Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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108.

Albany, N.-Y., den 23. Juni 1867.

Seit einem Monat quälen wir uns mit dem ersten Schritt zur Einführung der Seilschiffahrt auf dem Eriekanal.

Die Erlaubnis, auf seinen Grund ein Drahtseil zu legen, hängt von den drei »Kanalkommissären« und dem »Kanalboard« ab, einer Wirtschaft, die »Stein erweichen, Menschen rasend machen kann«.

Das »Kanalboard« besteht aus zehn vom Volke des Staats Neuyork erwählten Bürgern, die alle Monate einmal die Kanalverhältnisse besprechen und die »Kanalkommission« beaufsichtigen. Die letztere hat die staatlichen Kanäle in technischer und finanzieller Beziehung zu verwalten. Das Amt erfordert daher drei nach diesen beiden Richtungen hin durchaus gebildete Männer von strenger »republikanischer« Rechtlichkeit, da Bau und Erhaltung der Kanäle Millionen der öffentlichen Gelder beanspruchen. Nichtsdestoweniger wird die Besetzung dieser Posten von dem souveränen Volk als reine Parteifrage behandelt und mit jedem Umschwung der politischen Launen der Massen ein andres Beamtenkorps eingesetzt, welches gewöhnlich das alte an Unfähigkeit und vor allem an Gier übertrifft, die kurze Frist, die ihm vergönnt ist, zum eignen Vorteile nach Kräften auszunutzen. Ein Blick in dieses Getriebe genügt, um einen einfachen Menschen an der Menschheit verzweifeln zu lassen.

Unsre neue Maschine kam Ende Mai in Neuyork an. Die Kanalkommissäre wollten, wie billig, von der Brauchbarkeit und dem Nutzen der Seilschiffahrt überzeugt sein, ehe sie die Konzession gewähren zu können glaubten. Die Maschine wurde deshalb nach Buffalo geschickt, dort auf einem gemieteten Boot aufgestellt, mein »transatlantisches« Kabel wieder versenkt und die Geschichte in Bewegung gesetzt.

Es ist an sich eine interessante mechanisch-psychologische Aufgabe, das Trägheitsmoment des lieben Publikums zu überwinden. Wie bei einem gewaltigen Schiff, scheint es fast unmöglich, die Muffe in Bewegung zu bringen. Trotz Aufbietung aller Kräfte ist nichts fühlbarer als der tote Widerstand; erst nach und nach wird eine leise Bewegung bemerklich, die sich, mit jeder Minute wachsend, schließlich ohne weitere Kraftanstrengung nahezu selbst erhält. So ging es uns in Buffalo. Anfänglich hielt es schwer, selbst die Leute, deren Leben von der Kanalschiffahrt abhängt, dahin zu bringen, unsre Versuche auch nur anzusehen. Später lief die halbe Stadt, der Gemeinderat, die Handelskammer, die Kanalbeamten, die Zeitungen, und unser Sieg schien gesichert.

Der Stadtrat und die Handelskammer faßten Entschließungen, welche die alsbaldige Einführung des Systems empfahlen. Die Kanalkommissäre aber nicht also. Der in Buffalo war zwar wohlgesinnt, besaß aber nur ein Drittel der Staatsgewalt, die in den Händen dieser Körperschaft liegt. Der einzige Weg zum Ziele schien daher ein Angriff in Albany, der Hauptstadt des Staates Neuyork, wo der Kanal in den Hudson mündet und die andern Herren sowie die Kammer der Abgeordneten hausen. Dort mußte die Schlacht von Buffalo nochmals geschlagen werden. Hierzu hatten wir siebzehn Tage Zeit, denn auf dem Hudson-Delaware-Kanal, der in den Kohlendistrikten Pennsylvaniens seinen Anfang nimmt, mußte vor Ablauf von drei Wochen eine ähnliche Vorstellung gegeben werden. Mitte Juni war überdies die monatliche Sitzung des Kanalboards des Eriekanals. Auch deshalb hatte um diese Zeit unser Schleppzeug in Albany im Gang zu sein, wenn nicht wieder Monate verloren werden sollten.

van Havre, dem die widerwärtige Tätigkeit in Buffalo zum Tode entleidet war, glaubte auf acht Tage nach Washington gehen zu »müssen«, wenn er am Leben bleiben sollte. Unsre ziemlich bedeutenden Rechnungen in Buffalo sollten durch einen Wechsel von Neuyork aus bezahlt werden und ein andrer Wechsel sollte mich in Albany direkt bei meiner Ankunft erwarten, da wir nahezu unsre sämtliche Barschaft in den unzähligen kleinen und größern gelegentlichen Ausgaben aufgebraucht hatten, die in der Natur solcher Unternehmungen liegen. Nachdem diese Pläne besprochen waren, reiste van Havre ab, und ich packte meine Maschinen mit der äußersten Geschwindigkeit zusammen. Einen Versuch der Polizei, dieselben im Augenblick der Abfahrt infolge eines Zollmißverständnisses mit Beschlag zu belegen, das mich einen unbezahlbaren Tag kostete, kann ich nur berühren.

Eine Nachtfahrt brachte mich nach Albany, wo ich zunächst die maßgebenden Kanalleute aufzusuchen hatte, die über eine Oberfläche von etlichen vierzig Quadratmeilen zerstreut wohnen, was mir das Vergnügen eines Treibjagens mittels Eisenbahnen, Booten und Pferden gewährte.

Die Nacht darauf kamen meine Maschinen an, und nun begann ein toller Kampf; denn van Havres Wechsel, der nervus rerum gerendarum, wollte nicht erscheinen. Ich hatte noch sechzig Dollars in der Tasche. Die Fracht für die Maschinerie betrug achtzig Dollar. Die Bahnverwaltung wollte die Maschinen ohne Bezahlung nicht herausgeben, und jeder Tag, jede Stunde begann kostbar zu werden: denn am 18. mußte ich schlechterdings fertig sein. Ich telegraphierte nach Washington, Philadelphia und Neuyork um Geld. Das Haus in Philadelphia mit dem die Fowlers in Verbindung stehen, schickte umgehend einen Wechsel von zweihundert Dollar, da jedoch die Firma in Albany nicht genügend bekannt war, mußte ich ihn wieder zurücksenden und um bares Geld bitten, van Havre telegraphierte, daß sein Bankier den versprochenen Wechsel geschickt zu haben behaupte. Drei Wochen später stellte sich heraus, daß derselbe aus Versehen nach Buffalo gegangen war. Es war Freitag, und der 18. war am folgenden Dienstag. Ich machte jetzt verzweifelte Versuche, meine Uhr zu verpfänden, eine Situation, in die ich in diesem Leben noch nie gekommen war, konnte aber kein Pfandhaus finden und hatte, als Neuling, meine Bedenken, nach einem solchen zu fragen. Am Freitagabend nahm die Bahnverwaltung so weit Vernunft an, daß man wenigstens mit der Montierung auf dem Boot, das ich indessen auf Treu und Glauben gemietet hatte, beginnen konnte. Ich ließ das Drahtseil, das vierhundert Dollar wert ist, als Pfand zurück und bekam dafür die Maschinenteile heraus. Wie aber Unglück selten allein kommt – während des Montierens, bei dem ich natürlich im Drang des Augenblicks nach Kräften Hand anlegte, muß mir meine Brieftasche aus der Tasche gefallen sein, und als ich abends meine acht Arbeiter bezahlen wollte, fand sich, daß ich nicht mehr einen Cent besaß.

van Havre sollte an diesem Abend ankommen, kam aber nicht. Auch Geld von Neuyork, das möglicherweise hätte da sein können, tauchte nicht auf. Überdies befand sich jeder Nachweis über meine Persönlichkeit, ohne den ein Wechsel nicht zu versilbern ist, in der verlorenen Brieftasche. Mit dem Mute der Verzweiflung kündigte ich trotz alledem in den Abendzeitungen an, daß am Dienstag die Seilschiffahrtsversuche beginnen werden.

Am Sonntag aber »war ich stille nach dem Gesetz« und wußte warum. Es ist ein eigentümliches Gefühl, im ersten Hotel einer Stadt wildfremd und ohne einen roten Heller zu sitzen.

Montag früh kam das Geld von Neuyork. Eine Stunde später war ich im Besitz meines Drahtseils. Drei Stunden nachher war alles an Bord und eben, als wir im Begriff waren, den Kanal hinauf nach dem mir angewiesenen Platze zu segeln, kam auch van Havre von Washington mit vollen Taschen. Am Dienstagnachmittag war ich bereit.

Das Kanalboard kam jedoch nicht. Die Herren waren zur Zeit selbst in der größten Not. Der Hauptkanal war im Lauf der letzten vierzehn Tage infolge der bodenlosen technischen Verwaltung an vier oder fünf Stellen gebrochen, die Schiffahrt nahezu eingestellt und das ganze Land schrie Mord und Brand. In den Zeitungen wurden die Kanalkommissäre behandelt, wie es nur in amerikanischen Zeitungen möglich ist. »Spitzbuben, Schufte, unfähige Esel«, waren ihre mildesten Titel in den Oppositionsblättern, und »bedauerliche Nachlässigkeit, wirklich unverantwortliche Fehler« der wehmütige Ton ihrer eignen Organe.

So gelang es denn erst am letzten Tag ihres Zusammenseins, sie mittels Champagner und Droschken an Ort und Stelle zu locken, wo sie dann nach den Leiden der letzten Tage sich gütlich taten, ihre hohe Zufriedenheit mit unserm Tun aussprachen und die Konzession am 9. Juli, ihrem nächsten Sitzungstage, zu geben versprachen.

Morgen gehe ich an den Hudson-Delaware-Kanal. van Havre geht natürlich wieder auf ein paar Tage nach Washington, wohin ihn Herzensangelegenheiten ziehen, und läßt mich allein zappeln. Trotzdem ist er ein liebenswürdiger Kamerad, mit dem, oder richtiger gesagt, für den ich gerne arbeite.

Im Süden will's mit den Dampfpflügen noch nicht vorwärts gehen. Luisiana hat in den letzten Monaten unsäglich gelitten. Die Dammbrüche haben die nächste Zuckerernte nahezu vernichtet. Mississippi und Alabama ist nicht viel besser daran und die täglich aufgeworfene Frage ist, wie Tausende und aber Tausende von Menschen wenigstens vom Hungertod gerettet werden können, dem sie im Südosten tatsächlich erliegen. Die unmittelbare Folge hiervon war, daß die Dampfpfluggesellschaft, welche Longstreet begründet zu haben glaubte, wieder zerfiel und die drei Pflüge bis auf weiteres nicht bestellt werden. Eine bittere Pille!

Was greifbare Erfolge betrifft, war all mein Arbeiten in Amerika bis jetzt soviel als weggeworfen: das Wegwerfen des Säemanns, der seine Körner auf einen fast unbekannten Boden streut. Meine Freunde in England sind sich zum Glück vollständig klar darüber, daß wir mitten in einem Versuch stehen, und schreiben in der freundlichsten und ermunterndsten Weise, ich möge nur den Mut nicht verlieren, überdies bin ich allmählich auf der Stufe des Arbeitens und Schaffens angelangt, auf welcher die getäuschten Hoffnungen von heute und die übertroffenen Erwartungen von gestern wenig entscheiden. In engeren Verhältnissen ist dies anders. Ein Sieg, eine Niederlage bringen dort gewöhnlich die Frage zum Austrag. In dem Krieg, in dem ich hier lebe, wechseln beide unaufhörlich und eine der großen Aufgaben ist, ein kühles Urteil über ihren Wert zu bewahren und beide nicht zu überschätzen.


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