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Fünftes Kapitel

I

Ich schildere nicht das Leben der Deportierten auf der Inselwelt. Es ist bereits von anderen besser und ergreifender geschildert worden, als ich es beim besten Willen vermöchte.

 

Das Verlassen des Schiffes war weniger aufregend als seinerzeit das Besteigen. Soliman lebte noch, er war halb blind und konnte nicht gehen, man trug ihn auf einer Bahre die Lauftreppe hinab. Er fluchte mörderisch. March war bleich vor Angst und hielt sich dicht bei mir.

Als wir ankamen, hatte die Seuche, die ich der Kürze halber von jetzt an statt Gelbfieber nur Y. F. nennen werde, scheinbar einen Höhepunkt bereits überschritten. Unter den Gefangenen, die in großen Lagern, Camps, weitab von der Stadt C. lebten und auch auf den anderen kleinen Inseln dieses Archipels angesiedelt waren, hatte sie übrigens noch nicht gewütet. In viel höherem Maße waren die bürgerlichen Einwohner der Stadt ergriffen gewesen. Vor kurzem hatte aber eine Regenperiode eingesetzt – das heißt, eine der vielen Regenperioden, die nur eine Zeitlang sich durch riesige Wassergüsse manifestieren, denen aber kurz darauf eine sengende, dabei aber düstere, ungesunde, bösartig gleißende Hitze zu folgen pflegt – und damit hatte das Y. F. abgeflaut.

Die Stadt hatte vor fünf Jahren bei der letzten Volkszählung an zwölftausend Einwohner gehabt. Vor dreißig Jahren hatte sie vierzigtausend gezählt. Ihr Schicksal ähnelte jenen Charakteren, von denen man bei zwanzig Jahren sagt: ein Genie!! Bei dreißig Jahren: eine Hoffnung! Und mit vierzig nennt man sie einfach mit ihrem Namen.

Als wir spät abends durch die von fast schwärzlichem, massenhaft stürzendem Regen erfüllten, verwahrlosten Straßen geführt wurden, war alles übelriechend, dunkel, schwül und fast menschenleer.

Im Lager, wo ich, meinen alten March an der Seite, die erste Nacht verbrachte, war es nicht viel anders als auf dem Schiff. Am nächsten Morgen wurden die Strafgefangenen um vier Uhr geweckt, um fünf Uhr begann die Arbeit, Holzfällerei und Bearbeitung und Fortschaffung der Stämme im Mangrovenwald, die Rodungsarbeit und Anlegung von Knüppeldämmen auf der ebenfalls schon vor vielen Jahren abgesteckten, aber niemals weit gediehenen Kunststraße, welche die großen Waldungen durchqueren sollte etc. etc.

Einige Männer wurden aber vorher von den Arbeitskolonnen abgesondert, entweder um zu Kanzleidiensten in der sehr umfangreichen Verwaltung herangezogen zu werden, oder um wie ich in einem Lazarett einen »speziellen Dienst« anzutreten. Es ging dabei nicht nach schwächlich oder robust. Es war Zufall oder Willkür. Auch March (als ehemaliger Beamter?) gehörte zu den Auserwählten. Ein Widerspruch war nicht möglich, es fragte kein Beamter nach unseren Wünschen, Kräften und Fähigkeiten.

In den Lagern herrschten die interessantesten Krankheiten, Hautkrankheiten aller Art, Malaria in den schönsten Formen, Tuberkulose und die schleichende, ihre Opfer zu wahren Skeletten ausmergelnde Eingeweidewürmerkrankheit – aber durch ein freundliches Spiel des Zufalls war in letzter Zeit nicht ein einziger Fall von Y. F. in einem der zahlreichen Sträflingslager festgestellt worden.

March wich mir nicht von der Seite. Er wußte, daß ich von Carolus zu dem sehr gefahrvollen Dienst als Leichendiener im Epidemiespital bestimmt war, das sich auf einer Erhebung mitten in der Stadt befand. Es war ein groß angelegtes, noch aus den besseren Zeiten der Stadt stammendes, von geistlichen Schwestern geführtes Sammelkrankenhaus, hauptsächlich für Y. F.

Das gute Kind March verstand wohl nicht, was das bedeutete. Sonst hätte nicht sein ganzes hübsches Gesicht auf dem Wege vor Vergnügen geglänzt. Oder er vertraute seinem Stern.

Wie sollte er auch von mir weichen? Er hatte sich gegeben. Und ob ich nahm oder nicht – er blieb. Man hätte ihn niederschießen oder seine Hand, die sich an meinen Rock klammerte, mit einem Messer abschneiden müssen. Aber die Verwaltung dachte an solche barbarische Maßnahmen nicht. March hatte vielleicht auch trotz seines Kindergemütes in passender Weise vorgesorgt. Auf seine Vergangenheit als Beamter hatte er sich nicht verlassen. Gott weiß, wie er sich wieder etwas Geld verschafft hatte. Aber er hatte es besessen. Seine klingenden Argumente mochten bei den listenführenden und listenreichen Unterbeamten der Camps nicht weniger beweiskräftig gewesen sein als sein Herzenswunsch, mich unter keinen Umständen allein zu lassen.

So wurden wir denn Arm in Arm in das alte Kloster gebracht, das oben mit seinen gelben Kranken mindestens ebenso scharf bewacht wurde wie unten das Camp mit seinen Verbrechern. Denn die Angst vor der Seuche war und blieb maßlos und hilflos im höchsten Grade.

Jetzt am Tage sah die Stadt fast noch trostloser aus als am vergangenen Abend. Überall Verfall und faulende Mauern, viele Kirchen, wenig Läden und Gaststätten, hier und dort ein Lagerhaus, Schuppen am Wasser, Kisten, Fässer und Ballen im Freien, ohne Bewachung im Regen und in der dampfenden Sonnenglut der wechselvollen Jahreszeit; hungrige Hunde, rabenähnliche Geier auf der Suche nach Nahrung. Überall Kot und Unrat, elendes Pflaster, zerlumpte Menschen in Eile, die Köpfe zwischen die Schultern geduckt. Herrliche Anpflanzungen, Alleen von Palmen und Brotfruchtbäumen etc. Aber vier Leichenbegängnisse begegneten uns auf der kurzen Wanderung, die nicht länger als eine dreiviertel Stunde gedauert hatte. Wie mochte die Seuche erst in den schlechteren, eben verflossenen Zeiten unter den Leuten gehaust haben! Der Regen setzte plötzlich aus und die Sonne brannte nieder. Das Meer leuchtete, die Hunde kratzten sich, die Geier stiegen empor, und die Vegetation zwischen den Steinen duftete balsamisch – oder wüst.

Wir kamen an einer verlassenen, noch schwelenden Brandstätte vorbei. Ich erfuhr, daß die Menschen sich vor der Seuche dadurch zu schützen versucht hatten, daß sie einige der Häuser, die verseucht waren, in Brand gesteckt hatten, nachdem sie diese dem Eigentümer in gutem Gelde sehr teuer hatten abkaufen müssen.

Aber die Seuche kümmerte sich um diese kostspielige Schutzmaßnahme nicht, sie schlüpfte flink um die Ecken, hier ein Haus und dort ein Haus, hier drei Fälle, dort fünf. Und man hätte die ganze Stadt niederbrennen müssen, vom Hafen bis zu den letzten Häusern, die sich schon im schwappenden, giftgrünen Waldsumpf verloren, von den Kasernen bis zum Verwaltungsgebäude, vom Bankhaus bis zum geistlichen Kolleg, alles hätte wie Sodom und Gomorrha in Flammen aufgehen müssen, um des Y. F. Herr zu werden. Was sage ich, die Stadt? Der ganze Küstenstrich, soweit das Auge blickte und noch viel, viel weiter bis an den Perlengolf, bis an das Gelände des Panamakanals nach Norden und eine ebenso ungeheure Strecke nach Süden! Und immer noch nicht genug!

Als wir den Hügel emporkeuchten, sahen wir aus dunklen, nach dem Regenguß dampfenden, kleinen Nebenstraßen Horden zerlumpter, hohläugiger, leichenblasser, halbverhungerter Männer auftauchen. Es waren Freigelassene, ehemalige Strafgefangene, die sich vor der Seuche in einem Winkel des Urwalds versteckt und von rohen Früchten und von erjagten roten Affen ernährt hatten und die nun nach dem scheinbaren Erlöschen der Seuche den Weg zu den imaginären Fleischtöpfen und Schnapsgläsern der Stadt wiederum suchten. Sie beneideten uns beide, die wir nebeneinander, von Wachen vorn und rückwärts begleitet, das winklige Gäßlein zum Klosterhospital emporkletterten, wenigsten drehten sie die hageren, nackten Geierhälse nach uns und blickten uns lange nach. Einer machte sogar den Versuch, uns nachzulaufen, uns anzubetteln, aber von diesem stupiden Beginnen hielten ihn die anderen ab. Jedenfalls nahmen sie an, für uns sei gesorgt, da wir noch in der Obhut des mütterlichen, treu sorgenden Staates uns befanden. Sie wußten nicht, daß uns etwas wenig Beneidenswertes blühte.

Die Schelle an der Hospitalspforte klang. Zwei alte farbige Damen und eine streng blickende weiße Pflegerin in blauem, steifem Kattun, alle mit großen silbernen Kreuzen auf der Brust, kamen träge mit einer Tragbahre heraus, sie waren sehr erstaunt, daß Gesunde Einlaß suchten. Auch die Garden, die als Quarantänekordon das alte Hospital bewachten, konnten sich von ihrem Erstaunen nicht erholen, sie lachten schallend, so daß es in den weißgekalkten, streng riechenden Gängen und Korridoren des alten Klosters nur so widerhallte.

Aber dieses Gelächter galt keineswegs uns. Mit uns war ein alter Herr gekommen und hatte sich uns beim Gange in die Untersuchungsräume angeschlossen, ein Mann, der das originellste Maskenkostüm trug, das ich je in einem Karneval gesehen hatte. Etwa siebzigjährig, hochgewachsen aber gebeugt, schmalschultrig, olivenfarbenen, lederartigen Gesichts, mit dunklen tief liegenden Augen von ungebrochenem Feuer, die man aber keineswegs von Angesicht zu Angesicht zu sehen bekam. Denn dieses energische und charaktervolle Greisengesicht umhüllte ein verschossener, gelbgrünlicher Nonnenschleier, was sage ich, ein Schleier? Zwei sind es, hintereinander gespannt, von halbkreisförmigen Weidenruten vorne in ausgespanntem Zustand erhalten, so daß kein unkeuscher Blick dieses jungfräuliche Großpapa-Antlitz beleidigen kann. Ach, nicht vor indiskreten Blicken hatte diese alte männliche Nonne Angst, sondern, man denke und staune, vor den Moskitos! Und vielleicht nicht einmal das. Es war Vormittag und niemals stechen diese Tiere am hellichten Tage. Also war es etwas anderes: eine Demonstration.

Denn er, der aristokratische, charaktervolle Herr, ist niemand anderer als der alte Magister und Stadtarzt v. F., der ruhmvolle Begründer der Moskitotheorie des Y. F., der eben im Begriffe steht, unserem Herrn Generalarzt als dem Präsidenten der Kommission und dem Militärarzt Walter als ihrem wissenschaftlichen Leiter seine erste Aufwartung zu machen. Daß Walter hierher gekommen war, erregte mein Staunen im höchsten Grade. Es war der größte Zufall, das Unbegreiflichste von dem vielen Unbegreiflichen, das mir in meinem Leben widerfahren war. Und doch logisch. Diesem Menschen hier begegnen! Aber wie? Als alter Kamerad? Als gefallener Mensch? Als ewiger Sünder? Als wissensdurstiger Forscher? Ich hatte Angst. Aber es kam dann alles wie von selbst.

So treten wir alle in eine saubere, ehemalige Klosterzelle ein, wo bereits die beiden hohen Herren, umgeben von prachtvollen, funkelnagelneuen Untersuchungsgeräten, versammelt sind. Es sind also: Generalarzt Carolus, das Haupt, die staatliche Würde, das menschliche Wissen in Personaleinheit. Sodann Walter, mein alter Kamerad, das Idol meiner Jugend. Er erkennt mich. Ich verbeuge mich, und er nickt mir zu. Er ist etwas sehr abgeäschert, vom Zahn der Zeit nicht unbenagt, aber immer noch der good fellow von einst, ein Mann von allerhand Graden, der viel mehr weiß und kann, als es den Anschein hat. Ihnen schüttelt voll Herzlichkeit nach viel zeremoniöser Verbeugung und Redensart die Hand der Magister und Stadtarzt a. D. Dr. Felizian von F., der Herr hinter dem Schleier, der ihnen als zarte Aufmerksamkeit in einem Zündholzschächtelchen einige kleine Moskitoeier mitgebracht hat, die wie Krümchen von zermahlenen Kaffeebohnen aussehen. Er lächelt still und stolz, als wären diese eine Sehenswürdigkeit ersten Grades. Sodann reicht er March die Hand und meiner Wenigkeit. Die Tür wird geschlossen, draußen verklingen die Glocken der Kapelle, wir sehen einander an. Das Komitee ist versammelt, und die große Sphinx, Y. F. genannt, wartet bloß darauf, von uns entjungfert zu werden. Ich bin müde und gähne diskret.


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