Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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11.

London, den 18. Mai 1861.

Haltet mich nicht für verschollen. Ich habe hier so sehr alles Gefühl für räumliche und zeitliche Verhältnisse verloren, daß es mir in der einen Stunde vorkommt, als hätte ich erst gestern Antwerpen, vorgestern meine Heimat verlassen, in der andern, als sei ich an der Themse zu Hause, als läge eine bunte Ewigkeit zwischen mir und den Tagen an Neckar und Jagst.

Ihr wollt von der Überfahrt und den ersten Stunden in England hören. Gut. Was Tausende erzählt haben, kann auch ich erzählen.

Szene: Antwerpen; Abendsonnenschein durch zerrissenes Gewölk, das über die bewegte Schelde hinjagt.

Mein Gepäck war »besorgt und aufgehoben«. Matrosen zogen mit ohrenzerreißendem und herzbeklemmendem Singen die Brücke zurück, und das Festland lag hinter mir.

Zwar noch nicht ganz. Denn der immer breiter werdende Fluß, dessen Ufer schließlich völlig untertauchen, trägt den Dampfer noch volle vier Stunden, ehe das peristaltische Schaukeln beginnt, welches in Herz und Magen jenes erhebende Gefühl erzeugt, womit der gute Deutsche und speziell der poetische Schwabe das Meer begrüßt. Die See ging, wie die Matrosen behaupteten, nicht hoch; doch wurde es bald unmöglich, über das Verdeck zu kommen, ohne sich zu halten. Eine Viertelstunde »hatte ich's getragen, trug's nicht länger mehr«, und ergab mich in mein Geschick. Als ich des andern Morgens nach einer qualvollen Nacht auf das Verdeck gekrochen kam, waren wir in die Themse eingefahren. Das Schiff ging wieder ruhig, und die ersehnten, trüben Nebelbilder lagen vor mir.

Eine fröstelnde, beklemmende Fahrt, den Fluß hinauf. Reizend konnte ich die Ufer, die – grau in grau – vor mir auftauchten, die Schiffe, die schlaftrunken vor Anker lagen oder langsam anfingen sich zu bewegen, keineswegs finden. Die neue Welt, in die ich mit entsetzlich leerem Magen eintrat, begann damit über mir, nach Art der Deutschen, »schwer« zu werden.

Dann kamen die Vorposten der Stadt, Greenwich, die Docks, ein buntes Gewimmel von Linien, die jeder Anordnung eines nach einem Bilde suchenden Auges Trotz bieten – alles still und lautlos – alles grau in grau.

Jetzt taucht die Stadt selbst aus dem Nebel; der Strom wird enger; man nähert sich den London- und Katharinendocks; der Tower zeichnet sich bedrohlich in das Grau der Luft; da und dort steigt der Qualm der Kamine grauer als das übrige Grau empor und bildet eine trübüberwaschene Wolke. Es ist mittlerweile sechs Uhr geworden. Das Riesenungetüm fängt an sich zu regen; ein Summen, ein schwellendes Brausen trifft das Ohr, und durch die Bögen der eben erscheinenden Londonbridge saust der erste Flußdampfer mit einer geschäftigen Schnelle, von der die Neckardampfschiffahrt bis jetzt noch nicht geträumt hat.

Man landet. Wieder heulen die Matrosen an den Seilwinden ein Lied von der Qual der Arbeit, wie es scheint. Ich gebe einem munteren Belgier die Hand zum Abschied, der mich in den trübsten Stunden der vergangenen Nacht mit freundlichem Rat und wohlgemeinten Kalauern getröstet hatte. Er wird in Paddington wohnen, ich in Pentonville. Wir werden uns deshalb schwerlich in diesem Leben wiedersehen.

Jetzt stürzen die Gepäckträger über die angesetzte Landungsbrücke. Ich sehe meine sieben Sachen in vierzehn Händen. Ein Glück ist's, daß ich mir für den Rest meiner Lebensreise die eine Silbe: »kühl« zum Losungswort erkoren habe. Fünf Minuten später sitze ich in einem niedlichen »Cab« und zähle ruhig die Häupter meiner Lieben: Sieben! – Der Kutscher hat mein »Middleton Square Pentonville« verstanden, wie ich aus einem behaglichen Grunzen schließe, das vermutlich besser Englisch ist als meine noch so deutliche Aussprache.

Mrs. Bitter, das würdige Haupt der kleinen Kolonie von Fremdlingen, in der ich zunächst Aufnahme suchte, hatte kein Zimmer frei. Ich wurde in einem benachbarten Hause untergebracht, schickte mich aber rasch in Land und Leute. Vergangenen Samstag fand mein Umzug in das eigentliche Bittersche Haus statt, wo ich nun in einem freundlichen, einfachen Zimmer meine ersten Londoner Leiden und Freuden durchleben werde. Die Fenster gehen auf den stillen, grünen Platz, zwischen dessen knospenden Bäumen die in echt englischem Stile gehaltene Kirche von Pentonville hervorragt. Wenn nicht drei Drehorgeln vor dem Fenster spielen und etliche verkommene Söhne Italiens oder Schottlands unter gräßlichem Getöne von Schalmeien und Dudelsäcken einen Nationaltanz aufführen, so glaubt man kaum, daß man sich in London befindet und ohne Eisenbahn nicht ins Freie gelangen kann. Zum Glück ist Middleton Square nicht der einzige Smaragd dieser Art. Die grünen Plätze mitten im Häusermeer und namentlich die gewaltigen Parks im Westen sind eine unbezahlbare Eigentümlichkeit der Riesenstadt, in der ich mich seit einer Woche mit leidlichem Erfolg zurechtzufinden suche und staunend sehe, was tausend andre vor mir angestaunt haben: die Parlamentshäuser und das Britische Museum, den Zoologischen Garten und den Kristallpalast, Westminster und die Bank von England – das Herz von Land und Volk –, die Themse mit ihren Brücken, und die Docks mit ihren Schiffen, und den tosenden Verkehr, der all das verschlingt. Wundern würde es mich nicht, wenn er auch mich verschlänge.


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