Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

55.

Mahallet-el-Mesir, den 25. Dezember 1863.

Es ist Christtag bei Euch. Gestern abend, als ich dem trüben Abendrot entgegen, denn auch der ägyptische Himmel ist nicht ewig blau, vom Nilkanal meinem Nachtquartier zuritt, dachte ich an die tausend Lichter, die nach wenigen Stunden in der Heimat brennen werden, um tausend und abertausend frohen Herzen zur Freude zu leuchten, während ich hier, so nahe der großen heiligen Vergangenheit, nur eine ärmliche Moschee und einen Abend mit zwei Talgkerzen vor mir sah. Und heute früh, als ich in erbarmungslosem Geschäftsdrang der Morgendämmerung und meinen sechs Schornsteinen entgegenging, die den meerähnlichen Horizont des Deltas auf Meilen überragen, obwohl sie keine sechs Meter hoch sind, da war mir's, als müßte ich das feierliche Glockenläuten hören, das Euch jetzt, vielleicht noch in tiefer Nacht, aus dem Schlafe aufweckt zum alten, treugepflegten Familienbrauch. Aber die Welt um mich her blieb still und tot.

Ich seh' es Euch an, wie Euch dieses Geständnis einen wehmütigen Stoßseufzer auspreßt. Ich habe es selbst erst in den letzten Jahren einsehen gelernt, wie sich menschliches Machwerk, Sitte und Gewohnheiten bis in die innersten Tiefen des Herzens einnisten. Was ist unser Christfest mehr? Die Kopten feiern die Geburt des Heilandes in zehn, die Syrer in achtzehn Tagen. In England wünscht man sich nicht »gesegnete«, sondern »lustige« Feiertage; in Frankreich und Italien ist Weihnachten ein Fest, das niemand sonderlich beachtet. In Deutschland nur hängen sich alle kindlich-religiösen Erinnerungen an diesen Festtag, und darum verletzt es unser Gefühl, wenn wir ihn brechen. Aber auch nur dieses. Und was ist Gefühl mehr als das ewig Schwankende, ewig Irrende in uns, über dem, unbewegt von unserm Wissen und Glauben, die ewige Wahrheit stehen sollte und steht.

Es scheint von jeher eine der Aufgaben meines Unsterns gewesen zu sein, mir den Genuß der Weihnachtsfeiertage zu verderben. Vor drei Jahren stand ich seufzend und dichtend bei meinen tropfenden Kesseln im Schwarzwald; vor zwei Jahren war ich so einsam und allein in Leeds, diesem Muster einer schwermütig-schmutzigen Fabrikstadt, als man es sein kann in fremdem Lande; desgleichen im vorigen Jahr, und heute bewohne ich eine Lehmhütte, benutze eine Maschinenkiste als Tisch und muß nachts mein Feldbett drei-, viermal verstellen, weil das Dach aus Maisblättern einem Winterregen im nördlichen Delta nicht standhält.

Es waren tolle Wochen in dieser Wildnis, in der jetzt fünf neue Dampfpflüge bereitstehen, die Frühjahrsarbeit in Angriff zu nehmen. Anfänglich glaubte ich fast, sie würden mir das Leben kosten, doch kehre ich gesünder aus den Deltasümpfen zurück, als ich sie betreten hatte.

Und rascher als ich erwarten und fast wünschen konnte. Denn ich schließe diesen Brief in Schubra.

Vor zwei Tagen erhielt ich nämlich plötzlich die Weisung, zurückzukommen, weil hier alles drunter und drüber gehe. Es ist so gefährlich nicht, wie ich heute wahrnahm, so daß ich übermorgen nach Thalia dampfen kann, um dortige Maschinen zu montieren. Dann geht's vermutlich zurück nach Kassr-Schech; worauf Schubra wieder mechanisch demoralisiert sein wird, und so in infinitum.

Meine unerwartet rasche Rückkehr von Kassr-Schech ist im wörtlichsten Sinn zu verstehen. Von Mahallet el Mesir nach Tanta, der nächsten Bahnstation, sind es acht Wegstunden, die ich auf einem feurigen Araber zurücklegte. Ihr wißt, wie es mit meiner Reitkunst bestellt war, als ich Ägypten betrat. Eine Stunde vor Tanta ging die Bestie, ihren gewohnten Stall witternd, mit mir durch und rannte mit wahnsinniger Geschwindigkeit über Stock und Stein der Stadt zu. Zuerst flog mein Hut, dann mein Taschentuch, dann ein Messer ins Weite. Längst hatte ich meine Reisegesellschaft aus dem Gesicht verloren, mit Ausnahme meines Dragomans, dessen Tier plötzlich denselben Drang verspürte und wie wütend hintendrein keuchte. Es war ein Wettrennen in bester Form. Da ich merkte, daß mein Rennen immer toller wurde, je lauter der andre galoppte, so schrie ich Abu-Sa zu, seine Rosinante um des Himmels willen anzuhalten. »Ich kann nicht, ich kann nicht!« war die verzweifelte Antwort und weiter ging's, »daß Kies und Funken stoben«. Noch stand ich in meinen schifförmigen Steigbügeln; als jedoch auch Streichhölzer aus meinen Rocktaschen flogen, dachte ich mit Ergebung: »Jetzt gute Nacht! Das nächste bist du!« Doch zum guten Glück war ich's nicht. Meines Dragomans Gaul gab das Rennen verloren und hielt still. Etliche hundert Schritte weiter fiel's dem meinigen ein, sich nach seinem Freund und Spielgenossen umzusehen, und triumphierend setzte ich mich wieder zurecht. So geht's, wenn man in der Jugend »nichts Rechtes« gelernt hat.


 << zurück weiter >>