Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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30.

London, den 6. Juni 1862.

Wie die Zeit fliegt! Mehr als ein Monat ist seit der Eröffnung der Ausstellung verflossen, und ich habe nicht einmal oberflächlich alles gesehen und muß selbst in meinem eigensten Gebiet jeden Tag wieder Neues finden!

Allerdings die sechs Arbeitsstunden, die mir Mr. Fowler in Aussicht stellte, dehnen sich zu acht einer erschlaffenden Tätigkeit aus. Wie ein Star fünfzigmal das gleiche auf französisch, englisch, deutsch oder auch italienisch zu erklären, ist härtere Arbeit, als im Feld fünfhundertmal auf und ab zu pflügen, wobei man doch eine Furche hinter sich und Schwielen in den Händen sieht. Doch – »jemand muß es tun!« – dies ist der eine, und dann ein Gang durch die Schätze dieser Welt ist der zweite, tröstlichere Gedanke, welcher mich auf meinem Posten hält.

Seit etlichen Tagen fangen die Räume an sich zu füllen, und Tausende wogen auf und ab von Dom zu Dom unter der buntbemalten Wölbung des Schiffs, oder unter den Glasdächern der Seitenbauten. Gestern waren um vier Uhr achtzigtausend Leute unter einem Dach und bewegten sich trotz der babylonischen Sprachverwirrung friedlich summend durcheinander. Wäret Ihr hier, wir kämen auf unserm ersten Gang vom östlichen Dome aus, unter dem ein prachtvoller Springbrunnen haushoch parfümiertes Wasser speit und ein Drache dem Ritter Georg Londoner Eau-de-Cologne ins Gesicht spritzt – wir kämen kaum an den riesigen Armstrongkanonen vorüber, ohne sogleich auf selbsterwählten Irrwegen in die englische Marineabteilung einzubiegen. Man kann sich nichts Unterhaltenderes denken. Modelle ziehen den Menschen unwiderstehlich an. Stehen die Riesenwerke von Penn oder Withworth oft minutenlang unbeachtet, so ist sicher stets ein dichtes Gedränge um das Modell derselben Schiffsschraube, die in natura fast niemand beachtet. Woher kommt das? Ist es der uralte Spieltrieb, der unbewußt so viel Großes geschaffen hat?

Hier sind wir in einem wahren Paradiese für diese kindliche Neigung im Menschen. Da steht der große »Warrior«, das erste Panzerschiff Englands, und ist nur sechs Schuh lang. Da stehen Schiffe der alten Römer, zum Vergleich neben den eleganten Booten der Gegenwart und den wunderlichen Geschöpfen der Zukunft. Schrauben und Schaufelräder, Segel und Mäste, berühmte Wracks und unsinkbare Schiffe, Brander und Rettungsboote liegen in niedlicher Reihe nebeneinander, zuweilen reichlich bemannt mit Matrosen aus Kork. Dann sind Docks zu sehen, trockene und nasse, schwimmende und feste, Schleusen und Kanäle und eine Reihe von Leuchttürmen mit den sie umgebenden Felsenpartien oder Sanddünen. Wie ein alter Bekannter grüßt mich hier das Modell des Nordstakes bei Holyhead, in dessen grausig-herrlicher Umgebung ich vor einem Jahr schwelgte.

Aber es wird Abend. Ich bin müde und satt all des Großen und Herrlichen um mich her und gehe deshalb in die deutsche Abteilung. Der Zollverein liebt die Kinder, worüber sich die herzlose »Times« nicht genug wundern kann. Sie erzählt mit englischer Unverschämtheit und trauriger Naturwahrheit: »Wer von Deutschland nur diese Abteilung gesehen, könnte in der Tat die Deutschen für eine Nation großgewachsener Kinder halten. Die Freude an hübschen oder wenigstens billigen Spielsachen scheint sich durchaus nicht auf die eigentlichen Kinder des Landes zu beschränken. Unlängst sahen wir in der deutschen Ausstellung acht langbärtige Herren einer durch ein Uhrwerk bewegten Maus nachrennen – nachrennen, sagen wir, jubelnd und frohlockend, wie es wohl den Knaben und Mägdlein ansteht, welche sie vermutlich in den Kinderstuben zu Augsburg und Nürnberg zurückgelassen. Möge der deutsche Stamm noch lange diese erfrischende Heiterkeit, diesen kindlichen Sinn bewahren!« Ich eilte mit diesem Blatt zu meinen Landsleuten und las dem aufmerksamen Publikum die Geschichte vor. Unglücklicherweise war der Besitzer der Maus auch unter meinen Zuhörern und geriet in keinen geringen Zorn, den ich mit der Bemerkung nicht beschwichtigen konnte, daß ein kindliches Herz keine Schande sei.

So geht der Tag zur Neige, und wenn ich in der Frühe auf geistigen Raub ausgegangen, mittags redlich gearbeitet und abends mich genügend geärgert habe, dann findet mich die Dämmerung häufig in dem allmählich leer werdenden bayrischen Viertel; die deutsche Natur kommt schließlich doch zum Durchbruch, und ich sehe nach all den Wundern der Erde mit Behagen »Münchner Bilderbogen« an und erfrische mein Gemüt an den herrlichen Variationen des Verses:

»Wenn der Mops aus dem Napf die Wurst verschlingt, Und der Storch mit dem Frosch übern Napf wegspringt.« – –

Sinniger läßt sich das Treiben um mich her nicht schildern.

Bin ich nicht müde genug, um in derartigen Tiefen Erquickung suchen zu müssen, so genügt ein Gang durch die Gemäldegalerie, mich in die Heimat zurückzuversetzen. Die Räume haben sich bereits entleert, und an das Gedränge von Tausenden gewöhnt, ist man ordentlich allein, wenn vielleicht nur noch hundert oder zweihundert Personen sich um die Bilder drängen. Dort schreitet Nero düster über die Trümmer von Rom – hier liegt Egmont in seinem Blut – dort ist Dantes »Göttliche Komödie« in zwölf kühnen Skizzen verkörpert – hier steht Goethes Faust oder Shakespeares Richard leibhaftig vor uns. Der Bau der Pyramide und die Zerstörung des Malakows, der stille Gebirgssee der Alpen und der Hurrikan im heißen Süden, der betende Araber in der Wüste und Franklins eingefrorene Fregatte, alle Zeiten, alle Himmelsgegenden, alle Kräfte des Menschen haben hier oben im Reiche der Phantasie geschaffen wie drunten im Reiche des Verstandes. Ein Turm von Babel, der Völker und Zeiten vereinigt, scheint endlich fertig geworden zu sein nach vier- oder fünftausend Jahren. Aber wann werden die Millionen aufhören zu bauen? Und was wird der große Geist heute tun, der damals ihre Sprachen verwirrte?

Doch nicht alle Abende enden mit diesem Pathos. Manchmal bin ich auch im engen Stübchen der württembergischen Kommissionen zu finden, schlau mit einem Vertrauten eine der ausgestellten Neckarweinflaschen entkorkend. Wir trinken auf das Wohl der fernen Heimat in Ermangelung von Gläsern aus Gugelhopfnäpfchen, ausgestellt von Maier oder Müller in Gmünd oder Aalen. »Ein jeder Stand hat seine Bürde, ein jeder hat auch seine Lust!«


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