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Heinrich Seidel (1842-1906)

(Aus den Gedichten. Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger. Stuttgart.)

1. Die Musik der armen Leute.

Der Herr Musikprofessor spricht:
»Die Drehorgeln, die dulde man nicht!
Sie sind eine Plage und ein Skandal!«
Mein lieber Professor, nun hören Sie mal!
Ein enger Hof – kein Sonnenschein
Fällt dort das ganze Jahr hinein.
Da herrscht ein seltsam muffiger Duft,

Nach Armut riecht's und Kellerluft,
Da blüht keine Blume, da grünet kein Laub,
Die Kinder spielen in Müll und Staub.
Nun kommt ein Leiermann hervor
Und schleppt seinen Kasten durchs offene Tor.
Da rennt es herbei in schnellem Lauf,
Da krabbeln aus ihren Höhlen heraus
Die Kinder in dem ganzen Haus,
Und über die blassen, ernsten Gesichter
Fliegt es dahin wie Sonnenlichter,
Sie tanzen und wiegen sich hin und her
Beim Schunkelwalzer – was will man mehr?
In der Kellertür steht ein schlumpiges Weib,
Ihr hängen die Kleider um den Leib.
Den Säugling hält sie auf dem Arm,
In ein Wollentuch gewickelt warm.
Sie läßt ihn tanzen, und wie er sich regt
Und mit den mageren Ärmchen schlägt,
Ist über die vergrämten Wangen
Ein Strahl von Mutterfreude gegangen.
Das Mädchen für alles, im ersten Stock,
Es faßt mit den Fingerspitzen den Rock
Und trällert den Text und dreht sich und lacht;
An den blauen Dragoner hat sie gedacht;
Er war so unbeschreiblich flott
Und tanzte den Walzer wie ein Gott.

Der Leiermann hat die Blicke erhoben
Er wartet auf den Segen von oben.
Dann kommt – das hört ein jeder gern:
»Einst spielt ich mit Zepter, mit Krone und Stern.«
Der arme Schreiber in seiner Kammer
Vergißt eine Weile den täglichen Jammer,
Er läßt die kritzelnde Feder stehn
Und seinen Blick zu den Wolken gehn,
Die über die Dächer dahingezogen.
So hoch sind einst seine Träume geflogen
Von Ruhm und Glück und Sonnenschein:
»O selig, o selig, ein Kind noch zu sein!«

Der Leiermann dreht seine Kurbel um,
Seine Blicke wandern ringsherum.
Ein anderes Stück nun stellt er ein:
»Ich bitt euch, liebe Vögelein!«
Die Nähterin läßt die Maschine stehn,
Und ihre Traumgedanken gehn
Zum letzten Roman, den sie gelesen.
Wie edel ist doch der Graf gewesen,
Daß er das arme Mädchen nahm,
Obgleich es fast zur Enterbung kam.
Dann seufzte sie. Ach, sie weiß, wie es geht:
Die edlen Grafen sind dünn gesät!
Doch wenn auch kein Graf: wenn einer nur käme,
Den sie möchte, und der sie nähme!
Draußen schießen die Schwalben vorbei,
Sie blickt ihnen nach und seufzt dabei:
»Ich bitt euch, liebe Vögelein,
Will keins von euch mein Bote sein?«

Der Leiermann aber schaut sich stumm
Von einem Fenster zum andern um,
Zieht sein Register und spielt mit Schall:
»Es braust ein Ruf wie Donnerhall!«
In seiner Werkstatt der Schuster nun
Läßt eine Weile den Hammer ruhn!
Er war bei Wörth und bei Sedan
Und vor Paris und Orleans.
Und wie er denkt an jene Zeit,
Wird sein Soldatenherz ihm weit!
Er klopft mit kampfgewohnter Hand
»Mit Gott für König und Vaterland!«
Gar mächtig auf das Leder ein:
»Lieb Vaterland, magst ruhig sein!«

Der Leiermann aber blickt und späht,
Damit sein Lohn ihm nicht entgeht.
Und sieh, der Segen bleibt nicht fern,
Denn Armut gibt der Armut gern.
Bald hier, bald dort mit leisem Klapp
In Papier gewickelt fällt es herab:
Und ob auch der Herr Professor schreit –
Hier fühlt man nichts als Dankbarkeit,
Denn ein wenig Licht ins graue Heute
Bringt die Musik der armen Leute!

2. Das Huhn und der Karpfen.

Auf einer Meierei,
Da war einmal ein braves Huhn,
Das legte, wie die Hühner tun,
An jedem Tag ein Ei
Und kakelte,
Mirakelte,
Spektakelte,
Als ob's ein Wunder sei.

Es war ein Teich dabei,
Darin ein braver Karpfen saß
Und stillvergnügt sein Futter fraß,
Der hörte das Geschrei:
Wie's kakelte,
Mirakelte,
Spektakelte,
Als ob's ein Wunder sei.

Da sprach der Karpfen: »Ei!
Alljährlich leg ich 'ne Million
Und rühm mich des mit keinem Ton:
Wenn ich um jedes Ei
So kakelte,
Mirakelte,
Spektakelte –
Was gäb's für ein Geschrei!«

3. Der Eiersegen.

Im Sommer wars, vor langer Zeit,
Da trat mit weißbestaubtem Kleid
Ein Wanderbursche, müd genug,
Einst zu Semlin in einen Krug.
Doch niemand war in dieser Schenke,
Zu reichen Speisen und Getränke –
Nur Fliegen, die vom Tisch aufsummten,
Und Brummer, die am Fenster brummten.
Die Sonne kam hereingeflossen
Und malte still die Fenstersprossen
Hin auf den sandbestreuten Grund.
Es regte sich kein Mensch, kein Hund;
Es waren ganz für sich allein
Die Fliegen und der Sonnenschein.
Der Wandrer auf die Bank sich streckte,
Und seine müden Glieder reckte,
Und dacht': »Die Ruhe soll mir frommen!
Am Ende wird schon jemand kommen!«

Und als er nun so um sich sah,
Fand er ein Häufchen Krumen da,
Das man vom Tisch zusammenfegte,
Und da der Hunger sehr sich regte,
Begann er eifrig unterdessen
Von diesen Krümlein Brots zu essen.
Dem guten Burschen war nicht kund,
Daß sich auf Hexerei verstund
Des Krügers Frau. Sie wollte eben
Die Krümchen ihren Hühnern geben,
Und da sie abgerufen ward,
Sprach sie darob nach Hexenart,
Bevor sie ging, den Eiersegen,
Wonach die Hühner mächtig legen. –
Und als der Bursche also nippte
Und mit den Fingern Krumen tippte,
Da ward ihm gar so wunderlich
Im Leibe, so absunderlich.
Bis daß auf einmal wundersam
Der Zauberspruch zur Wirkung kam.

Er fühlte sich als wie besessen.
Und so viel Krumen er gegessen,
Soviel Eier mußt' er legen!
Das wirkte dieser Hexensegen!
Er mochte wollen oder nicht,
Das war das Ende der Geschicht':
Er legte einunddreißig Eier,
Und danach fühlte er sich freier.
Dann ward ihm so mirakelig,
So kikelig, so kakelig.
Und ehe er sich recht besann,
Da fing er auch das Kakeln an!
Er konnte diesen Trieb nicht zügeln,
Schlug mit den Armen wie mit Flügeln,
Ging um die Eier in die Runde
Und scharrte kräftig auf dem Grunde
Und kakelte so furchtbarlich,
Daß alles rings entsetzte sich:
Zusammen lief Weib, Kind und Mann
Und schauten das Mirakel an.

Doch endlich ließ der Zauber nach;
Dem armen Burschen war ganz schwach.
Er fühlte ganz elendiglich
Sich außen und inwendiglich.
Und mußte stärken sein Gebein
Mit Käse, Brot und Branntewein!
Ließ sich den Stock herüberlangen
Und ist beschämt davongegangen.

Nach langer Zeit, in späten Jahren,
Hab ichs aus seinem Mund erfahren,
Da hat er oftmals mir erzählt,
Wie ihn das Hühnerbrot gequält,
Und wie das Ding sich zugetragen.
Zum Schlusse pflegte er zu sagen:
Das Legen, das ist leicht getan!
Das Kakeln aber, das greift an!«


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