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II

Der Geistliche hatte Vertrauen zu mir gefaßt. Offensichtlich hatte er den Wunsch, sich mir anzuvertrauen. Aber wenn ich auf der »Mimosa« noch Geduld genug gehabt hatte, mir den »Song« des guten March vorzirpen zu lassen, so war ich jetzt nicht dazu imstande, den Beichtvater des Beichtvaters zu spielen. Ich sagte nicht geradeaus nein, sondern vertröstete ihn auf ruhigere Zeiten. Welche Verwirrung der Begriffe! Ich, ein Mörder, ein Zweifler, ein Atheist und Anarchist, ich sollte einem verhältnismäßig unangekränkelten Mann wie March eine Stütze und einem moralisch hochstehenden, seinen Samariterdienst mit Hingabe ausfüllenden Priester in einem Y. F.-Hospital gar ein Beichtiger sein! Dann sollte ich die geistige Leitung wichtiger Versuche am lebenden Menschen mit einem sentimentalen, hoch-, aber auch weichherzigen Mann teilen, mit Walter, der endlich viel elender und hinfälliger wiederkehrte, als er gegangen war. Aber eines mußte ihm der Neid lassen, geschweige denn die Verehrung, die ich, ohne zu wissen, wie, für ihn zu empfinden begonnen hatte: ich hatte ihn nicht überschätzt. In vier Worten: Er war ein Mann.

Er behielt das seine bei sich. Nur aus kleinen Anzeichen konnte man entnehmen, wie er gelitten hatte und woran er jetzt noch litt. Der Fernsprecher durfte nur sein erstes schrilles Klingelzeichen von sich geben und Walter begann zu zittern wie Espenlaub. Und dabei war doch seine teure Ehegattin viele Meilen weit von hier auf einer »einsamen Insel«, wie es im Liede heißt, einem Eiland ohne Telephonverbindung. Bloß ein Telegraphenkabel führte hin zu ihr.

Seinen Ehering trug er wieder auf seiner Hand. Er hatte sich wohl mit seiner Gattin ausgesöhnt und hatte ihr das Versprechen abgenommen, sie solle ihm glauben, wenn er, wahrscheinlich zum erstenmal in seinem Leben, log. Denn sie wäre ihm nicht von der Seite gewichen, wenn sie geahnt hätte, daß er mit dem gleichen Entschluß zurückgekehrt war, den er beim Verlassen unserer Laboratoriumsräume gefaßt gehabt: nämlich nicht früher von hier zu weichen, bis nicht unsere Arbeitsanordnung, wie ich sie ihm jetzt in der ersten Stunde systematisch entwickeln mußte, von Anfang bis zu Ende am Menschen durchgeführt war. An uns. Und an ihm. Aber keine persönliche Andeutung kam aus seinem ernsten Munde, erst zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt bekam ich Einblick in seine Gedanken. So schön sein Ehebund gewesen war, so schwer war es gewesen. Walter war für die Menschheit da. Seine Gattin entbehrte seine alles umfassende Liebe zu ihr und den Kindern – und dabei gab er doch bis an die Grenzen seiner Kraft!

Jetzt wollte er vor Beginn der Versuche, das heißt, am Vormittag seiner Ankunft, noch seine Geldverhältnisse regeln. Er setzte sich mit Carolus an einen Tisch des Laboratoriums, der am Fenster stand und von wo man den Hafen und das Schiff sehen konnte, mit dem er im Morgengrauen zurückgekehrt war. Es war nicht die »Mimosa«, sondern ein anderer Kahn. Die »Mimosa« war auf der Reise nach Europa begriffen, um von dort einen neuen Schub von Deportierten an diese Küste der Seligen abzuführen.

Carolus zeigte dem Walter die Präparate von dem Leibesbau der Stechmücke, im besonderen schön gefärbte Gewebsschnitte durch die Beißorgane, Saugrüssel und Speicheldrüsen des Insekts, aber Walter war nicht bei der Sache. Schließlich tat es im Augenblick relativ wenig zur Sache, wie die Freß- und Beißwerkzeuge der lieblichen Libelle beschaffen waren, das waren Fragen zweiten Ranges. Daß sie beißen konnte, wußten wir alle. Also dann ans Werk!

Wer zur Eile drängte, war diesmal Carolus, den ein hitziger Forscherdrang beseelte, und Walter, der wahre Gelehrte, war es, der noch zögerte.

Forschertätigkeit ist ein Glück, das an Tiefe nur dem Lieben (nicht dem Geliebtwerden!) zu vergleichen ist. Ich, George Letham, habe in meinem Leben beides kennengelernt und kann diese Aussage machen, ohne zu lügen.

Aber wozu soll ich hier von den Beglückungen des Forscherdranges und von seinen Enttäuschungen lang und breit erzählen? Ich könnte es eher in einer kleinen Szene bildhaft machen, etwa indem ich schildere, wie ein isolierter Beißrüssel unter fünfzigfacher Vergrößerung aussieht und welche sonderbare Flüssigkeit an Stelle des erwarteten roten Blutes aus den zackig zerrissenen winzigen Gewebsteilen eines Insektes heraussickert. Aber einerlei. Wer dieses Glück der Forschertätigkeit, sei sie primitiv oder genial, nicht erlebt hat, wird es ebensowenig verstehen wie das Glück der Liebe.

Selbst ein so phlegmatischer, am Schreibtisch und bei randvollen Zettelkästen alt und gelb gewordener Mensch wie Carolus war jetzt, wo er eine erfolgversprechende Versuchsreihe vor sich sah, Feuer und Flamme. Weshalb war es dann nicht Walter, der geborene Experimentator? Weil ihn Geldsorgen drückten. Sorgen um die Seinen. Die »liebenden Herzen« brauchten Geld und daran haperte es.

Seine Einkünfte waren beschränkt. Seine Ausgaben nicht. Er sah voraus. Er sah trübe. Er rechnete mit dem Versuch an sich selbst, und obgleich er kein geschulter Statistiker und kein Pessimist war, konnte er sich sagen, daß die Todeschancen höher waren als die Lebenschancen. Er glaubte an unser Axiom I. Er hoffte schließlich, wie jeder hofft, der noch lebt und atmet und sich der Sonne freut. Aber es wäre in seinen Augen ein Verbrechen gewesen, seine Familie ohne Brot zurückzulassen.

Carolus war sehr reich, vielleicht ein Millionär. Er war persönlich bedürfnislos. Seine Kinder waren mehr als üppig versorgt, seine Verwandten berechtigten zu den schönsten Hoffnungen. Seine Vermögensverhältnisse waren, soviel aus den Abrechnungen seiner Bank hervorging, wahrhaft ausgezeichnet. Denn er hatte hier für seine Person noch nicht einen Pfennig ausgegeben und seine Papiere waren gestiegen. Er lag auf der richtigen Seite.

Alles andere als bei Walter, dessen Vater, der verabschiedete Kriegsheld und Generalleutnant a. D. von seiner Pension als hoher Offizier lebte, aber jedes Jahr um die Hälfte mehr verbrauchte, als er einnahm und der sich von Jahr zu Jahr in gewagtere Geschäfte, in Rennwetten, in Baissespekulationen mit unbezahlten Papieren und andere undurchsichtige Geldaffären einließ, von denen der Sohn nur dann erfuhr, wenn sie fehlgeschlagen waren, wie es leider meist der Fall war. Warnungen in Briefen und Telegrammen nützten nichts. Der Vater wollte sich nicht raten lassen und außerdem kamen sie viel zu spät.

Und diesem Vater sollte Walter, wenn er dieses Y. F.-Haus auf dem Berge über dem Hafen von C. nicht mehr lebend, sondern »mit den Füßen voran«, verlassen sollte, die Obhut über seine Witwe und seine unmündigen fünf (oder sechs!) Kinder anvertrauen? Nein. Die Verhältnisse bei den Verwandten seiner Frau waren nicht besser, eher noch unsicherer, da zu dem Mangel an Geld und Gut noch die Aneignung dieser Familie gegen Frau Walter dazukam, die ihren Mann gegen den Willen ihrer Verwandten geheiratet hatte. Man hatte es ihr sogar als Verbrechen angerechnet, daß sie ihm mit ihren Kindern in die Tropen gefolgt war. Und hatte ihre Familie von ihrem Standpunkt nicht recht? Und dazu noch das Kind, das auf dem Wege war! War das genug? Nein! Zu allem anderen noch die Kündigung der Versicherung oder besser gesagt, der Vorschlag des Subagenten, das Übereinkommen mit der Gesellschaft nur unter ganz anderen, ungünstigeren Bedingungen zu erneuern. Das heißt, er hätte von jetzt an eine doppelte Prämie zahlen sollen, während er schon die bisherige nur mit Hängen und Würgen seinem kleinen Einkommen abgezwackt hatte und dazu kam erschwerend eine sehr komplizierte Feststellung des »Schadensfalles« oder wie die Sache versicherungstechnisch hieß. Sollte er die neue Police unterschreiben? Oder sollte alles beim alten bleiben? Dann war wiederum die jetzige Lage nicht berücksichtigt.

Das war der Grund, weshalb Walter so elend aussah, und nicht das feuchte ungesunde Sumpfklima und die elenden Unterkunftsverhältnisse, die er und die Seinen, wie er berichtete, auf der angeblich so hygienischen, herrlichen Berginsel vorgefunden hätten. Geldsorgen waren es und weiter nichts.

Er war mit seiner Frau übereingekommen, sie solle, wenn sie sehe, daß das Klima ihr und den Ihren unbekömmlich sei, noch weiter nach Süden, nach Rio de Janeiro gehen, und zwar auf eine Höhe bei der Stadt, wo ein weit und breit berühmtes, garantiert moskitosicheres Hotel sich befand. Und dorthin wollte er ihr nachkommen. Ja, aber wann? Ja, aber wie? Zeit! Zeit! Zeit! Rio de Janeiro war nur durch eine siebentägige Reise zu erreichen.

Geld, Geld, Geld. Schon vor der Abreise hatte sich Walter an Carolus mit der Bitte um ein Darlehen gewandt. Carolus war damit zwar zögernd, aber doch ohne Schwierigkeiten herausgerückt. Inzwischen war der Monatserste gewesen, der Zahltag Walters und Carolus'. Beide erhielten ihre Gehälter gleichzeitig. Carolus packte stillvergnügt nicht nur die großen Banknoten zusammen, die seine hohen Bezüge ausmachten, er nahm auch, ohne lange zu fragen, die kleinen Banknoten von Walters Monatsgehalt. Er entblödete sich nicht, die Rückzahlung einer Schuld zu akzeptieren, die Walter als Gentleman ihm trotz der Bedrängnis der Seinen loyal angeboten hatte. Aber anbieten heißt noch lange nicht wünschen, daß das Angebot auch angenommen würde! Hatte Carolus keine Augen? Doch, die hatte er. Ein so monumentaler Ochse, wie ich ihn eingeschätzt hatte, war er nicht.

Er war eben ein Mensch, wie die meisten sind, um diesen banalen Gemeinplatz zu gebrauchen. Sein Leben wollte Carolus für die Wissenschaft, die Menschheit, den Ruhm des Vaterlandes riskieren. Seine Goldfüchse nicht.

Das war die Stimmung, in der wir am Nachmittag nach der Ankunft Walters zu unserem ersten Experimente antraten.


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