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V

Und dabei wissen, daß man, wenn der wichtige Augenblick kommt, wo das Schiff flott wird, und wo man mit jeder nur denkbaren Anstrengung dem Pol zustreben müßte – hier an das verfluchte Schiff gekettet ist, das nur den Nagetieren, aber nicht den Menschen ein Heim ist! Den Hunger vor Augen haben – denn selbst hundertmal größere Magazine hielten diese dauernden Raubzüge der Rattenheere nicht aus.

In der seelischen Qual, in der fressenden Ungeduld, in dem Bewußtsein, jemand anderer kommt dir auf dem Pol zuvor und alles ist vergebens, – da wird alles verständlich. Zwischen der Mannschaft und den Gelehrten und den Offizieren fallen die letzten Schranken. Von dieser Zeit hören die Balgereien, die Hiebe, die Ohrfeigen und Küsse, die Wutausbrüche, das Schabernackspielen, die vergeblichen und deshalb verbotenen, wilden Rattenjagden nicht auf, und die Ordnung, die innere wie die äußere, ist nur noch ein leeres Wort, über das man lachen muß.

Bei diesen zum Nichtstun und zum Warten verurteilten, von Langeweile geistig und körperlich Gequälten, meldete sich das Zwangsweinen, das Zwangslachen, das Zwangsbeten. Nichts kam aus ihrer Natur. Keiner sah jetzt noch ähnlich seinem Ich, wie es vor einigen Monaten ausgezogen war, ganz anderer Gefahren und Schwierigkeiten gewärtig.

Lustig und lebensfroh bei allen ihrem Kämpfen ums tägliche Brot bleiben die Ratten. Sie haben, was sie brauchen und haben sie es nicht, dann holen sie es sich.

Wie aber holt sich der Mensch das, was er braucht? Die Bibeln in allen möglichen Sprachen waren in drei großen Kisten mitgeschleppt worden, auch sie sind bis auf die stählernen Heftklammern, womit die Druckbogen geheftet gewesen, den Ratten zum Opfer gefallen. Aber die Privatbibel des trinkfesten Missionars ist ihm noch geblieben, sein Einsegnungsgeschenk, eine persönliche Reliquie – bis sie plötzlich verschwand. Wer hat sie? Hat ein Kamerad sie bloß, eines kindischen Schabernacks wegen, versteckt oder hat sie einer gestohlen? Aber der Betreffende kann Gottes Wort doch nur in der »Messe« lesen, hier allein gibt es ausreichende Beleuchtung und Beheizung, Licht und Wärme, und dorthin kann er mit dem gestohlenen Gut nicht kommen. Ein Zettel mit der Bitte um Rückgabe wird auf dem Hauptmast angeschlagen, aber nach einigen Stunden ist auch er verschwunden, entweder herabgerissen, oder von den Ratten aufgefressen. Von der Bibel nach wie vor keine Spur.

Mein Vater schweigt. Sein Gesicht ist so fahl unter dem dichten Bart, daß es nicht blasser werden kann. Was soll ihm jetzt das Evangelium? Die anderen haben es leichter. Der Missionar tröstet sich mit Alkohol, die leeren Weinflaschen wirft er nach den Ratten im Magazin, doch diese mißverstehen das und spielen zutraulich damit.

Eine neue Eskimogruppe ist gekommen. Auch sie hat etwas von dem anderen Nordpolfahrer vernommen, ja sie scheint sogar genaueres zu wissen, aber sie will nicht mit der Sprache heraus. Sie ist unersättlich in Forderungen, tritt habgierig und berechnend auf, hält sich mit jedem Wort zurück, schließt sich ab. Nur der Älteste steht Rede und Antwort, die anderen Eskimos fügen sich ihm.

Ist der Pol bereits entdeckt? Sie die andern am Ziel? Die Herren sehen einander an, aber auch jetzt erfahren sie nichts Endgültiges. Die Expedition ist nicht mehr reich genug, den Eskimos einen genauen Bericht abzukaufen.

Bei den Gelehrten ist eine neue geistige Krankheit ausgebrochen. Sie haben endlich die grausamste Strafe erfunden, die es für sie unter den bestehenden Umständen geben kann. Es straft einer den andern mit Schweigen. Besonders Raffinierte bewegen die Lippen, als wollten sie gerne sprechen, aber sie lassen keinen Laut vernehmen. Sie wollen nicht reden. Andere haben schon seit Monaten kein richtig geformtes Satzgebilde hervorgebracht, sie sind geistig auf dem Niveau einjähriger Kinder und ebenso weinerlich wie diese. Sie können nicht reden.

In dieser Zeit wird auch der Gesundheitszustand rein körperlich von Tag zu Tag schlechter. Die Kälte ist enorm, der Wind stürmt durch die schauernde Dunkelheit, am liebsten möchte niemand das Schiff verlassen. Aber es muß versucht werden, frisches Fleisch zu erjagen, es gibt Enten und Eidervögel, Eisbären, Robben, Schneehasen, Polarfüchse in der Umgebung, man sieht ihre Schneespuren auf dem Schnee der Scholle. Das Auge hat sich an die düstere Dämmerung gewöhnt, die Jagd könnte erfolgreich sein. Aber wen soll man kommandieren, wenn keiner, auch der gesundheitlich widerstandsfähigste nicht, vom Schiffe fortgehen will, um zu schießen? Da bleibt nur eins übrig: die Ratten zu jagen und ihr frisches, fettes Fleisch zu verzehren, um sich vor dem Skorbut zu schützen. Aber so gerne die Männer auf die verbotene Jagd gingen, im Dunkel wie toll mit Pistolen und Karabinern umherknallten, der befohlenen entzogen sie sich mit allen Mitteln. Wozu? Nur das Verbotene reizt sie. Töten – ja. Essen – nein. Man scheut die widerlichen Tiere wie die Pest, die Rattenpest, man will sich nicht mit ihnen beschmutzen, geschweige denn ihr abscheuliches Fleisch zu sich nehmen. Aber wenn Blutungen über Blutungen aus dem Zahnfleisch die Männer furchtbar schwächen, wenn ein leichter Druck schon breite Blutmale auf der bloßen Haut zurückläßt, wenn Zahn nach Zahn stillschweigend ausfällt, wenn übler Geruch den kranken, elenden Menschen entströmt, die sich trotzdem unter die Gesunden mengen, ja dieselben weniger denn je zu verlassen beabsichtigen – was dann? Was noch? Und über allem das Schweigen des Polarhimmels, das Schweigen der Männer untereinander.

Der Proviantmeister hält eine neue Inventur in den Magazinen ab, schreckensbleich steigt er aus der Tiefe hervor, noch auf der Schiffstreppe nach wilden Ratten tretend. Er muß etwas geschehen, die besten, wichtigsten Vorräte sind im Schwinden, wenn es so weiter geht, kann es nur wenige Wochen dauern, und der Schiffskoch hat nichts, um die Mahlzeiten zu bereiten. Wen die Kälte, der Skorbut und die Entbehrungen bisher geschont haben, den wird der Hungertod fassen. Könnte man aber den Bestien zu Leibe, dann wäre die nötigste Proviantmenge zu retten, damit die Expedition wenigstens ein halbes Jahr sich über Wasser halten kann. Und nach diesem halben Jahr, was kann da nicht alles Gutes kommen? Kann der Himmel nicht das Schiff den Pol erreichen lassen (sechs Wochen) und kann das Schiff dann nicht durch einen vom Pol südwärts treibenden Strom (zehn bis zwanzig Wochen) wieder an die Küsten bewohnter Länder gebracht werden?!! Doch! Doch! Alles ist möglich. Nichts ist aussichtslos – Hoffnung auf Hoffnung wenn nur die Ratten vom Schiff verschwinden. Mein Vater geht mit sich zu Rate. Er hat die Verantwortung, ihm steht der Entschluß zu. Er muß ihn fassen.


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