Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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103.

Springfield (Illinois), den 6. April 1867.

Eine Entdeckungsreise, wie ich fürchte, ohne große Entdeckungen!

Neuorleans verließ ich mit dem Gefühl, daß vorläufig das Mögliche geschehen sei, daß ich aber in spätestens vierzehn Tagen zurückkehren werde. Ich gab deshalb auch meine Wohnung nicht auf, in der ich den größeren Teil meiner beweglichen Habe zurückließ.

Mein Ziel war zunächst St. Louis, die Haupt- und Hafenstadt von Missouri, die ich mit der Bahn in etlichen sechzig Stunden ohne weiteren Unfall erreichte.

Die Fahrt das Mississippital heraus bietet landschaftlich äußerst wenig Anziehendes. Mit Luisiana verschwinden die moosbehangenen Eichen und die fächerförmigen Palmetten der Sumpflandschaften des Südens. Der wellenförmige gelbe Lehmgrund ist mit unabsehbaren Wäldern bedeckt, in deren Lichtungen vernachlässigte Baumwollen- und Maispflanzungen, ärmliche Blockhäuser und weitangelegte leer aussehende Städtchen mit grotesken Namen erscheinen und verschwinden. Die Frage: »Was werden wir essen?« ist bis Kairo eine brennende; denn die Bahnhofspeisetische in Mississippi und Tennessee sind ein treues Bild der allgemeinen Not des Landes. In der Nähe von Kolumbus (Kentucky) war selbst von der Bahnlinie nichts mehr zu sehen. Die Schienen lagen schuhtief und meilenweit unter Wasser und waren oft auf der einen Seite dermaßen gesunken, daß man im Wagen kaum noch stehen konnte, ohne sich zu halten. Der hohe Wasserstand des Mississippi und mannigfache Dammbrüche veranlaßten diese nicht gerade erbaulichen Zustände. – Nach einer Fahrt von etwa vierzig Stunden betritt man in Kolumbus einen Dampfer, der in drei Stunden Kairo erreicht – eine wohltuende Unterbrechung. Die Ufer des Flusses, obgleich auch hier noch ganz flach, müssen mit ihren hohen, stattlichen Wäldern einen prachtvollen Anblick gewähren. Jetzt natürlich ist noch alles kahl; auch ist mir der Unterschied zwischen dem Kairo der Alten und der Neuen Welt schmerzlich aufgefallen, obgleich man kaum Zeit hat, sich desselben bewußt zu werden. Fort geht's, durch Sümpfe und Wälder, meilenweit im Wasser und dann allmählich auf die höher gelegene Ebene der Prärien von Illinois empor. In Odin, dem Kreuzungspunkt der südnördlichen und ostwestlichen Haupteisenbahnlinien des Staates, gibt es den ersten und einzigen Aufenthalt von etlichen Stunden. Es ist eine jener nagelneuen Präriestädte, die man, ehe das erste Haus gebaut ist, damit beginnt, Meilen künftiger Straßen auszustecken. Alles ist neu, alles auf die Zukunft berechnet; kein Hintergrund, räumlich und zeitlich! Die gute, deutsche Vergangenheitsduselei fühlt sich unglücklich in einer solchen Welt. Dafür unterhielt mich ein Neuyorker Advokat mit Bank- und Aktienschwindelgeschichten neuesten Gepräges, Dinge, die einem europäischen Ohr fast so unglaublich klingen, als daß die Stadt, in der wir uns befinden, vor fünf Jahren noch aus fünf Häusern bestanden habe.

Wir kamen in St. Louis nachts um ein Uhr an. Der Gasthof, in dem wir zu wohnen beabsichtigen, das Lindellhouse, einer der größten der Welt, stand in lichten Flammen. Ein großartiger Anblick, einen Palast mit einer Front von etlichen hundertundfünfzig Fenstern zum Himmel emporprasseln und dann zusammenstürzen zu sehen!

St. Louis ist auf hügelförmigem Grund dem Mississippistrom entlang gebaut und erstreckt sich mit seinen geschmackvollen Landhäusern tief gegen Westen. Die deutschen Einwanderer bilden die Mehrzahl der ursprünglichen Bevölkerung, weshalb man hier mehr schlechtes Englisch und weniger Deutsch zu hören bekommt als anderswo. Doch bilden unsre Landsleute im ganzen Westen ein Element, auf das wir stolz sein dürfen. Sie haben dem Charakter der dortigen Amerikaner ein eigentümliches Gepräge aufgedrückt, das ihn von dem der Yankees bis in die Bartform hinaus unterscheidet. Den Deutschen findet man freilich in dieser Gestalt nur noch tief unter der Oberfläche, wo sich im Farmer und Kaufmann etwas von dem alten Pedanten zeigt, vom Festhalten durch Dick und Dünn an einer vorgefaßten Idee, aber auch vom stetigen, umsichtigen Vorwärtsschreiten nach einem bestimmten Ziele. Hart arbeiten ist die Lust dieser Leute und viel mißbraucht werden ihr Los fast in der ganzen Union.

Mit den Dampfpflügen ist es in der nächsten Umgebung von St. Louis nichts. Wo Deutsche sind, sind die Güter klein und zerstückelt und meist mit Mühe dem Urwald abgezwungen. Ein kurzer Ausflug nach Nordmissouri überzeugte mich davon. So ging ich denn vor einigen Tagen nach Springfield, »der Präriestadt«, wie die Hauptstadt von Illinois genannt wird, und fuhr oder ritt auf einem Dutzend Präriefarmen umher, die für Dampfpflüge wie geschaffen scheinen. Hier im fernen Westen bin ich nun ganz ohne Einführungen und Empfehlungen und habe im vollsten Sinne des Worts den Kampf des Pioniers zu kämpfen. Doch sind die Leute fast ohne Ausnahme freundlich, zuvorkommend und bereit, einem weiter zu helfen, wie man's in Europa selten findet. Morgen gehe ich nach Chikago, wo der Präsident der Illinois-Zentral-Rail-Road, wie er mir schreibt, das seiner Bahn gehörige Prärieland aufgebrochen haben möchte. Dann – – doch wozu Pläne für die Zukunft, in einem Land, das nur die Gegenwart kennt?


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