Wo ein Württemberger seine Klaviere hinstellen will, hat bereits ein Sachse seine Lederhandlung errichtet; wo ein Preuße mit Zucker- und Teebüchsen prunkt, will ein Bayer die Welt mit einem Riesenbierfaß ergötzen. Und bei all dem arbeiten sie alle mit übermenschlichem Eifer: die Assessoren schwitzen, und die Assistenten verzweifeln, die Direktoren werden krank vor Anstrengung, und zahlreiche Doktoren haben die Köpfe verloren und geben sich die erdenklichste Mühe, längst geleerte Kistchen zu öffnen, weil das »leer« nicht auf der Seite steht, die ihnen zugekehrt ist.

Stellt Euch mit mir unter den westlichen Dom – der den Preußen gehört – mitten zwischen den braunen Tiger, welcher sich mit einem nackten Neger aus Gußeisen am Boden balgt, und den bronzenen Fechter, dessen mächtige Schenkel in packpapierenen Hosen stecken und der hoch um die geballte Faust einen Zettel trägt mit der Aufschrift: »To her Majesty´s Commissioners. Zollverein. Door D. Cromwell road« – und schaut nach Osten. Vor uns dehnt sich ein riesiger Raum, verschwimmend in bläulichem Nebel, in welchem der Reichtum und die Geisteskraft von sechs Jahrtausenden ihre Schätze aufhäufen und ausbreiten. Wie groß ist die Menschheit in ihren Werken und wie possierlich sind die Menschlein in ihrem Tun! Das habe ich dort schon oft mit leisem Schauder und mit hellem Lachen empfunden, ehe ich meiner eignen Abteilung wieder zueilte, um vielleicht einen Fuhrmann mit steinerweichenden Bitten zu bewegen, mir einen Haufen alter Bretter fortzuschaffen, die mir im Wege liegen.


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