Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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96.

Neuyork, den 16. Dezember 1866.

Boston, Neuyork, Baron de Mesnil und van Havre, eine Taschendieberei der schlauesten Art, der Hudson und Buffalo, Niagara und Delaware, Regen und Schneegestöber, Kanalboote im Eis und Maschinen im Schnee begraben, acht Tage lang in einem Wetter, in dem man keinen Hund vor die Türe jagt – wie ich diese drei Wochen brieflich verarbeiten soll, ist mir völlig unklar. Dabei der sausende Hurrikan des täglichen amerikanischen Lebens! Es bleibt nichts übrig, als wie bei einem überlasteten Schiff den größeren Teil der Ladung über Bord zu werfen.

Ohne in dem Schneegestöber Bostons eine Minute zu verlieren, fuhr ich noch am Tage meiner Landung nach Neuyork. Für das patriotische Empfinden eines Schwaben ist es schmeichelhaft, sofort zu bemerken, daß sämtliche amerikanische Eisenbahnwagen nach württembergischem System zweiter Klasse gebaut sind. Dritte und erste Klasse gibt es nicht. Trotz des unfreundlichen Wetters machten die niedlichen Häuser, die freundlichen Dörfer und Städtchen, die hügeligen, von Wäldern, Bächen und Seen belebten Landschaftsbilder von Massachusetts einen wohltuenden Eindruck. Auch unterhielt ich mich mit meinem Nachbar, den ich für einen angehenden Advokaten oder höheren Sprachlehrer hielt, aufs beste über Konstitution und Sklavenfrage, Beduinen und Indianer, Panzerschiffe und Zündnadeln. Derselbe war aber, wie sich später herausstellte, ein Schuhmacher.

Nachts um zwölf Uhr kam ich in Neuyork an und fuhr nach dem Fifth Avenue Hotel. Seine fünf- oder sechshundert Zimmer waren besetzt, und ich bekam ein Bett in einem kleinen, eleganten Tanzsaal, in welchem im Laufe der Nacht noch ein aus dem fernen Westen vom Indianerschießen zurückgekommener Offizier einquartiert wurde, der, von einem Wolfshund begleitet, ein Bett aus Büffelfellen selbst mitbrachte und neben mir auf dem Boden sein Lager aufschlug.

Mit einem Stadtplane bewaffnet, machte ich mich den folgenden Tag auf den Weg. Das Wetter war klar und sonnig, und die merkwürdige Inselstadt erschien in ihrem ganzen Glanz. Broadway mit seinen prächtigen Läden und seiner unabsehbaren Länge, die fünfte Avenue mit ihren Palästen, der Hudson und Eastriver mit ihren Dampfern und Segeln und ihrem Gewimmel von Masten und Rahen – von all dem ist in hundert Büchern zu lesen. – Nur ein Erlebnis dieses ersten Tages im freien Amerika möchte ich nicht übergehen, denn es machte mich wochenlang nachdenklicher, als ich es sonst zu sein pflege.

Ich war mitten im Gewimmel von Menschen und Fuhrwerken in der Nähe der Landungsplätze für europäische Seeschiffe, als ich plötzlich etwas zwischen meinen Füßen fallen fühlte. In demselben Augenblick streifte mich ein Mann, der rasch weiter ging. Ein zweiter rief mir gleich darauf zu: »Sie haben Ihre Brieftasche verloren!« Natürlich sah ich ohne Verzug nach, fand aber Brieftasche und Geldbeutel an ihrem Platz. Nr. 2 hatte mich erreicht, begrüßte mich mit der wohlwollendsten Freundlichkeit und wiederholte seine Behauptung: »er habe Nr. 1 eine Brieftasche aufheben sehen«. Rasch rannte er dann dem Manne nach, den er einholte und zurückbrachte. Nach einigem Zögern zog Nr. 1 in der Tat eine Brieftasche hervor, die zwar nicht die meinige war, aber, wie sich bald erwies, mehr als tausend Dollar in Gold und Papier enthielt. Der Finder, sichtlich in Eile und ärgerlich, behauptete: »er reise in einer halben Stunde ab und gebe das gefundene Geld nicht her«. Nr. 2, der das Aussehen eines ehrlichen Schmieds hatte, sagte: »ich möchte doch die Brieftasche zu mir nehmen und ihm zum Finderlohn verhelfen«; zugleich bot er Nr. 1 fünf Dollar als Abschlagszahlung an. Nr. 1 erklärte aber: »er gebe seinen Fund nicht unter fünfundzwanzig Dollar auf«. Unter fortwährenden Versicherungen meinerseits, daß mich die Sache nichts angehe, wollte mir Nr. 2 die Brieftasche aufdrängen. Wenn das Geld Geld ist, dachte ich schließlich, kann ich ja nichts riskieren und mache den Verlierer glücklich. Sobald Nr. 2 meine Zweifel bemerkte, stürzte er in den nächsten Kaufladen, wechselte eine Fünfzigdollarnote ein, die er aus der Brieftasche genommen hatte, und legte das gewechselte Geld in dieselbe zurück. Ich sah dies durch die Fensterscheiben des Ladens, vor dem wir standen. Es schien alles in Ordnung zu sein. Ich gab nun dem Finder seine verlangten vier Pfunde, auf denen er bestand, in gutem englischen Gold, das ich noch in der Tasche hatte; Nr. 2 schloß die Brieftasche, ich steckte sie zu mir, und er versprach, abends in mein Hotel zu kommen. Dann trennten wir uns unter der Versicherung gegenseitiger Hochachtung. Als ich aber zu Hause ankam und die Brieftasche zum Zweck der Beschreibung für die Anzeige des Fundes hervorzog und untersuchte, enthielt sie – zwei alte Zeitungen. Die beiden Spitzbuben hatten, während ich den einen aus meinem eignen Beutel bezahlte, das angeblich gefundene Ding gegen ein ganz gleich aussehendes ausgetauscht!

Es ist wohl verzeihlich, wenn ich an jenem Abend unter den menschenfeindlichsten Gesinnungen einschlief und in meinen Träumen mir vornahm, jeden Yankee nach Möglichkeit zu bestehlen. Mit einiger Mühe fand ich am folgenden Tag Baron de Mesnil und van Havre. Ein eigentümliches Paar Menschen, über die ich mir noch kein Urteil zu bilden erlaube. Beide sind Attachés der belgischen Gesandtschaft in Washington. Ihre Schleppmaschine soll sobald als irgend möglich auf dem Eriekanal, welcher Buffalo und den Eriesee mit Albany und dem Hudson verbindet, zeigen, was sie zu leisten vermag.

Die Maschine war schon in Neuyork angekommen. Drei Tage später waren wir und sie an den Ufern des Eriesees.

Nun aber begann die Not. Die Angaben, nach denen die ganze Maschinerie gebaut war, erwiesen sich sämtlich als falsch. Die Schiffe waren zu groß, die Schleusen zu eng, die Brücken zu nieder, van Havre machte de Mesnil, de Mesnil machte van Havre Vorwürfe, und beide sahen fragend auf mich, ihre einzige Hoffnung. Die Kanal- und Regierungskommissäre der Staaten Neuyork und Pennsylvanien, die Kanalingenieure, die Kapitäne und Bootsleute, die Pferdetreiber und, fast schien es, selbst die Tausende von Pferden und Maultieren, die abgeschafft werden sollten – alles lauerte auf den großen Augenblick, in welchem sich unser Boot in Bewegung setzen sollte. Um mich zu ermutigen, erzählte man mir täglich die Geschichte von diesem und jenem, der sich mit der gleichen Aufgabe zugrunde gerichtet hatte, und Regen und Sturm, Eis und Schneegestöber, welche der Nord über den kalten, meerartigen See herüberbrachte, waren die freundliche Zugabe zu allem übrigen.

Was war zu machen? Zugreifen, wo es möglich war! Ich trommelte Arbeiter, Zimmerleute und Schlosser zusammen. Zehn Tage später war das Boot mit einer Maschine versehen, die wenigstens durch Schleusen und unter Brücken hindurchkommen konnte und eine Meile Drahtseil im Eriekanal versenkt.

de Mesnil und van Havre waren dankbare Leute. Um mich körperlich und geistig aufrechtzuerhalten, gingen wir vor acht Tagen über den Sonntag an den Niagara.

Wir kamen am späten Vorabend in Niagarafalls, dem Städtchen, das auf dem Tafelland über den Fällen im Entstehen begriffen ist, an und ließen uns noch in finsterer Nacht an die oberen Stromschnellen führen. Nur die weißen, tanzenden Gipfel der Wogen, welche dem Fall zueilten, waren durch die Dunkelheit hindurch zu unterscheiden. Die Luft war mit zerstäubtem Wasser gesättigt und von dumpfem, vielstimmigem Brausen erfüllt. Früh am folgenden Morgen begannen wir eine Rundfahrt zu Wagen, die uns zuerst an und über die kühne Drahtseilbrücke brachte, deren Bau damit begonnen hatte, daß ein Faden an einem Pfeile über den tief unten zwischen senkrechten Felsenufern tosenden Strom geschossen wurde. Auf der kanadischen Seite wieder hinauffahrend, kamen wir vor die zwei durch die Gaiseninsel getrennten Fälle, die hier in ihrer ganzen gewaltigen Ausdehnung erscheinen, und gelb, weiß, wassergrün und kristallhell, selbst ohne Sonnenschein und mit den vom Herbste entlaubten Ufern einen Anblick darbieten, den keine Phantasie erreicht. Indessen, überwältigender noch als das Ganze sind die Einzelheiten, wenn man am Fuße des Falls, den man mittels einer Wendeltreppe von etlichen hundert Stufen erreicht, zwischen den herabhängenden Wasserschleier und die triefenden, hundert Fuß hohen Felsen tritt, und sich in der tosenden Höhle mit kristallenen Wasserwänden an haushohe Eiszacken anklammert, oder nur einen Schritt von dem Rand des Absturzes entfernt, in die dampfende Tiefe hinabsieht. Die Schönheiten der Gaiseninsel, mitten zwischen beiden Fällen, mit ihren urweltlichen Bäumen, mit ihren Bächen und Wasserfällchen unter überhängenden Fichten und Eichen, mit ihren schwindelnden, von den beiden Hauptfällen umbrausten und bestaubten Felsenabstürzen findet man auf dem Erdenrund nicht leicht wieder. Doch zurück nach Buffalo! Drei Tage später war endlich Schiff und Maschine bereit und bewegten sich. Alle Zweifel, die ich selbst noch im stillen gehegt hatte, waren nach einer halben Stunde geschwunden, de Mesnil und van Havre strahlten, die anwesenden Bootsleute und Ingenieure schüttelten sich die Hände. Aber es war ein eisigkalter Tag. Nach anderthalb Stunden war das Öl in den Lagern gefroren; es war unmöglich, weiterzuarbeiten. So weit war jedoch alles gut. Nur hatten die Kanal- und Staatskommissäre die Sache nicht gesehen; die große Vorstellung sollte erst noch stattfinden, de Mesnil telegraphierte nach allen Seiten. Am folgenden Tag erhob sich ein unerhörter Schneesturm. Der Schnee lag vier Schuh tief in den Straßen, meine Maschinen waren förmlich begraben, und der Kanal ein weißer, dicker Brei. Noch wollte ich die Hoffnung nicht aufgeben und stellte Kohlenbecken auf, um die Maschinerie während der Vorstellung unter Feuer zu setzen und auf diese Weise das Schmieröl flüssig zu erhalten. Zwei Kommissäre, abgehärteter als die andern, kamen den folgenden Tag. Die Maschine zog an, das Boot krachte durch die Eisdecke, blieb aber nach drei Minuten unrettbar im Eise stecken.

Und damit war die Sache auf das nächste Frühjahr verschoben. Ich bin seit gestern wieder hier in Neuyork, bereit, aus dem Gebiet der Eiszapfen in das der Palmen überzusiedeln.


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