Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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28.

London, den 15. April 1862.

Es ist Nacht und geht auf zwölf; der erste Augenblick, den ich seit zehn Tagen für mich habe, und dieser nicht ohne hundert störende Gedanken an Packträger und Weltenglück, Eisenbahnwagen, Karrengäule, Maler, Schreiner und Schlosser, Rechnungsabschlüsse, Patentbeeinträchtigungen und Gipsfigurenhändler!

Das Haus schläft, Middleton Square schläft, drei Viertel von London schläft, und ich hätte eigentlich auch ein Recht dazu.

Wo und wozu soll ich auch anfangen, Euch auf einem Oktavblättchen zu beschreiben, was die Menschheit seit etlichen tausend Jahren fertiggebracht hat und hier zusammenschleppt? Von morgens früh bis in die späte Nacht ist's ein Jagen und Treiben, das jeder Phantasie spottet; die trockenen Engländer tun's ruhig, die Franzosen tun's zappelnd, und die Deutschen mit zornbebenden Nerven und triefender Stirne. Doch sind meine lieben Landsleute die letzten, und wenn auch alles andre bis zum 1. Mai fertig wird, so wird doch der Zollverein seine unrühmliche Sonderstellung wahren. Heute konnte ich eine halbe Stunde ersparen und rannte in den entgegengesetzten Flügel des Riesenbaues, um meinem Vaterland einen Besuch abzustatten, über messingene Löwen und Apostel aus Terrakotta, über Armstrongkanonen und Mähmaschinen, über Porphyrsäulen, Glocken, Orgeln, Mahagonistämme, Schiffsanker, Seehundsfelle, Kölnischwasser-Springbrunnen, Seifenkandelaber, Bessemer Stahlplatten und dunkle, nicht zu enträtselnde Gerüste aller Art wand ich mich durch die lärmenden Gebiete von Jamaika, Kuba, Ceylon, England, Frankreich, Belgien und Skandinavien durch, bis ich in ein stilles Viertel kam, wo, wie vergessen, aber zur Turmhöhe aufgebeugt, Kiste an Kiste stand und darauf das Wappen meines großen sowie das meines kleinen Vaterlandes prangte.

Die einzige Stunde, die ich am vorigen Sonntag ersparen konnte, verwandte ich zu einem Besuch bei Direktor von Steinbeis, der mir von jeher so vieles Wohlwollen gezeigt und so manchen Empfehlungsbrief geschrieben hat. Der wackere Mann ist krank vor Elend und Kampf und Arbeit. »Alles, was die Preußen bis jetzt zustande gebracht haben,« klagte er, »ist, unsern Tischbeinen schwarz-weiße Hosen anzuziehen! Natürlich muß ich sie gleich wieder ausziehen lassen!«

Mein Tempel ist halb fertig und findet bereits allgemeine Anerkennung. Ich hoffe, er wird in der englischen Agrikulturabteilung ohne Nebenbuhler dastehen. Unser Nachbar, Fowlers Hauptgegner in England, Mr. Howard, ist erbost. Dies ist ein gutes Zeichen. Alles um mich her macht mir viel Spaß, Freude, Stolz, Arbeit, Mühe und Demütigung. Denn es ist unglaublich, wie vieles in der Welt ist, von dem man nichts gewußt hat, und das man nicht versteht.

So feiern wir im frommen England – »die stille Woche!«


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