Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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13.

London, den 4. Juni 1861.

Eine vorläufig dunkle Geschichte! Ob der Tag dämmern will?

Montag vor acht Tagen kam ich abends mit Kopfweh, ohne das ich den Kristallpalast nie sehen kann, von Sydenham zurück. Ich fand ein Billett von Becker vor, der mich bat, abends um acht Uhr einen Mr. Johnson im Great-Western-Hotel bei der Paddingtonstation aufzusuchen. Ich hatte dorthin eine volle Stunde zu fahren und kam daher eine halbe Stunde zu spät. Nichtsdestoweniger fand ich ein klug aussehendes Männlein, das auf seinem Mahagonitisch eine große Menge kleiner Papierschnipfelchen pünktlich und geduldspielartig um sich herumlegte. – »Mr. Johnson!« – »Mr. Eyth, recommanded by Elliot Brothers.« – Ein ernstfreundlicher Blick nach dem nächsten Stuhl, den ich besetzte, ein noch ernsterer und väterlich liebevoller Blick auf das Geduldspiel: dann begann die Erklärung.

»Ich habe ein großes Werk vor, Mr. Eyth, ein Werk, welches das ganze bestehende Eisenbahnwesen umzustoßen bestimmt ist.« – (Mein Herz flog dem alten Männlein zu; denn das Umstoßen war von jeher meine Freude.) – »Ich weiß, daß ich meine Gedanken nur langsam zur allgemeinen Anerkennung bringen kann. Aber das tut nichts. Ich werde Sie überzeugen.« – ›Das kommt auf die Bezahlung an!‹ dachte ich trotz meiner steigenden Begeisterung. – »Sie werden andre überzeugen!« – Ich wiederholte den nichtswürdigen Gedanken, denn die englische Luft hat mich schon gründlich entsittlicht. – »Kurz und gut, Mr. Eyth; ich werde neue Eisenbahnwagen bauen!«

Das war ein kalter Schlag; denn ich hatte zum mindesten eine Flugmaschine erwartet. Doch ließ Mr. Johnson mir nicht Zeit, mich zu erholen, und führte mich trotz der steigenden Dämmerung nach dem Great-Western-Bahnhof, wo wir gemeinschaftlich unter Kohlen- und Menschenwagen herumkrochen, bis wir uns selbst nicht mehr sahen.

Des andern Tages wurden bei Elliot Brothers etliche roh ausgeführte Modelle ausgepackt, die Herrn Johnsons Pläne verdeutlichten und mich zum Ankauf eines Reißbretts hinrissen. Drei Tage waren sodann im Great-Western-Hotel große Beratungen über das, was ich – und was ich nicht gezeichnet hatte, wobei wir uns trotz ernster sprachlicher Schwierigkeiten mehr und mehr verständigten.

Ich gestehe, ich hatte von jeher auf den Eisenbahnwagenbau mit einer, wie mir schien, verdienten Verachtung herabgesehen. Glücklicherweise wird alles interessant, womit man sich ernstlich beschäftigen muß. So kam's auch hier. Nach drei Tagen war ich mit Leib und Seele bei der Sache. Kein Hundekarren fuhr an mir vorüber, den ich nicht in eine der vierzehn Klassen einreihte, welche ich mit deutscher Gründlichkeit skizziert und numeriert hatte. Während ich sonst bei einem Spaziergang durch die City das unbeschreibliche Wagengewimmel leichten Sinnes vom Gipfel eines Omnibus überflog, gehe ich jetzt gerne zu Fuß, und mein Blick hängt hier an dem triefenden Ölnapf unter dem Bauch eines Lastwagens, sucht dort unter den zitternden Federn eines Cabs, unter dem pfeifenden Drehzapfen eines Omnibusses Gedanken, Glück, Geld und Ruhm. Während ich sonst auf der Eisenbahn nicht vom Fenster wegzutreiben war und gern die ganze Welt im Vorüberfluge aufgesaugt hätte, sitze ich jetzt mit halbgeschlossenen Augen auf meinem Platz und sortiere die Püffe, die er mir hinterrücks versetzt; denn es sind dreierlei, welche die leidende Menschheit von diesen ganz erbärmlich unzulänglichen Beförderungsmitteln der Gegenwart zu erdulden hat.

Am Samstag waren meine Studien so weit gediehen, daß es Mr. Johnson klar wurde, welche Vorarbeiten seine Aufgabe erfordere. Bis zum 4. September wollte er zum mindesten ein Modell, wenn nicht einen fertigen Wagen in Manchester ausstellen. Dazu gehörte zweifellos eine jüngere Kraft. Zunächst verabschiedete er sich, um zu Hause, in Little Malvern, das Nötige für einen längeren Aufenthalt in London zu ordnen.

Am Donnerstag wollte er zurückkommen und dann auch meine Stellung zur Sache regeln. Statt dessen bekam ich am Montag einige Zeilen, »daß er am Donnerstag nicht kommen werde«. Darauf folgte ein Brief, »daß er erst Donnerstag über acht Tage Malvern verlassen könne«.

Mittlerweile hatte mir ein Freund geschrieben, »ich solle mich so rasch als möglich in Manchester einfinden, wo er hoffe, mir eine Stelle verschaffen zu können«, und meine Bedrängnis wuchs.

Der Donnerstag kam; statt Johnsons aber ein dritter Brief: »ich möchte die fertigen Zeichnungen nach Malvern schicken; er komme am Dienstag!« Dieser neue Wunsch hatte in dem großen London etwas Beunruhigendes. Ich schickte auf den Rat meiner welterfahrenen Umgebung nichts, sondern schrieb, daß ich, um Zeit zu gewinnen, bereit sei, selbst zu kommen.

Vierter Brief: er werde sicher am nächsten Dienstag erscheinen und bitte wiederholt um die Zeichnungen. Der Brief war so freundlich, daß ich, von diesem Eindruck überwältigt, die Hälfte meiner Arbeiten zusammenpackte und fortschickte. So weit sind wir heute.


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