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IX

Vielleicht hatte mich die Frau Walters in ihrer grenzenlosen Verlassenheit zu lieben begonnen und aus dieser unnatürlichen, unbegründeten, krankhaften Liebe wurde dann ein ebenso unnatürlicher krankhafter Haß. Aber weder dieser Haß der Frau noch die in jedem Augenblick wütend zur Schau getragene Abneigung des einst so getreuen March konnten mich so belasten, wie es mein Gewissen tat. Ja, Georg Letham, der jüngere – und Gewissen! Und doch war es so! Ich wollte alles, was kam, mit Ironie und Humor ertragen in dieser schauerlich drolligen Welt. Aber wer kann es von sich selbst erzwingen, ruhig zu bleiben, zu lachen und überlegen zu sein, wenn durch seine Schuld ein blühendes Menschenleben verderben soll?

Zum Glück kam es anders. In einem von hundert Fällen übersteht eine Frau folgenlos eine so schwere Infektion während der Geburt wie hier. Und hier war dieser eine Fall!

Ich kann es gar nicht mit Worten ausdrücken, welches wahrhaft animalische Glücksgefühl ich empfand und welche himmlische Erleichterung, als ich sah, daß alles gut wurde und daß die erste Wochenzeit der Frau ohne Fieber vonstatten ging. Ohne Geburtsfieber! Und mehr noch, auch die Galgenfrist jener ominösen viereinhalb Tage, die zwischen dem Stich einer mit Y. F.-Blut infizierten Stegomyiamücke und dem Ausbruch des Y. F. bei den meisten unserer Versuchsobjekte gelegen hatten, ging vorbei, ohne daß sich Fiebererscheinungen bei der Frau Walter zeigten. Also weder Wochenfieber noch Y. F.! Welch ein Glück, sage ich nochmals. Es waren schwere Tage für mich. Sehr viel Arbeit, da March jetzt nichts ohne direkten Befehl von Carolus tat und Carolus wie immer nur zu gern aus seinem phlegmatischen Naturell heraus andere für sich anordnen ließ, statt selbst Entscheidungen zu treffen, solange dies nicht unbedingt von ihm gefordert wurde. Um jede Unterschrift mußte man ihm gleichsam die Pistole auf die Brust setzen. Aber trat eine wirklich kritische Konstellation, ein entscheidender Augenblick ein, dann stellte er seinen Mann, er hatte seine Willenskraft auch in diesem höllischen Klima nicht verloren. Wenn auch seine Absichten und Ziele nicht immer die meinigen waren, so verstanden wir uns doch, und ich habe an ihm trotz der großen Verschiedenheit unserer Wesensart eine Stütze gehabt.

Die »Feindschaft« Marchs konnte mich tief treffen. Aber sie konnte mir, wenn ich mich darauf einrichtete, nicht direkt schaden. Er ließ es vorläufig bei seiner ersten und zugleich folgenschwersten Niedertracht bewenden, eben dem Verrat meines Stegomyiaversuchs an der Frau Walters am Abend des Hinscheidens ihres Gatten.

Als er sah, was er damit angerichtet hatte, hielt er sich zurück. Glücklich war er dabei nicht. Bis jetzt hatte er ein verhältnismäßig gutes Aussehen dargeboten. Von nun an begann er zu verfallen. Er konnte nicht mit mir und nicht ohne mich leben. Das zerschnitt ihn von innen her wie mit Messern. Keiner hätte ihm helfen können. Am wenigsten ich.

Ich mußte froh sein, wenn ich unsere Versuche nur einigermaßen vorwärts brachte. Die äußeren Schwierigkeiten stiegen von Tag zu Tag. Daß mir aber das Schicksal durch die Rettung von Frau Walter und durch den unerwartet glücklichen Ausgang der verzweifelt schweren Geburt des Kindes beigestanden hatte, (ich konnte mir gar nicht vorstellen, was aus mir geworden wäre, wenn die Frau oder der kleine Walter gestorben wäre), so faßte ich wieder neuen Mut.

Eine der Hauptschwierigkeiten blieb die Witwe Walters. In ihrem Haß gegen mich ging sie so weit, daß sie mich, wie eine Irre im Verfolgungswahn, mit ausgeklügelten, raffinierten Anklagen verleumdete. Außer dem schweren, aber unbeweisbaren Verbrechen des Mordversuchs an ihr und dem ungeborenen Kind sollte ich auch einen Diebstahl auf meinem Schuldkonto haben. Als ich das Täschchen durchsucht hätte, behauptete sie, hätte ich von den losen Geldscheinen einige Banknoten, und zwar eine nicht unbedeutende Summe im ganzen, beiseite geschafft. Nun bin ich früher den Lockungen des Geldes gegenüber oft widerstandslos gewesen. Aber wenn ich mich in einem Punkte geändert hatte, war es in diesem. Ich hatte bloß den Zimmerschlüssel herausgeholt und weiter nichts. War es March, der mir dieses kleine, aber um so schmutzigere Verbrechen in die Schuhe schieben wollte? In meiner Abwesenheit wurden unsere Sachen in unserem Wohnkeller untersucht, und man fand unter meinen Halbseligkeiten einige Banknoten. Es stellte sich aber heraus, daß sie dem Brief beigelegt gewesen waren, den mir meine Familie zu der Zeit zugesandt hatte, als ich selbst schwer an Y. F. erkrankt war. March war mein Zeuge. Er selbst hatte die Scheine entfernt, bevor er die Textblätter des Briefes mir in die Hand gegeben hatte. Und durch diese kluge Maßnahme hatte er die Scheine vor dem Zerreißen in winzige Partikel bewahrt, welches Schicksal den zu meinem Schmerz unbekannt gebliebenen Text des Briefes betroffen hatte, von dem ich bis heute noch nicht einmal wußte, von wessen Feder er stammte. March selbst mußte mich wieder reinwaschen. Er tat es ungerne, aber er tat es. Ich konnte darauf hinweisen, daß Dr. Walter selbst mir wiederholt verschiedene große Geldbeträge anvertraut hatte, (gegen das Reglement, das den Geldbesitz verbietet, das aber bei uns gemildert worden war), ohne daß ich je einen schlechten Gebrauch von seinem Vertrauen gemacht hätte. Und was hätte ich auch in der Lage, in der ich mich jetzt befand, und angesichts meiner Lebenspläne mit dem relativ geringfügigen Betrag beginnen sollen? Aber etwas blieb davon doch hängen, und die schiefen Blicke des Lazarettpersonals waren nicht immer leicht zu ertragen. Galten sie dem Mann, der den Mordversuch an Frau Walter unternommen hatte, wenn man das passive Dabeistehen bei dem Mückenstich so nennen will – oder galten sie dem angeschuldigten Hausdieb?

Aber nicht nur in so schwerwiegenden Beschuldigungen zeigte sich der Haß der Frau, sondern auch in kleinen Dingen. Ich habe noch nicht berichtet, daß in diesem feuchtheißen Klima ebenso wie Holz und Leder auch die Kleider und die Wäsche, weil sie niemals austrocknen, bald zu faulen beginnen und unter den Händen der Wäscherinnen buchstäblich in Fetzen zerfallen. Nun hatte mir Carolus, (der besonders gutmütig und generös war, wenn es sich um fremdes Eigentum handelte), eine kleine Erbschaft aus dem Besitz Walters zugedacht, nämlich eine Kollektion seiner Operationsmäntel, seiner Wäsche, seiner Tropenanzüge, deren Walter mehrere Dutzend besessen hatte und die aus einem sehr widerstandsfähigen Material gefertigt waren, ich glaube, aus Seide mit Leinenfaser gemischt, oder einer ähnlichen Mischung verschiedener Gewebe. Diese Dinge waren nach der Erkrankung des Doktors in die Desinfektionstrommeln gekommen und waren dort in strömendem, hochgespanntem Dampf von hundert Grad sterilisiert worden, wobei sie zwar nichts an Dauerhaftigkeit, wohl aber manches an Schönheit und Glanz verloren. Man konnte sie, wenn sie mir nicht zugute kommen sollten, der sich schon seit Wochen nur mit Filtrierpapier die Nase schnauben mußte, auch als Aufwaschlappen verwenden. Und gerade das war der Zweck, den die Witwe Walters ihnen zugedacht hatte. Alles Zureden des guten Carolus nützte nichts.

Mir lag anderes am Herzen, und ich verschmerzte den Verlust dieser Dinge, auf die ich kein Anrecht hatte, leicht.

Man hätte natürlich auch Windeln aus den Sachen verfertigen können. Aber daran dachte man nicht, sondern kaufte die nötigen Dinge sehr teuer und in sehr schlechter Qualität unten in der Altstadt. Wollte man das alte Zeug als Reliquie an Dr. Walter in der weiten Welt umherschleppen? Ich hatte nichts dazu zu bemerken.

Schwieriger aber war ein anderer Punkt. Ich habe bereits berichtet, daß Walter mit dem Subagenten der Versicherungsgesellschaft einen neuen Vertrag hatte abschließen und unterschreiben müssen, in welchem jegliche Haftung der Gesellschaft in dem einen, genau umschriebenen Fall ausgeschlossen wurde, daß nämlich der Inhaber der Police, also Walter, durch Selbstmord oder aber durch »selbstverschuldete Unglücksfälle« aus dem Leben schied. Dabei hatte der Subagent, von der Frau gegen den Gatten aufgehetzt, natürlich an die Experimente Walters an seiner eigenen Person gedacht.

Nun war offenkundig Walter an seinem heroischen Experiment (und an den inneren Konflikten, denen kein Mensch seiner Art gewachsen war) zugrunde gegangen. Stand dies erst einmal fest, so bekam die Witwe keinen Pfennig, die sechs Kinder, vier Jungen, zwei Mädchen, waren so arm, daß selbst das Geld zur Rückreise nur durch Unterstützungen und dergleichen hätte aufgebracht werden können. Denn wie weit reicht die Witwen- und Waisenpension? Sie hätte kaum die dringendsten Schulden gedeckt! Wurde aber der sozusagen natürliche Tod dieses großen, waffenlosen Helden Walter festgestellt, kam die Witwe durch die Gesellschaft sofort in den Besitz einer relativ großen Summe, deren Zinsengenuß ihr und den Kindern ein zwar bescheidenes, aber doch standesgemäßes Leben in einfachen Verhältnissen, etwa in einer Landstadt Alt-Englands, gestattete.

Nun also, was dann? Carolus, der ganz und gar auf der Seite der Witwe stand, (schon aus Angst, sie könne im Falle eines Fehlschlagens in ihrer Verzweiflung an ihn mit neuen Geldforderungen herantreten), sperrte sich mit Frau Alix stundenlang in deren Zimmer ein, die Frau hielt ihr mageres, aber freundliches, nur selten weinendes Jungchen auf dem Arm, stillte es, packte es in Windeln ein oder aus, oder sie spielte mit dem kleinen Hündchen. Sie roch an ihrem Eau de Cologne oder zerpflückte die schönen Blumen, die sie von dem Subagenten erhielt. Und dazu beriet sie sich mit dem Freund ihres Mannes, wie die Geldschwierigkeiten zu lösen seien. Meine Aussage, wenngleich die eines rechtskräftig verurteilten Verbrechers, war dabei nicht unwichtig. War ich doch zum Schluß die rechte Hand des Verewigten gewesen, und hatte er mir seine letzten Aufzeichnungen anvertraut. Man rief mich hinein, bot mir zwar keine Sitzgelegenheit an und sah mich stumm und böse an, aber Carolus redete ihr flüsternd zu, sich mit mir auszusöhnen. Er selbst sah das verfehlte Experiment an ihr nicht so tragisch an. Seiner Ansicht nach hätte sie darüber bei etwas gutem Willen hinwegkommen können. Aber sie fletschte ihre schönen Zähne statt zu lächeln. Unablässig verfolgte sie mich mit einem Haß, den ich in dieser Form nicht zu verdienen glaubte, so wenig wie den Haß meines früheren Freundes, der mir im stillen antat, was er konnte. Aber die Frau lebte und blühte allmählich wieder auf, wurde schöner als je zuvor, während der arme March in seiner selbstzerstörerischen Glut von Tag zu Tag »weniger wurde«, wie man es im Volke nennt.


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