Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

49.

Thalia, den 10. August 1863.

Prrr! ein ander Bild! Wenn Euch mein Leben aus hundert unzusammenhängenden Stückchen zu bestehen scheint, so wäre dies ein Beweis, daß ich richtig schildere. Könnte ich alle aneinanderreihen, so würde es nur noch zerfetzter erscheinen. Begnügen wir uns mit dem letzten!

Von Thalia, einem mir bis vor kurzem noch unbekannten großen Gute des Prinzen, war die Nachricht angelangt, daß die Bestandteile unsrer neuesten Dampfpfluglokomotive nicht nur angekommen, sondern auch ausgeladen seien, und zwar so, daß der steigende Nil sie zu überschwemmen drohe. So war meine plötzliche Abreise, ein plötzliches Zusammenstellen der Maschine und eine plötzliche Flucht mit ihr aus dem Bereich der Wassersnot dringend notwendig geworden, und der Nil hatte für Euch eine Skizze meiner Wohnung in Schubra und die glühende Beschreibung der »Fantasia« zu Ehren des Nildurchstichs in Alt-Kairo mit einem Schlage hinweggeschwemmt.

»Très bien, Mr. Eyth, demain matin, s'il vous plaît!« endet der Prinz mit gewohnter Höflichkeit die Besprechung dieser Verhältnisse und sieht mich in unwürdiger Hast, denn es ist schon sehr spät für alles, was heute noch geschehen muß, seinem Marmorkiosk entfliehen. Sechs arabische Schlosser und Maschinenwärter sind durch meinen Kawassen rasch zusammengetrommelt, wehren sich aber einstimmig gegen ihre Abreise. Der gewöhnliche Vorwand ist, daß sie kein Brot hätten. Nachdem es gelungen, sie zu überzeugen, daß das Brot auch bei Nacht gebacken werden könne, versprechen sie endlich, morgen bei Tagesgrauen auf dem Boot zu sein – »inschallah!« (»wenn es Gottes Wille ist!«) – ein unter Umständen ebenso frommer als bedenklicher Beisatz. Ich selbst reite nach Kairo, kaufe Tee, Zucker, Spiritus, packe Bett, Kochapparat, Leuchter und Lichter zusammen und vergesse natürlich die Zündhölzchen. Ein gutes Haus, hatte mir Halim-Pascha gesagt, werde ich in Thalia finden.

Am Morgen lag der niedliche Dampfer für mich bereit, und gegen elf Uhr fuhren wir endlich ab; neben mir meine Schlosser, mein Dolmetscher und mein Kawaß. Es war eine wunderliebliche Fahrt auf dem mächtigen braungelben Strom, der da und dort den Kamm seiner Dämme berührte und einen freien Blick auf die herrliche Landschaft gestattete; nach Süden mit ihren Felsbergen und Pyramiden, nach Osten mit den Dörfern zwischen grünen, noch nicht überschwemmten Feldern und den zierlichen Palmenhainen am Horizont, nach Norden die scheinbar meerartig sich ausdehnende Wasserfläche, stets belebt von den blendenden Segeln der Nilboote, und im Westen endlich die gelbe, lautlos glühende Wüste, die sich mehr und mehr dem Flusse zudrängt, bis man sie endlich nach dreistündigem Fahren bei Thalia förmlich von den Wellen des Nils bespült sieht.

In der reißenden Strömung flog das Boot den Fluß hinunter. Thalia liegt auf dem rechten Ufer des Nilarms von Rosette, etwa fünfzehn Stunden unterhalb Kairo. Auf der andern Seite des Stroms, dem Gute gegenüber, befindet sich in der ansteigenden Wüste ein kleines Jagdschloß Halims, von wo aus er Gazellen zu jagen pflegt. Das Gut selbst steht unter einem Bei, der mich am Ufer empfing und alsbald zum Nachtessen einlud. Mit Ausnahme des Prinzen ist er der anständigste Türke, dem ich bis jetzt begegnet bin, und da ich in arabischen Tischgebräuchen bereits eine gewisse Gewandtheit besitze, so kamen wir vortrefflich miteinander aus.

Diese Art zu essen hat etwas ungemein Gemütliches. Man setzt sich im Kreis um ein riesiges Kaffeebrett, auf dem für jeden Gast ein rundes arabisches Brot liegt, das als zeitweiliger Teller dient. Ein Schwarzer oder Brauner bringt ein Wasserbecken, in dem man sich unter vielen Höflichkeitsbezeugungen die Hände wäscht. Sodann bringt ein andrer eine Platte mit einem mächtigen Kapaunen, der in Flädchen eingehüllt ist, oder eine ähnliche kräftige und stets sehr gut gekochte Fleischspeise. Man reißt dem Geschöpf nun nach Kräften Stücke aus dem Leib, wie's gerade kommt, und führt sie ohne weitere unnötige Vermittlung zum Munde. Hier und da legt mir auch mein Gastwirt mit einladendem Lächeln die Beute eines besonders kühnen Griffes auf mein Brot, was ich dankend anerkenne. Und so verschwindet allmählich der Kapaun und macht einer Reihe kleinerer Gänge Platz, bis eine Schüssel Reis den Schluß andeutet und man sich abermals die Hände wäscht, um Kaffee zu trinken.

Da mein »Haus« noch nicht ausgekehrt war, schlief ich in der ersten Nacht an Bord, vollständig im Freien auf offenem Nil. Abends ist dies nach den glühenden Tagen der gegenwärtigen Jahreszeit angenehm; morgens aber läßt die Sache zu wünschen übrig. Es wird empfindlich kühl, und der Taufall ist bedeutend. Was jedoch Millionen meiner braunen Mitmenschen ertragen, ertrage ich wohl auch.

Dann folgte ein Tag voller Arbeit, währenddessen ich kaum Zeit fand, zuweilen einen Blick auf die reizende Umgebung zu werfen. Vom Nil bespült, unter dichten Sykomoren lag neben einer schlichten Dorfmoschee unsre Maschine, die sich allmählich auf ihre Räder erhob, was nicht ohne viele Anrufungen des Propheten abging. Einer der Hauptschreier sang bei jeder heftigeren Anstrengung den etwas anzüglichen Vers: »Mögen deine Gläubigen ihr Tun bereuen!« Doch finde ich im allgemeinen die Araber willig und gutartig genug.

Als gegen Abend die Sonne hinter den Bergen der nahen Wüste untersank, freute ich mich herzlich auf eine vernünftige Ruhe in meinem »Haus«, das ich aber noch nicht gesehen hatte. Müde und erwartungsvoll folgte ich etlichen sechs dienstbaren Geistern, die meine sieben Sachen davonschleppten.

Wir erreichten das »Haus«. Von außen, obgleich nur aus Backsteinen von an der Sonne getrockneter Erde erbaut, sah es in der Dämmerung nicht so übel aus. Die eine Hälfte, zur Schreibstube eingerichtet, war verschlossen; die andre, die mir dienen sollte, war ein ziemlich großes viereckiges Gemach mit nackten Wänden und nacktem Boden aus Nilschlamm. Allerdings war dieser Raum ausgekehrt, aber auch völlig leer. Mit durch die Müdigkeit gesteigerter Entrüstung wandte ich mich an den Nasir, der das Ganze mit Wohlgefallen betrachtete, und verlangte heftig irgend etwas, um darauf zu sitzen, zu stehen oder zu liegen. Besänftigend berührte der gute Mann meinen Arm, und vier der braunen Kerls verschwanden. Mein Dragoman begann auszupacken und machte Licht, um die trostlose Einsamkeit zu beleuchten. Mittlerweile kamen die Araber zurück und schleppten zu meinem Erstaunen den Flügel des Haustors, einen halben Spitzbogen bildend, zur Tür herein, worauf sie sich abermals entfernten und vier Wurzelstumpen verstorbener Palmbäume stöhnend herbeibrachten. Auf die Stumpen wurde das Tor gelegt, über dieses eine Schilfmatte gebreitet, und abermals sah mich mein arabischer Freund mit strahlenden Augen an und suchte in den meinen nach dem Ausdruck der Befriedigung.

Nun schob ich mit einiger Mühe die dunkle Schar meiner Beobachter und Mitarbeiter zur Tür hinaus und begann Tee zu machen. Mein Dragoman, der etwas kochen kann, schlug draußen am Nilufer Eier ein, und meine Stimmung hob sich. Nachdem ich mich überzeugt hatte, daß die Haustür wirklich zur Hälfte verschwunden war und daß von der Befestigung eines Moskitovorhangs keine Rede sein konnte, richtete ich mich auf meinem Bett so bequem als möglich ein und begann mit schauderndem Behagen eine jener meisterhaften Schilderungen von fröstelnden Novemberabenden in London zu lesen, wie sie nur mein derzeitiger Freund und Liebling Dickens zu geben vermag.

Es war eine gespenstige Nacht. Nichts unterbrach die Stille als das Murmeln des Nils, das leise Rauschen der Sykomoren in der noch schwülen Nachtluft und das laute Quaken von tausend Fröschen in den Pfützen hinter dem Haus. Dann kam eine schwarze Spinne schwebend von der Decke und gaukelte um mein Licht. Dann stürzten vier dickleibige Nachtschmetterlinge mit Geschwirr auf mein Buch, liebend oder mordend. Dann kamen große schwarze Käfer und kleine braune. Dann wollte eine dünne schwarze Katze zum Fenster herein; und als ich nach der offenen Stubentür sah, stand dort eine lautlose, weiße Gestalt, mit dunkeln, glühenden Augen mich betrachtend – ein Schakal, um mich in seinem Revier zu begrüßen. Es freute mich. Ich erinnerte mich der Gastfreundschaft des Arabers und richtete mich auf, um ihm ein Stück Brot zuzuwerfen. Aber, o Schrecken! – tausend und abertausend Ameisen lustwandelten emsig über den Restchen meines Tees, über meine Matte, über mein Bett und tausend und abertausend andre quollen noch immer aus einem der Baumstumpen hervor, auf denen mein ganzes Dasein beruhte.

Habt Ihr genug? Ich hatte es, und zum Schlafen kam ich nicht viel in jener ersten Nacht. Aber man lernt alles in Ägypten, selbst das Schlafen auf Ameisennestern.


 << zurück weiter >>