Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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19.

Manchester, den 5. September 1861.
(An meine Schwester.)

So oft ich einen Knopf an meine Hosen nähe – und das geschieht gegenwärtig häufiger: denn ich fange an, aus dem Leim zu gehen –, denke ich an die stillen, friedlichen Sonntage, die ich bei Euch zubringen durfte. Denn mein Nähapparat befindet sich in einem Pulverschächtelchen von echt schwäbischem Gepräge, worauf gedruckt zu lesen: »Zwinksche Apotheke in Göppingen« und geschrieben: »Herrn Pfarrer C.'s Söhnle, täglich zwei Löffel voll.« Muß nicht schon das bloße Dasein dieses Schächtelchens gegen englische Herzverhärtung wirken? Muß es nicht im Lande des Rauchs und Nebels den ganzen Ludwig Richterschen Hausapparat in Bewegung setzen mit seinen warmen, sonnigen Bildern Von Ruhe, Gemütlichkeit und lieblichem Kindergeschrei? Es tut's, und auch ohne das schwere Ereignis eines Knopfbruchs kommen diese Bilder manchmal, und ich schlürfe sie ein – unklugerweise! – mit der ganzen wehmütigen Behaglichkeit des süddeutschen Gemüts, »täglich zwei Löffel voll«.

Doch sorgt auch meine englische Umgebung dafür, daß ich in Ruß und Rauch nicht ganz untergehe. Du kennst wohl die kläglichen Briefe, die ich in den letzten Monaten den Eltern schreiben mußte, um ihren Glauben an mich und meinen Kredit bei ihnen aufrechtzuerhalten. Aber auch Lichtblicke hat das hiesige Leben in einiger Entfernung von Manchester, und von Zeit zu Zeit gestatte ich mir ein Ausflügchen in den Sonnenschein jenseits des Rauchmeers dieser Riesenstadt. Dazu würdest Du wohl eine Fahrt in die Kohlengruben und Eisenwerke von Lowmoor nicht rechnen. Ihr wißt eben nicht, wie verwöhnt Ihr seid. Dagegen würdest auch Du die Küste von Nordwales, Anglesea, Bangor und Holyhead gelten lassen. Du machst Dir keinen Begriff davon, wie schön England sein kann, wenn die Sonne auf sein feuchtes Grün scheint, und auch im Sturm, an der richtigen Stelle; zum Beispiel an der Nordwestküste von Anglesea, wo die zerrissenen Granitfelsen senkrecht in die See fallen.

Es war ein frischer, windiger Nachmittag, als mein Freund Gutekunst und ich an den Bergen hinter Holyhead hinaufstiegen, um uns den Kohlenstaub von Manchester aus den Lungen fegen zu lassen. Vom Gipfel der kahlen Höhe überblicken wir ein Stück der großen Insel. Dann auf der andern Seite des Gebirgsstocks von Hang zu Hang herabkletternd – unter uns, oft fast senkrecht, die tosende Brandung, welche tiefe Höhlen ins Gestein wühlt –, fanden wir uns einem der isoliert auf einem Meerfels erbauten Leuchttürme gegenüber. Die Großartigkeit dieses Bildes übersteigt die Kraft einer schlechten Stahlfeder. Es fing schon an zu dämmern, als wir im scharfen Zickzack an den Felswänden wieder hinabstiegen, um auf den Weg zu gelangen, welcher nach dem Eiland führt. Die heranrollende Flut und ein furchtbarer Seewind trieb die Wogen haushoch an den zerrissenen Klüften zu unsern Füßen empor. Wie junge Hunde bellend, ein grausiges Geschrei im Pfeifen des Windes und im schwellenden Getöse der Wasser erhebend, hingen die großen, weißen Seemöwen, die in unzähliger Menge in jenen Felsenlöchern nisten, ruhig schwebend über den schwarzen Abgründen, und das ganze Bild lag vor uns ohne Horizont, in der öden Ferne ruhiger und ruhiger werdend und sich im Nebel verlierend, der unmerklich, aber unerbittlich, Felsen und Wasser, Möwen und Menschen verschlang.

Am folgenden Tag fanden wir ein Gegenstück zu diesem ossianischen Naturgemälde in dem lieblichen Bangor, wo hoch über dem Meeresarm die berühmte Britanniabrücke Anglesea mit Wales verbindet und Land und See sich zum sonnigsten Bilde vereinigen.

Du siehst, es ist nicht alles Ruß und Rauch in meinem Leben. Auch lerne ich hier, daß eine Stunde Sonnenschein mit einem Tag voll Nebel nicht zu teuer bezahlt wird. Ist dieses Körnchen Lebensweisheit nicht eine Reise nach England wert?

Übrigens sei es dem Himmel getrommelt und gepfiffen, endlich habe ich einen Stein gefunden, auf dem ich mein Haupt niederlegen kann. Derselbe befindet sich in Leeds, wohin ich übermorgen aufbreche. Der Anfang verspricht einiges. Leeds ist der Mittelpunkt des englischen Landmaschinenbaus, eine gewaltige Stadt nach deutschen Begriffen, in der Mitte der Kohlen- und Eisendistrikte von Yorkshire. Mr. Fowler, mein neuer Herr und Meister, ist ein noch junger, liebenswürdiger Herr, Quäker, Besitzer einer erst im Entstehen begriffenen Maschinenfabrik, Erfinder der Dampfpflüge, die auf den letzten Ausstellungen der Royal Agricultural Society of England in Warwick und Leeds die ersten Preise davontrugen, und ein mit aller Welt verkehrender Mann. Bei ihm werde ich in den nächsten Tagen meine mir noch selbst unbekannte Kunst im Pflügen versuchen. Für das Frühjahr stehen mir Ausflüge nach Frankreich oder Deutschland in Aussicht, und während der kommenden Weltausstellung soll ich in London sein. In betreff der Zeit bin ich nicht gebunden, wenn je, was jedoch nicht zu vermuten, sich mittlerweile etwas Besseres zeigen sollte. Die Bezahlung ist nicht glänzend, aber anständig – besser, als ich sie bei der Masse brotloser Zeichner, Ingenieure und Kaufleute in der gegenwärtigen Zeit erwarten durfte. Dagegen habe ich die Verpflichtung einzugehen, von meinen bei Mr. Fowler erworbenen Kenntnissen keinen ihm nachteiligen Gebrauch zu machen. Daß ich später nichts heimlich pflügen werde, glaube ich auch ohne ausdrückliche Abmachungen.

Damit wäre der große Schritt getan, der mich aus dem uferlosen Salzwasser aufs Trockene setzt. Mr. Fowler fragte mich zum Beginn der Verhandlung, vermutlich infolge meines achtunggebietenden Schnurrbarts, ob ich verheiratet sei? Als ich aber im Vollgefühl meiner Freiheit ihn mit verächtlichem Lächeln des Gegenteils versicherte, fragte er, allerdings auf Englisch: »Drum – Sie haben viel zu reisen!« Da hob sich mein Herz, und ich betete, pharisäisch auf alle entzündlichen Herzen herabblickend: »Ich danke dir, Gott, daß du mich nicht verheiratet hast!«

Echt englisch war auch, wie die Verbindung mit Fowler eingeleitet wurde und zu diesem hocherfreulichen Ergebnis geführt hat. Mein treuer Freund und Gönner, Mr. Tylor, schrieb an Fowler, als Quäker dem Quäker, es doch mit mir zu versuchen. »He is open to conviction!« »Er ist bekehrungsfähig.« Zur Dampfpflügerei werde ich mich nun allerdings bekehren lassen müssen. Ob ich Quäker werde, mein lieber Mr. Tylor, möchte ich bezweifeln.


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