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XIX

In diese Zeit fielen zwei Nachrichten. Die eine war keine Überraschung für uns. Der alte Magister v. F. lag im Sterben. Seine Prophezeiung, die er uns vor vier Monaten verkündet hatte, war fast bis auf den Tag eingetroffen. Er hatte den Tod in seinem bequemen Bette dem Tod auf dem Experimentiertisch vorgezogen. War er deshalb zu tadeln?

Er hinterließ keine großen Reichtümer. Die Stadt war verarmt. Die Umgebung war von Menschen fast ganz entblößt, wenn man die Massen der Deportierten davon ausnahm. Die Bevölkerung der Stadt war so herabgekommen, daß sie einen Arzt nicht in Wohlstand versetzen konnte, mochte dieser sich auch wie der alte Magister bald fünfzig Jahre dem Wohl der Einwohner gewidmet haben. Der Generalarzt machte Anspielungen darauf, daß ich diesen Posten antreten könne. Ich zuckte die Achseln und schwieg. Ein Dienst wie dieser konnte mich nicht reizen. Und doch sollte es sich bald herausstellen, daß das Schicksal nichts besseres für mich ausersehen haben konnte als gerade diese Stelle. Die zweite Nachricht war wichtiger. Sie betraf die schon einmal genannte Kommission, die auf Havanna gearbeitet hatte, um das Y. F. zu erforschen. Eines Tages erschien Carolus schreckensbleich bei mir und raunte mir zu, er müsse mir eine sehr schwerwiegende Mitteilung machen.

Ich dachte schon an March, der, obwohl seine Begnadigung es ihm erlaubte, und seine Gesundheit wieder ganz in Ordnung gekommen war, (ein unverwüstlicher Mensch!) immer noch nicht den Boden von C. verlassen hatte. Carolus hatte ihm in einer edelmütigen Aufwallung einen Betrag zukommen lassen, der ihm die Überfahrt in die Heimat auf einem kleinen Paketdampfer gestattete. March hatte zwar das Geld genommen, war aber noch vor kurzem in der Altstadt gesehen worden, und zwar, was ich nicht glauben wollte, betrunken und in der Gesellschaft einiger ausgedienter alter Diebe und Landstreicher, an denen die irdische Gerechtigkeit alle Bemühungen der Besserung aufgegeben hatte. Ich war für March nicht vorhanden. Er hätte Möglichkeiten genug gehabt, sich mir zu nähern, und sei es nur, um mich in dem jetzt von Menschen leeren Camp Walter aufzusuchen – aber er tat nichts dergleichen. Und nie hätte ich ihn nötiger gebraucht. Ich hielt unsere Aufgabe für gelöst. Früher hätte mich dieses Ergebnis stolz und eitel gemacht. Ich hätte auf einem ärztlichen Kongreß die Resultate verkündet und hätte die Glückwünsche, die Ehrungen, die akademischen Berufungen an freiwerdenden Lehrkanzeln der pathologischen Anatomie und experimentellen Bakteriologie als ein ehrlich verdientes, nur noch zu geringes Gegengeschenk entgegengenommen. Ganz anders jetzt und hier. Mein persönliches Leben bedeutete mir nichts mehr, wenn ich keine Aufgabe hatte, die es in Form einer derartigen Arbeit ausfüllen konnte. Für mich war Arbeit wahrhaftig Zwangsarbeit, aber anders, als es die meisten Menschen verstehen. Und jetzt sollte ich diese Aufgabe bald als abgeschlossen und mein Dasein als nutzlos, überflüssig und sinnlos empfinden.

Aber es war nicht so. Es war nur der Rückschlag, den jeder Arbeitende am Abend eines Arbeitstages empfindet und der sich mit Energie bald und vollständig überwinden läßt. Und die Notwendigkeit zur Bewährung meiner Willenskräfte ergab sich bald, eben bei dieser zweiten Nachricht, die mir Carolus unter so großen Vorsichtsmaßregeln ins Ohr flüsterte.

Die Kommission auf Havanna hatte mit Erfolg gearbeitet. Mein Gesicht leuchtete auf. Carolus verstand es nicht. »Begreifst du denn nicht, sie haben etwas anderes gefunden als wir.«

»Unmöglich« sagte ich ganz ruhig. »Sie haben den Erreger gefunden, – und wir nicht« sagte er. »Um so besser«, antwortete ich, »wir sind jetzt so weit, daß wir unsere Ergebnisse zusammenfassen können und nichts besseres kann uns passieren, als daß wir sie mit den Ergebnissen der amerikanischen Kommission vergleichen.« »Wie du denkst«, sagte Carolus bekümmert. »Du wirst sehen, wir haben die Leute heute oder morgen hier.« »Je früher, desto besser«, sagte ich. Wir saßen die ganze Nacht in dem Häuschen II, das, gut desinfiziert und gründlich gelüftet, einen ganz erträglichen Aufenthalt bot. Wir formulierten unsere Erfahrungen, wie es bei wissenschaftlichen Berichten üblich ist. Den alten Carolus überkam bei dem Durchblättern unserer Protokolle eine seltsame Rührung. Er weinte wie ein Kind. Ein Kind weinen zu sehen, greift zwar ans Herz, aber es ist etwas natürliches. Aber Tränen, die ein im Leben und (schließlich auch) in der Wissenschaft erfolgreicher Mann, reich, angesehen, General, Großvater, Inhaber hoher Auszeichnungen, vergießt ist das nicht ein grotesker Anblick, der ebenso zum Lachen wie zum Mitleid reizen könnte? Aber ich hatte verstanden, was dieser nur äußerlich verknöcherte Mensch war. Ich strich ihm, ohne daß er es merkte, den mit samtartig weicher Haut bedeckten Kahlkopf, und er legte instinktiv seinen mageren Arm um mich und wies mit seinen etwas unsauberen Fingern auf das Merkblatt, das unseren verewigten Freund betraf. Ich zog aber schnell seinen Kopf fort, damit er mit seinen unzeitgemäßen Tränen (und der Asche seiner großen Zigarre) nicht das Protokoll W. verunreinige und die Buchstaben und Kurven verschmiere. Der alte Knabe faßte sich übrigens bald. Wir saßen beim Scheine einer Petroleumlampe bis zum Morgen zusammen.

Das Lager sollte in Kürze abgebrochen werden. Wo sollten wir dann wohnen? Sollten wir noch einmal in das Y. F.-Haus zurückkehren? Was hatten wir dort zu tun? Die Seuche hatte sich jetzt in C. wieder stärker geltend gemacht, und es gab wenig freien Platz dort oben. Wohin sollte ich kommen? Man erwartete den neuen Gouverneur. Man wollte ohne ihn keine Maßnahmen treffen, und alles war noch ganz ungeklärt, als die erwähnte Kommission eintraf.

Wir, Carolus und ich, bezogen notgedrungen Quartier im Y. F.-Haus, und dort wurden wir schon am zweiten Tage von drei Herren der Kommission aufgesucht. Sie nahmen einen schwer fiebernden Kranken Blut ab, und es gelang ihnen, uns den Erreger des Y. F. im Dunkelfeld zu zeigen. Nicht sofort. Wir saßen von morgens bis abends an den Mikroskopen, bis sich ein Exemplar der Leptospira, (so war der wissenschaftliche Name), so gnädig zeigte, sich unseren Blicken zu offenbaren. Und auch dieses Erscheinen einer einzigen Leptospira war ein Zufallstreffer. So selten war das winzige Ding. Ich erkannte es wieder. Ich hatte es früher gesehen als der Japaner, der es entdeckt hat. Aber dies ist ein in der Geschichte der Entdeckungen und Erfindungen häufiger Fall.

Die Herren hatten ausgezeichnete Präparate bei sich, und wir konnten den Erreger genau studieren. Es ist ein äußerst zartes, biegsames Gebilde von 4 bis 9 mm/1000 Länge und 0,2 mm/ 1000 Breite. Im Dunkelfelde zeigt es lebhafte Bewegung, seitlich schlagende, drehende und sehr schnelle Rückwärtsbewegungen, letztere offenbar durch propellerartige Schraubenflügelbewegungen der Endfäden, der »Geißeln«, bewirkt. Auch die Züchtung dieser schwer färbbaren und im Blute der Kranken nur sehr vereinzelt anzutreffenden, sich rar machenden, aber um so gefährlicheren Keime war durch die internationale Amerika-Kommission erfolgt. Man konnte die künstliche Kultur, das Bazillenbeet mit freiem Auge zwar nicht wahrnehmen, mit dem besten Willen war selbst bei reichlichstem Wachstum nur eine hauchartige Trübung des Nährbodens zu konstatieren. Aber die Keime waren da. Diese Keime waren für Meerschweinchen infektiös. Man konnte mit ihrer Hilfe Meerschweinchen künstlich infizieren und die einzelnen Phasen der Infektion im Tierversuch verfolgen. Walters Versuche vor so und soviel Jahren im Institut bestätigten sich also von A bis Z. Es wunderte mich nicht.

Was uns die Kommission zeigte, war einwandfrei, und wir erkannten gerne die Richtigkeit der Forschungen an, die uns (mir, dank meines Fehlers, von dem ich erzählt hatte) nicht gelungen waren. Ihre Entdeckung ergänzte die unsere aufs beste, wie zwei in der Mitte des Blattes durchgerissene Fetzen eines Briefes. (Sie hatten den Erreger. Wir hatten die Verbreitungsweise und die Prophylaxe, den Seuchenschutz.) Nur mit dem einen Unterschied, daß die Kommission, (mit deren Oberhaupt ich vor Jahren einen noch unvergessenen wissenschaftlichen Zwist gehabt hatte), unseren Ergebnissen mit äußerster Skepsis gegenüberstand. Sie wollte uns nicht glauben.

Wir kamen eben von dem Leichenbegängnis des Kollegen v. F. »Was wollen Sie mit seiner alten Theorie, die seit Jahrzehnten streng wissenschaftlich widerlegt ist?« Sie erkannten die Stegomyia nicht an. Sollte man nun deshalb mit den Versuchen von neuem beginnen? Man hätte die Männer nie überzeugt. Die Konkurrenzkommission blieb dabei: die Einatmung der Luft oder der Genuß (oder!!) von infiziertem Wasser sei die Ursache für das Y. F. Der eine Teil der Kommission war für die Luft. Der andere für das Wasser. Ein dritter ließ die Frage offen. Drei Köpfe. Sie konnten sich nicht einig werden. Inzwischen ging alles weiter wie bisher, und es mußten die Kranken an das dritte Element, die Erde glauben.

Sie starben wie die Fliegen.

Mich aber, als rechtskräftig verurteilten Verbrecher und ehemaligen Sträfling würdigten die Herren weiter keines Blickes. Auf den alten Carolus sahen sie hinab, und das Schicksal Walters nötigte ihnen nur ein bedauerndes Achselzucken ab. War er doch nicht zur Bekräftigung ihrer Theorie aus dem Leben geschieden.

Bei ihrem Abschied waren wir gebrochen.

Carolus hatte sein Gleichgewicht völlig verloren, er weinte sich an meinem Herzen aus. Gut.


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