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XIII

Ich erwachte in dieser Nacht ganz plötzlich. Als ich hochfuhr, wußte ich, daß die Ursache dieses brüsken Erwachens schon einige Zeit hinter mir lag. Ich ließ den allmählich verblassenden Traum durch meine Gedanken gehen, lauschte auf das Rascheln und Knabbern der zahlreichen Ratten im Keller, die sich um die vielen Kisten und Fässer jagten, bisweilen auch unter unser Lager huschten. Unser Lager? Ich wurde jetzt wach und klar und bemerkte, daß die Lagerstatt Marchs zu meinen Füßen auf dem Boden des Kellerraums leer war. Ich wartete eine kurze Zeit, an etwas Natürliches glaubend, denn es war unter uns ausgemacht, daß keiner seine Bedürfnisse in dem Schlafraum befriedigen solle. March als ein verweichlichter Mensch war es von Jugend an gewohnt gewesen. Es hatte ziemlicher Mühe bedurft, ihm den Gebrauch eines bekannten, bei Kindern und Kranken unentbehrlichen Gegenstandes abzugewöhnen. Wo blieb er aber jetzt? Ich wurde besorgt, stand auf und suchte ihn. Ich eilte durch die mir wohlbekannten Korridore und Treppen auf, Treppen ab. Ich klopfte an die Tür des betreffenden Raumes. Überall Totenstille.

Wie sonderbar! Ich empfand bei dem Durchschreiten des Y. F.-Hauses etwas wie Heimatgefühl, bei dem Suchen nach March etwas von dem, was mich als Kind bewegt hatte, wenn ich meinen nur zu sehr geliebten Vater in unserem weiten, oft sehr öden Haus gesucht hatte.

Um keinen Raum undurchsucht zu lassen, eilte ich wieder zurück durch die verwinkelte Architektur des durch zahlreiche Zubauten in den vielen Jahren seines Bestandes völlig verbauten, weitläufigen Hauses und lief schließlich nach dem Laboratorium.

Ich lief, ich ging, ich stockte und stand still. Ich wollte nicht weiter. Ich sagte mir, March und ich hätten einander nur verpaßt und er läge sicherlich längst wieder in seinem Bett. Nur aus einer Art Pflichtgefühl gegen mich selbst zwang ich mich, mein schlechtes Vorgefühl zu besiegen und trotz allem in das Laboratorium einzutreten.

Es war wahnsinnig heiß und der Schweiß lief mir unter meinem bereits sehr zerschlissenen Pyjama in Strömen herab.

Endlich war ich vor der Schwelle des Laboratoriums (nicht an dem Eingang durch die Glastür, sondern am entgegengesetzten Ende, vor einer festen Tür) und sah zu meiner freudigen Überraschung einen zarten goldfarbenen Spalt durchschimmern; elektrisches Licht. Ich dachte im stillen, mich selbst beschämend, wie albern es gewesen wäre, wenn ich meinem Vorgefühl gefolgt und vorzeitig in unseren Schlafraum heimgekehrt wäre.

Ich öffnete leise die Tür und sah zu meinem fürchterlichen Schrecken – meinen toten Freund Walter in seinem mir wohlbekannten, rotweiß gestreiften Nachtanzug in einer Ecke bei einem Tischchen am Fenster stehen und etwas an den Gläsern mit Moskitos manipulieren. Unwillkürlich schrie ich ihn an: »Walter!!« Er richtete sich aus seiner gebückten Haltung auf, – und mir starrte, nicht minder entsetzt, ein käsebleiches Gesicht entgegen, keineswegs das unvergeßliche, magere, ernste Gesicht Walters, sondern die hübsche Larve Marchs, der einen der bunten Pyjamas Walters von dessen Witwe geerbt hatte, und heute zum erstenmal an seinem Leibe trug. »March?!!« flüsterte ich ganz entgeistert. »Was tust du hier?«

March stammelte einige unverständliche Worte, und während eine heiße Röte seine Züge überflutete, zwang er sich zum Lachen, einem heiseren, unnatürlichen und dennoch aus der Tiefe seiner Brust heraufdringenden Gelächter, das fast ununterbrochen bei der folgenden kurzen Unterredung fortdauerte. Ich war schnell zu ihm getreten und sah, daß er zwei Gläser vor sich hatte. Ein kleineres, leeres Glas mit der durch Fettstift in blauen Lettern angeschriebenen Bezeichnung M. (St.) II. G. Y. F. 5./9. 11. Das bedeutet Moskitos (Stegomyia) zweite Generation, mit Gelbfieberblut getränkt am neunten Tage von einem Kranken, der nach fünftägiger Inkubation erkrankt war. Das andere größere Glasgefäß, in welchem im Gegensatz zu dem kleineren, leeren zahlreiche Moskitos, durch das elektrische Licht aufgeschreckt, durcheinanderschwirrten und an den Wänden auf und ab krabbelten, zeigte bloß die Bezeichnung M. (St.) II. III. O. Dies bedeutete, daß es sich bei diesen Insekten um das große Reservedepot handelte, das alle Tiere in der zweiten und dritten Generation enthielt, die bis jetzt noch kein Menschenblut getrunken hatten und für unsere weiteren Versuche aufbewahrt wurden. Die Entwicklung der Larve vom Ei bis zum fertigen Insekt dauerte fünfzehn bis dreiundzwanzig Tage, und die Mücke ist zwei bis drei Wochen nach dem Ausschlüpfen aus der Puppenhülle fortpflanzungsfähig.

»Was ist denn? Was gibt es? Was willst du hier? Wo sind die Moskitos?« fragte ich. March konnte infolge seines albernen Krampflachens nicht antworten. Dabei schossen ihm die Tränen in die Augen und er hielt sich mit beiden Händen an dem Laboratoriumstischchen fest, so daß die beiden Gläser gegeneinanderstießen und heftig klirrten. Von dem kleineren war der Gazedeckel fort. Kein einziger Moskito war darin oder es schien wenigstens so. Denn als die Sache einige Zeit gedauert hatte und ich ratlos dem March gegenüberstand, ohne eine plausible Erklärung finden zu können, tauchte schüchtern ein junger, ungewöhnlich klein gebliebener Moskito heraus, setzte sich auf den Rand des Glases, bucklich hingehockt, wie es diese Insekten tun, mit den langen Hinterbeinen wippend, mit weißen Zeichnungen auf dem dunklen Leibe, und es dauerte keine zwei Sekunden, so spannte er seine querovalen Flügel aus, und während die weiße lyraartige Zeichnung im elektrischen Licht sich deutlich gegen den verdickten Glaswulst des Gefäßes abzeichnete, stieß er von dem Rande des Glases ab und suchte nach einigen Zickzackflügen den Weg nach der Decke zu der Lampe, wo bereits eine ziemliche Anzahl von seinesgleichen ihren bekannten zuckenden Tanz aufführten. Die Fenster waren durch Moskitonetze geschlossen, es konnte sich daher bei dem Dutzend Stegomyias, das sich da oben in zackig abgebrochenen Spiralen und steilen Parabeln umhertrieb, nur um die früheren Inwohner des Glases handeln.

Wer hatte sie in Freiheit gesetzt? March. Warum?

Es blieb mir keine Zeit, ruhig darüber nachzudenken. Sofort schwoll mir das Herz, wie man sagte, ich spürte, wie mich der Jähzorn übermannte, und ich trat mit bösem Gesicht und geballten Fäusten zu dem wie eine Mauer weiß gewordenen, lachenden Menschen. Er wich zurück, immer noch seine blödsinnige Lache auf den Lippen, und raunte, von Lachstößen unterbrochen, mir zu: »Komm doch, schlag zu! Komm doch, hau mich nieder! Schieße mich zusammen!« Dabei griff er in eine Tasche des Nachtanzugs. »Lache nicht mehr«, flüsterte ich ihm zu. Höchst unsinnig von mir, denn ich erkannte sofort, daß er durchaus nicht aus freien Stücken lachte, sondern aus Zwang. »Höre sofort mit deinem albernen Gelächter auf und hilf mir, sie wieder zu fangen. Eine Leiter!« Immer noch lachend brachte er, den schönen Pyjama des seligen Doktors mit seinem Schweiß tränkend, auf seinen Schultern eine Leiter. »Halte sie an den Füßen«, sagte ich ihm »und reiche mir das Glas und den Wattebausch da hinauf.« Dabei gab ich ihm einen Wattebausch und ein Fläschchen mit Chloroform, das gleiche, aus dem er die Witwe Walters narkotisiert hatte. »Schütte das Zeug tropfenweise auf, nicht zu viel, nicht zu wenig«, sagte ich ihm oder vielmehr schrie ich ihm zu. Aber diesmal wagte er mir nicht zu entgegnen: »Schreien Sie nicht!« Sein Lachen war abgebrochen, es drohte in ein Zwangsweinen überzugehen. Er zitterte am ganzen Körper. Die schwankende Leiter, wie alles weiche Holz in den Tropen ein baufälliges und vermorschtes Ding, nahm das Zittern auf und das Vibrieren teilte sich mir mit. Das konnten wir nicht brauchen. Ich hatte vor, die losgelassenen Stegomyias mit den nicht allzusehr konzentrierten Dämpfen des Chloroformalkoholgemisches, das bei der herrschenden Bärenhitze schnell verdunstete, zu betäuben, so daß ich die höchst infektiösen Tiere wieder einfangen konnte, tot oder lebendig.

Aber das spricht sich leichter aus, als es sich durchführt. Bald war das Wattebäuschchen zu naß, bald zu trocken, bald hielt ich es zu hoch, bald zu tief, ich konnte auf der plumpen, morschen, halb verfaulten Leiter keine Sprünge machen, aber die flinken Tiere oben in ihrem Element konnten es. Endlich hatten wir von den elf Flüchtlingen sieben zurück. Auf die anderen mußten wir vorläufig verzichten. Sie schwirrten nahe der Decke in so abgefeimten Kurven, daß sie mir trotz aller Listen und Finten entgingen. Ich und March waren von den Dünsten des Chloroformgemisches, von den Mühen, der Müdigkeit, Hitze und Aufregung mehr tot als lebendig. Wir kontrollierten noch die Gazemoskitonetze an den Fenstern, damit die gefährlichen Tiere nicht den Weg ins Freie fanden, schlössen die Türe sorgfältig ab und gingen schlafen. Oder wir versuchten wenigstens, das zu tun. Es war etwa zwei Uhr morgens. Ich war von dem massenhaft verbrauchten Chloroform wie betrunken. Eines klaren Gedankens, einer entschlossenen Handlung unfähig.


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