Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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16.

London, den 11. Juli 1861.

Noch immer »London«, wie Figura zeigt – aber zum letztenmal für einige Zeit; denn heute halte ich großen geistigen, morgen großen leiblichen Packtag, übermorgen sollen Leib und Seele nach Manchester befördert werden, um zweifellos vom Regen in die Dachtraufe zu kommen.

Das Hausierengehen mit Empfehlungsbriefen ist – der Himmel weiß es! – der schwerste Teil meines schweren Berufes. Doch wozu soll ich Euch alle Bewegungen der sonst so gefühllosen Knorpelsubstanz, die bei mir das Herz vertritt, zergliedern, wenn ich eintrat in den fürstlichen Park einer Villa, die einem König meiner Welt gehört – oder in das stillgeschäftige Arbeitszimmer eines Zivilingenieurs – oder in den prunklosen, kohlen- und eisenbestaubten Empfangsraum einer Fabrik? Überall fand ich jedoch eine gewinnende Höflichkeit, die wir Deutsche erst noch lernen müssen, überall dieselbe geschäftige Zuvorkommenheit auch dem armen Teufel gegenüber, der nichts zu bieten hat als seinen Kopf und seine Arme – und was ist das in einer Welt, wo man nach Tausenden von Armen und Köpfen und nach Millionen von Pfunden rechnet?

Mit deutscher Gewissenhaftigkeit wollte ich keinen meiner Briefe unbenutzt lassen; der unscheinbarste konnte mich ans Ziel führen. Den wichtigsten aber, an Mr. Alfred Tylor, den Besitzer einer alten, aber in voller Blüte stehenden Metallgießerei und Maschinenfabrik im Herzen Londons, hatte ich auf zuletzt aufgehoben. Es ist doch etwas um den Instinkt! Ich suchte mich durch die fleischgefüllten Gassen um Newgate mit dem Bewußtsein, daß sich hier mein Londoner Schicksal entscheiden werde. Meinen Empfehlungsbrief hatte ich in gewohnter Weise so in die linke Rocktasche gesteckt, daß er im entscheidenden Augenblick mit einem sicheren Griff zu erreichen war; »ich hatte keinen zweiten zu versenden!« Der Holunderstrauch fehlte. Zwischen zwei Haufen alten Messings spielte sich die Szene ab. Mr. Tylor war natürlich beschäftigt bis über die Ohren, hier von einem Kommis, dort von einem Eisenhändler, hier von zwei spanischen Granden, die ein Kupferbergwerk anzubieten hatten, dort von dem untersten Tagelöhner seiner Fabrik, der nicht entlassen sein wollte, angesprochen, gefragt, gebeten. Und dann kam ich und brachte abermals nichts als meinen Kopf und meine Arme und einen langen Brief vom Direktor der Zentralstelle für Handel und Gewerbe zu Stuttgart, Königreich Württemberg, Germany!

Trotzdem war die Folge dieser Zusammenkunft eine Einladung für den folgenden Abend nach Stoke-Newington, wo Tylor wohnt. Dort sah ich zum erstenmal etwas vom häuslichen Leben einer reichen englischen Familie, sah Mrs. Tylor, ihr blitzendes Teegeräte und ihre reizenden Kinder, das herrliche Grün des Rasens im Garten, die reiche Behaglichkeit eines englischen Salons und eine Landsmännin aus Nassau, in die ich mich nicht verliebte. Nebenbei wurden Empfehlungsbriefe für mich geschrieben und musiziert. Mrs. Tylor war entzückt, als ich die Melodie eines Liedes spielte, das sie einst in Deutschland gelernt hatte und das nach ihrer Erinnerung anfing: »Wenn die Salben heimwärts ziehen!«

Des andern Tags hatte ich neun neue Empfehlungsbriefe in der Tasche und begann dankbar die saure Wanderung von vorn.

Aber wozu soll ich niederschreiben, was fast nutzlos vorüberging? Ich sah die schwarzen, verrauchten Gießereien, das Gewirr der Werften im Osten und Süden der Stadt, sah die Schiffsbauanstalten in Greenwich, Deptford und Blackwall, sah die engen, düstern Werkstätten in der City und bin nun wieder auf dem alten Fleck, fast so klug wie zuvor.

Von Mr. Tylor erhielt ich gestern noch einen sehr freundlichen Brief, worin er mir vorschlägt, wenn ich im Norden nicht glücklicher sein sollte, nach London zurückzukehren und dann, bis sich etwas finde, etliche Abende der Woche in seinem Hause zuzubringen, um ihn Deutsch zu lehren. Seinem bisherigen »Professor« habe er ein Pfund die Woche gegeben. Damit wäre, wenn ich wirklich ohne Erfolg von Manchester, Leeds, Lincoln, Birmingham und so weiter zurückkäme, meinem Dasein eine Stütze geboten, die sich zu einem lebendigen Baum auswachsen könnte.

Middleton Square verlasse ich ungern; ein gebildeter Umgang Tag für Tag tut gut. Übrigens haben wir seit acht Tagen ein Mecklenburger Pfarrtöchterlein im Hause, das sich bemüht, etliche deutsche Teerosen in unser irdisches Leben zu flechten. Aber mein Weg geht nun einmal nicht über Blumen.

Nachschrift.

Ich kann nicht unterlassen, Dir, liebe Mutter, nachträglich mitzuteilen, daß soeben, bei der ersten großen Packerei und Nachprüfung meines fahrenden Eigentums, nicht nur alles noch vorhanden ist, sondern daß ich sogar einen Strumpf zu viel habe. Ich werde mich hüten, dieses Wunder erklären zu wollen. Jedenfalls liegt ein sichtlicher Segen auf meinem Koffer.


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