Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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10.

Antwerpen, den 5. Mai 1861.

Langsam segelt vor meinem Fenster ein Dreimaster vorüber; das Dampfboot, das mich vermutlich nach London bringen wird, liegt mir vor der Nase, der Regen schlägt ans Fenster, und es will Dämmerung werden vor der Zeit. Dort über der grauen Fläche ohne Horizont, die das breite Band der Schelde noch eine Strecke weit durchzieht, muß das Meer liegen, und hinter dem Meer meine Hoffnungen, meine Sorgen, mein Glück. Wir werden es ja erleben!

Soeben bin ich in Antwerpen angekommen. Während Ihr mich vielleicht schon jenseits meines Rubikon glaubtet, kreuzte ich noch durch die Straßen von Gent und Brüssel und machte Versuche mit verdeutschtem Französisch. Ich würde dies auch hier tun; da es aber regnet, denke ich der Heimat und Eurer, habe ich in einem bescheidenen Stübchen den Tisch ans Fenster gerückt und bin nach einer halben Stunde wie zu Hause. Man lernt es, sich rasch heimisch zu fühlen. Nur in den ersten acht Tagen habe ich in der Fremde »gefremdelt«.

Mit Seraing war ich am Schluß der Woche fertig. Man hatte dort mehr Leute, als man in diesen schlechten Zeiten brauchen konnte. Am Sonntag fuhr ich über Mecheln durch das landschaftlich reizlose, wellenförmig flache Land nach Brüssel. Da es zwei Uhr wurde, bis ich mich in meinem Gasthof zurechtgefunden, blieb mir nur übrig, die sonntäglich erregte Stadt zu besichtigen. Das Museum, Kirchen und Paläste beschäftigten mich bis in die tiefe Dämmerung. Brüssel liegt schön auf hügeligem Grunde, ist voll Leben in seinen Straßen, die überall den Reichtum vergangener Tage oder den Luxus von heute zeigen, in der Tat ein kleines Paris, nur ohne dessen herrliche Umgebung.

Montag früh suchte ich, mein Empfehlungsschreiben in der Hand, Herrn Vilain, den Chef du département de l'industrie, im Ministerium des Innern auf. Ein freundlicher alter Mann, der mich mit einem weiteren Brief an Herrn de Grave, Chef du governement provincial, in Gent weiterbeförderte.

Ähnliche Erfolge begleiteten mich durch ganz Belgien. In Gent kam ich mitten in einen Arbeiteraufstand hinein. Die ganze Stadt war in Aufregung, die meisten Fabriken standen still. Nichts ahnend, Baedeker in der Hand, durchstreifte ich noch am späten Abend die Fabrikviertel, in denen 45 000 Menschen mit Weben, Spinnen und Spitzenklöppeln ihr Leben fristen, und wunderte mich über die wilde Gebärdensprache, sonderlich der Damen; doch verfehlte ich zu meinem Bedauern den nicht unblutigen Zusammenstoß der Hauptbanden mit der Garde civile der Stadt. Gent im allgemeinen gefiel mir besser als irgendeine Stadt Belgiens; – alles erscheint offen und geräumig, frei und selbstbewußt. Selbst der Arbeiterschlag ist kräftiger als die Wallonen Lüttichs. – Zum erstenmal versah sich hier der Kellner des Gasthofs in meiner Person und quartierte mich im ersten Stock ein, was mich nicht wenig erschreckte. Es stellte sich jedoch nachträglich als nicht so gar gefährlich heraus.

In Mr. de Grave fand ich einen liebenswürdigen jungen Herren, der mir mehr als eine Stunde widmete. Unsre meist französisch, oft aber auch englisch geführte Unterhaltung war possierlich genug. Übrigens mache ich reißende Fortschritte und kann die Anerkennung, die mein Französisch selbst bei den hervorragendsten belgischen Beamten findet, nicht genug rühmen. Der Schlüssel zu meinem Geheimnis besteht darin, daß ich mir im Lauf der Zeit eine unerschütterliche Schamlosigkeit in betreff etwaiger Schnitzer erworben habe.

Tage vergingen mit dem Verbrauch und in Erwartung weiterer Empfehlungsbriefe, mit der Besichtigung von Maschinenfabriken, Spinnereien, Industrieschulen. In liebenswürdiger Weise wurde mir überall erklärt, daß man Fremde im allgemeinen und mich insbesondere nicht brauche. Abends spielte dann zum Trost de Grave Domino mit mir, was ganz Belgien zu tun scheint. Schließlich hatte er – der Mann war so liebenswürdig, daß ich's ihm fast glaubte – und ich meine letzte Hoffnung auf die Fabrik eines Herrn Scribe gesetzt und suchte ihn selbst auf, um ihn auf den Schrecken meines Besuchs vorzubereiten. Ich erwarte meinen Gönner diese Zeilen schreibend. – –

Nachschrift.

Der Abend ist schön geworden, und Mr. Scribe blieb unerschütterlich. Einen letzten Blick auf Antwerpen, auf Belgien, auf das kontinentale Europa werdet Ihr mir gönnen. Damit endet dieser Brief plötzlich, wie meine belgischen Hoffnungen. In zwei Stunden geht das Boot. Ich werde meinen Geburtstag mit der Seekrankheit einleiten; denn der Horizont hängt voll schwarzer Wolken.


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