Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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52.

Schubra, den 15. Oktober 1863.

Seit dem Durchstich des großen Kanals bei Alt-Kairo verschlingt der Nil all unser Dichten und Trachten. Bei Schubra und überall, wo Dämme und Kanäle in Ordnung sind, merkt man hiervon wenig. Die großen Pumpmaschinen der Umgegend hörten auf zu rauchen, da und dort füllt sich ein Gräbchen, da und dort schlängelt sich ein dickgelbes Bächlein am Weg hin, da und dort verwandelt sich ein steinhart ausgetrocknetes Feldstück in einen See. Nach drei Tagen erscheint an derselben Stelle die nasse, schwarzbraune Erde wieder, die sich nach abermals drei Tagen in eine grüne Fläche verwandelt. Jedes Feld kann in dieser Weise beliebig lang unter Wasser gesetzt werden, und das künstliche Kanalsystem, das Hin- und Herleiten des Wassers läßt es oft wirklich so erscheinen, als würde das harmlose Element durch irgendwelche schlaue Kniffe den Berg hinaufbetrogen.

Steigt dagegen der Nil höher als gewöhnlich, wie in diesem Jahr, so hört die Gemütlichkeit auf. Zwischen den Hauptdämmen wälzt sich dann ein braunes Meer dem großen blauen zu. Auf den Dämmen liegen Tausende von Fellachin, mit Schaufeln und Strohkörbchen bewaffnet, um wieder einen Zoll Erde aufzuschütten, wenn das geheimnisvolle Ungetüm um einen weiteren Zoll zu wachsen droht. Aus dem unteren Delta herauf hört man von weggerissenen Dörfern. Selbst in der Nähe von Kairo ist uns vorige Woche eine Insel mit hundertfünfzig Hektar Baumwollenpflanzung untergegangen!

Mit liebevollerer Besorgnis als diese großen verfolgt Ihr meine kleinen persönlichen Angelegenheiten. Die Geschäfte ließen mir während der letzten Wochen Zeit, mich als Hauseigentümer und Familienvater ohne Familie in Schubra einzuleben. Zuvörderst mein Hofstaat! Er besteht vorläufig, mit dem Rechte der Kooptation, aus folgenden Gliedern:

Erstens: I myself. »Ganz Genua kennt meinen Gang,« heißt's im Fiesko. Brauche ich mehr zu sagen?

Sodann mein Dragoman, Abu-Sa, ein gutmütiger, dicker Kerl, Kopte von Rasse und Glauben, der mich viel ärgert um seiner Faulheit willen. Nebenbei lehrt er mich Lesen und Schreiben, was ihn einschläfert, so daß ich unlängst genötigt war, ihm eine Ohrfeige zu geben, als er mir etliche unverzeihliche Schnitzer hingehen ließ.

Drittens mein Schreiber Chalil. Er ist vom Diwan – der Verwaltungsbehörde – angestellt und hat für mich täglich Dutzende von Briefen zu schreiben, die ich blindlings unterzeichne; denn das Lesen ohne Vokale hat seine Haken. Er gehört weniger zum Haushalt, aber sonst zu allem. Man sollte nicht glauben, wie das Schreibereiwesen auch hier in Blüte steht.

Ferner: mein Läufer, auf Arabisch »Sais«, Ali. Ein netter Bursche und treuer Kamerad meines Esels. Er hat unter anderm die Briefe, die Chalil schreibt, bei Pontius und Pilatus herumzutragen, bis sie um sechs Schuh verlängert wieder zurückkommen, ohne der Sache, die sie betreffen, genutzt oder geschadet zu haben.

Endlich mein Koch Hassan, ein Vetter Alis, von diesem empfohlen. Diese zwei Kerls bestehlen mich systematisch. Es ist ein wahrer Genuß, sie zu beobachten und die Versicherungen ihrer unwandelbaren Ehrlichkeit und Treue entgegenzunehmen. Das plötzliche Verschwinden von fünf Pfund Öl oder von einem Korb Kartoffeln, das Fehlen von zwei Pfund Reis, wenn man für das Doppelte bezahlt hat, das koranwidrige Leerwerden einer Flasche Wein bringt sie nicht im geringsten aus ihrer treuherzigen Fassung. Sie wegzujagen wäre lächerlich, da das nächste Paar die althergebrachte Sitte in genau derselben Weise pflegen würde. Nachts verringert sich der Haushalt und besteht nur aus mir im ersten Stock und meinem Esel im Erdgeschoß, da es Brauch ist, daß die Köche nach Hause gehen, um ihren Raub bequemer in Sicherheit bringen zu können. Eine schöne Sitte, die mir viel Verdruß erspart! Morgens jedoch, kurz vor Sonnenaufgang, erscheint der Küchengeist wieder und klopft mich aus meinen Träumen oder unterbricht den ungleichen Kampf mit einem Dutzend Moskitos, woran Schubra überreich ist. Ich beobachte mit stetem Genuß, wie die ewig klare Morgensonne die ersten rotgelben Lichtstreifen in meine grüne Umgebung wirft. Die Natur atmet gegenwärtig in vollen Zügen auf, die schwere Zeit des Jahres ist vorüber und eine Art Frühlingsschimmer liegt auf der neubelebten Welt. Freilich ist's nicht jener Tier und Mensch erschütternde Übergang in einen deutschen Frühling.

Dann, eingedenk meines und des alten Mönchslebens, setz' ich mich auf meinen Balkon und lese, die Pyramiden vor Augen, ein Kapitel aus einem Neuen Testamentchen, das ich einst in London erhandelte. Sonnenaufgang, Morgenstille – aber Ihr kennt das ja auch. Schäfers Sonntagsmorgen von Uhland, in einer wunderlichen Übersetzung.

Das Frühstück, Tee und ein primitiver Eierkuchen, übersteigen die Kräfte des Kochs nicht. Nach demselben beginnt die Arbeit des Tages, von der ich vielleicht schon zu viel geschrieben habe; denn wes das Herz voll ist, des geht der Mund über, heute wie vor ein paar Jahrtausenden. Für heute aber möge es genug sein. Es ist nicht mein letzter Brief aus meinem neuen Heim.


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