Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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8.

Paris, den 12. September 1860.

Aus drei bis vier Tagen sind zehn geworden, und meine Furcht, Paris nur im Fluge sehen zu können, war unbegründet. Ich wäre bald auf den Boulevards so heimisch geworden wie in den Fabrikvierteln des Faubourg St. Antoine oder im Quartier latin, dem eigentlichen Tummelplatz meiner Leiden und Freuden. So groß sie ist, findet man sich doch in dieser Weltstadt leicht zurecht, und nie habe ich es hier bereut, manchmal auf Irrwege geraten zu sein.

Denn Paris ist schön. Man begreift es, wenn man nach St. Cloud oder Versailles fährt, unter sich das Riesenwerk der Menschenhände mit den Bögen, Toren und Kirchen, mit den sonnigen Hügeln des Montmartre, des Père Lachaise, mit der Seine und ihren Brücken, alles durchwoben von dem Grün ausgedehnter Gärten und Parke, dem Bois de Boulogne entlang. Ja, man begreift es, warum die Franzosen stolz sind auf ihr schönes Frankreich. Dazu die liebenswürdige Art der Leute dem Fremden gegenüber, die heiter-leichtsinnige Weise, mit der uns selbst das Laster entgegentritt, die quecksilberne Lebendigkeit dieser elastischen Naturen! Der gute Deutsche, über dem alles »schwer« wird, der an seinen Tugenden schleppt wie an seinen Fehlern, fragt sich nach ernstem Nachdenken vergeblich: »Wie ist's möglich?«

Aber wie soll ich's anfangen, aus dem erschöpfend Vielen, das ich gesehen, das Beste herauszugreifen? Ob hier der Telegraphenstil am Platze wäre? Sei's um einen Versuch!

Samstag mittag von Berg abgefahren. Gesellschaft: unnötige Geschäftssorgen. In Straßburg einen Blick auf die neue Rheinbrücke und das alte Münster; keine Zeit für einen zweiten. Von hier erste Klasse. Nacht. Morgendämmerung. Festungswerke von Paris. Unbehaglich. Erstes Französisch auf französischem Boden. Erfolg: Fiaker, Hotel Violet, deutsche Kellner, dunkles Stübchen, glänzend ausgestattet.

Nein! Der Stil behagt Euch so wenig als mir. Fallen wir in den alten Ton zurück.

Es war Sonntag und deshalb geschäftlich nichts zu machen, als Empfehlungsbriefe auszutragen. Diese brachten mich in die Gesellschaft etlicher Landsleute, welche mich in das Allgemeinste des Pariser Lebens einführten. Man ließ mich die Boulevards anstaunen und Hummern frühstücken und ergötzte sich an meinem Ergötzen. Dann fuhren wir nach St. Cloud, wo sich gegenwärtig der Kaiser aufhält und ein Cannstatter Volksfest im Gange ist. Die Wasserwerke sprangen, und in den herrlichen Anlagen bewegte sich eine halbtolle, jubelnde Volksmenge, der man die Gewitterschwüle, die »Er« von jenem zierlichen Schlößchen aus über ganz Europa heraufzuzaubern weiß, nicht anmerkte. Seiltänzer und Gaukler tanzten und schrien wie bei uns. Das lärmende Treiben um mich her, all das Ungewohnte und Fremde, und das Ungewisse meiner geschäftlichen Aufgabe lastete mir jedoch wie ein Alp auf dem Herzen. Beruhigend wirkten dagegen die prachtvollen Riesenbäume, die sich über dem lärmenden Bilde wölbten. Die stille Natur hat selbst hier ihre segnende Kraft nicht ganz verloren. Später machte man mir begreiflich, daß für einen ersten Tag in Paris eine unerläßliche Pflicht zu erfüllen sei: der Abend schloß mit den Champs Elysés und mit Mabille, seinen künstlichen Beeten und Teichen, seiner Musik, seinen Tänzen und der ganzen künstlichen Gaslichtpracht der Weltstadt.

– – »Entrez!« – –

Ich wurde nämlich, nicht zu meinem Bedauern, mitten in der letzten Zeile von einem jungen Zivilingenieur unterbrochen, der, meine Hilflosigkeit vermutend, der Firma G. Kuhn zu Berg seine Dienste anbot, und hatte einige Mühe, ihn wieder hinauszukomplimentieren. Es ist dies mit viel Höflichkeit gelungen, so daß ich in geschäftsmäßigerem Tone fortfahren kann.

In der Rue Roußlet, in einem abgelegenen Viertel auf dem jenseitigen Seineufer, stand der Gegenstand meiner Sehnsucht und meiner Furcht – die neuerfundene Lenoirsche Gasmaschine. Als ich endlich das Haus fand, hieß es: die Maschine sei nur von drei bis sechs Uhr zu sehen. Also hatte ich abermals Zeit zu vergeuden. Der Jardin des Plantes lag, wenn auch nahezu drei Viertelstunden entfernt, doch von allem Sehenswerten mir am nächsten. Es war eine wohltuende Stunde, nach dem bunten Treiben der Straßen plötzlich unter Zypressen und Pinien, zwischen Damhirschen und Lamas, zwischen Nilpferden und Eisbären zu wandeln. Die gewaltigen Bestien haben etwas Possierliches, wenn ein Gitter zwischen uns und ihnen ist. Was den Jardin des Plantes allen ähnlichen Anstalten gegenüber auszeichnet, ist die Menge von Raum, die jedem Tiere zu Gebot steht. Man ist halb in der Natur.

Darauf zurück in die Rue Roußlet. Die Maschine, von einer Masse Neugieriger umringt, arbeitete scheinbar anstandslos. Allerdings wurde auch, wie man sehen konnte, keine wesentliche Kraftleistung von ihr verlangt. Auch sah ich nach kurzer Beobachtung, wo der Fehler lag, der in Berg zu einem vorläufigen Mißerfolg geführt hatte. Um es kurz zu machen, ich habe den Zweck meines Aufenthalts mehr als genügend erreicht, habe mit den nicht immer ganz ritterlichen Waffen unsrer argen Zeit eine Schlacht gewonnen und trage die Maschine im Kopf davon. Sie ist, wenn man will, glücklich gestohlen!

Ihr schüttelt den Kopf? Ich auch. Hat jeder Stand vielleicht seine eigne Ethik? Ich fühle mich noch zu jung und zu siegesfroh, und überdies noch zu sehr in Paris, um diese Frage zu erörtern.

Zweimal war ich im Louvre, halb betäubt von dem Reichtum des Schönen und Großen aller Zeiten. Die Stiere von Ninive und die Sphinxe Ägyptens, die Panzer und Schwerter der Gallier und der Deutschen, die Kunstschätze Roms und Griechenlands, die Werke Raphaels und Tizians und die ganze üppige Pracht unsrer Zeit: das ist zuviel auf einmal. Um mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden, flüchtete ich auf den Pere Lachaise; aber auch dort wimmelt es vom Großen, das war.

Wie gewonnen, so zerronnen! Die Spionenfahrt nach Paris führte zu nichts Gutem. Das Triumphgefühl, mit dem ich die Stadt des Lichts und des Gases verlassen hatte, veranlaßte allerdings den Bau einer zweiten Maschine, die sich ähnlich wie die Lenoirsche betrug. Das ganze, heute glänzend gelöste Problem lag jedoch noch zu sehr in den Windeln, um auf diesem Wege zum Ziel gelangen zu können, und erst später lernte ich als eine unumstößliche Wahrheit erkennen, daß man Erfindungen nicht macht, indem man um die Bude andrer herumschleicht. Es war dies meine letzte größere Arbeit in Berg. Der kurze Ausflug nach Paris hatte mir die Augen für die Welt geöffnet, die jenseits der Grenzpfähle meiner Heimat lag. Koste es, was es wolle, ich mußte mehr von ihr sehen. Während des Winters reiften meine Pläne. Ende März löste ich die Verbindung, die mir bis dahin eine befriedigende Stellung geboten hatte, und ging hoffnungsvoll, mit dem Gefühl, eine unabweisbare Pflicht zu erfüllen, einer ungewissen Zukunft entgegen. Meine Pläne? Sie waren einfach genug: Hinaus; lernen und lernend schaffen war mein erster und letzter Gedanke. Alles andre mußte sich finden.


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