Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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18.

Manchester, den 11. August 1861.

Der große Wurf, der mich über das Hungersterben hinausheben soll, ist noch immer nicht gelungen. Ohne damit Zeichen von Mutlosigkeit oder Ungeduld geben zu wollen, denn meine Zähigkeit reicht genau soweit als mein Kredit, darf ich doch andeuten, daß mich mein alter Freund Unstern getreulich begleitet. Wäre ich vor sechs Monaten gekommen, sagt man mir, so hätte ich wohl nicht vier Wochen warten und suchen müssen. Aber die Wirren in Amerika und das auf der Napoleonschen Schwertspitze zitternde Gleichgewicht hierzuland haben auch in England eine Geschäftsstockung hervorgebracht, wie man sie seit Jahrzehnten nicht kannte. So bin ich nahezu mit meiner Wanderung durch die Fabriken Manchesters zu Ende und kann als Hauptergebnis volkswirtschaftliche und politische Betrachtungen auch in leidlichem Englisch anstellen.

Was die Industrie Gutes und Böses leistet, lernt man in Manchester kennen. Den Hauptreichtum des Bezirks erzeugen die Millionen Spindeln seiner Baumwollindustrie. Reichtum! Nirgends in England habe ich bis jetzt eine so bleiche, kranke, von Elend und Unglück angefressene Bevölkerung gesehen, wie sie hier aus den niederen, rauchigen Häusern herausgrinst oder auf den engen, staubigen Gassen der ärmeren Viertel herumliegt. Freilich ist das nur die Hefe des Volks, aber die Hefe umfaßt drei Viertel des Ganzen. Wenn die Engländer, selbst die ärmsten, nicht jenen eigentümlichen Reinlichkeitssinn in betreff der Wohnungen hätten, der nach unten hinsichtlich des Körpers und der Kleidung nur zu rasch verschwindet, es wäre ein Bild bodenlosen »Fortschritts«! Töricht wäre es trotzdem, der Industrie einen Vorwurf daraus zu machen. Sie ist und bleibt das einzige Mittel, die 500 000 Menschen hier, die Millionen in England auch nur auf dieser Stufe des Lebens zu erhalten. Nicht die Industrie hat das Häßliche geschaffen, das ihr anhaftet. Es ist eine Zukunft denkbar, in der sie sich auch aus diesem Schmutz herausarbeiten wird.

Durch Mr. Tylor bin ich wieder mit Fowler in Verbindung getreten, der kürzlich in Leeds drei Preise bekam und jedenfalls auf der kommenden Weltausstellung in London eine Rolle spielen wird. Ich habe, da auf seinem Zeichenbureau nichts zu machen ist, mich als Arbeiter angeboten und warte täglich auf Antwort. Es wird mir wunderlich vorkommen, wieder Feile und Hammer zur Hand zu nehmen. Aber ich werde ruhiger dabei sein, als wenn ich Aufsätze schreibe. Und blaue und rote Hemden sind hier billig.

Ganz bin ich die deutsche Erbsünde des Schriftstellerns noch nicht los geworden. Doch – ein gutes Zeichen – fällt mir's von Tag zu Tag schwerer. Ein Professor der Realwissenschaften zu Stuttgart hat es eben auch bequemer. Er nimmt ein Häuflein Bücher; das ist auch eine Welt, »das ist seine Welt!« Sie hat das Gute, daß man sie übersehen kann, daß sie sich nicht in unendlichem Reichtum vor ihm ausdehnt und ihn mit des Nichts durchbohrendem Gefühl erfüllt, wie es die wirkliche Welt jedem ehrlichen Kerl zu leide tut. Dann sagt er sich: »die Hauptsache ist der Stil!« und geht munter ans Werk. Ich armer Teufel, der ich mitten im Hanfsamen sitze, suche umsonst nach dem Stiel, an dem ich diese runde Welt, die sich vor meinen Augen dreht, packen könnte, und »bilde mir nicht ein, ich könnt' was lehren!« –


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