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XII

Schreie weckten mich auf. Schüsse knallten. Ich sage, weckten mich auf, und doch konnte ich nicht richtig erwachen. Die Luft fehlte mir, auf der Herzgrube lag es wie ein mannskopfgroßer Klumpen Blei, und ich träumte davon, wach zu sein, mir mit den Händen die wenigen Kleider vom Leibe zu reißen, die sich trotzdem immer von neuem eng um meinen schweißgebadeten Körper schmiegten. Eine unnatürliche, krankhafte Willensregung war in mir, der Halbschlummer hob sich nicht fort und ich (ein schlafender Geist neben einem wachenden) mußte wahrnehmen, wie die Schüsse aufhörten, die Schreie verhallten, ohne daß ich die Kraft fand, zu erwachen. Und dies nach fast drei Wochen beinahe vollständiger Schlaflosigkeit.

Als ich nach einigen Stunden endlich zu mir kam, dachte ich, es sei immer noch Nacht. Der Kajütenraum, in dem ich schlief, erschien mir sonderbar düster, auf dem Schiff herrschte jetzt auffallende Ruhe. Der Horizont war rundherum mit schwarzbraunen Wolken, die wie gebrauchte, grobfädige Säcke aussahen, verhangen. Die Luft war dunkel, nur selten brach mit giftigem Leuchten die Sonne auf einen Augenblick durch. Hier und da sprühten draußen am Horizont gegen Westen und Süden kleine Regenfälle aus zerfransten, sich auflösenden Wolkenrändern, von Spektrumfarben durchleuchtet, nieder.

Das Meer ist nicht bewegt. Plötzlich zucken aber weiße Wogenkämme auf, das Schiff erzittert, als sei es auf eine Sandbank geraten – der Herzschlag setzt aus, aber die Maschine geht träge pochend weiter. Vor dem Schiffe nach Norden und Nordosten bildet sich ein dichter Vorhang von zartlila Farbe.

Die Meeresoberfläche ist fahl, eben, schmutzig, grau. Ohne eine Vorbereitung stürzt ein prasselnder Wolkenbruch aus dem niedrig hängenden Himmel auf die Planken des Schiffes, alle Decks sind überflutet, knöcheltief waten im lauwarmen Wasser der Unteroffizier und die farbigen Wachen, die auf einer Tragbahre einen scheinbar leblosen, schweren Mann transportieren.

Der Typhusrekonvaleszent, glücklich, nicht unten im Massenraum sein zu müssen, macht sich nützlich, bettet ein Lager im Schiffslazarett auf, bläst den Staub von dem Nachttischchen. Der leblose, schwere Mann ist Soliman, der Sultan. Er atmet schwer, röchelt, sein Kopf bewegt sich unter einem blutigen Lappen, er faßt mit seinen verkrampften, blutigen Fäusten nach seinem Gesicht, das eine formlose, blutige Masse geworden ist, eine wallende, zuckende Fläche nackten Fleisches. Die Träger der Bahre bringen ihn vorsichtig in das Schiffslazarett. Er dreht den Kopf in die Runde, will etwas sehen und kann nicht.

Sein Gesicht ist nicht wiederzuerkennen. Es ist »dem Erdboden gleich gemacht«. Von der kühnen Hakennase, die ehemals den Stolz ihres männlich schönen Besitzers ausmachte, sieht man nur Fleischklumpen und die zwei Nasenlöcher, durch die ein Strom von Blut, Luft und Wasser, lauwarm, ekelerregend, körperwarm hindurchstreift. Knochen stehen spitzgezackt hervor, weiße Zahntrümmer bewachen den Eingang zu dem Raum, der früher die Mundhöhle war, und ein nicht endender Strom von Wasser träufelt von oben durch die Bartwildnis auf die Erde. So sonderbar es klingt, es sind Tränen! Der Tränennasengang ist angerissen. Man kann den unzeitgemäßen Tränenstrom nicht stillen.

Der Regen prasselt von oben mit der Gewalt eines Hagelwetters. Des Verletzten schmutzige Fäuste versuchen vergeblich, die geschwollenen, bläulich blutunterlaufenen Augenlider zu heben. Wissen will er, ob er blind ist, sägt er hervor. Er ist vollkommen bei Bewußtsein.

Man hat in dem Raum III bei einer Schlägerei nachts auf ihm herumgestampft. Es kann sein, daß das Augenlicht verloren ist, es kann sein, daß er Glück gehabt hat. Auch auf seiner Brust sind seine guten Freunde umhergetrampelt, drei Rippen sind gebrochen, und er spuckt zu allem Überfluß schaumiges Blut.

In dem Schiffslazarett muß Licht gemacht werden, so düster ist es geworden. Der Mann liegt auf dem improvisierten Operationstisch. Viel ist nicht zu helfen, alles hängt vom Zufall ab. Aber die Knochensplitter sind kunstgerecht mit der Pinzette zu entfernen, die Wunde mit Jodoform einzustauben. Es ist ein scheußlicher Anblick, wenn sie die wurstartigen, ebenfalls blutunterlaufenen Finger krampfhaft bei der recht schmerzhaften Prozedur bewegen und wie plötzlich der von seinesgleichen mißhandelte Verbrecher wutentbrannt die Hand hebt und sie gegen den Arzt hin schüttelt. Jetzt bemerkt der Arzt, daß außerdem der linke Daumen gebrochen ist und an der plumpen, blau tätowierten Hand baumelt, wie ein gebrochener Zweig im Wind, nur durch eine Faser Bast gehalten.

Während die Wunde vorsichtig gesäubert und der Finger geschient wird, erhellt sich plötzlich vor dem Kajütenfenster die Regenfinsternis. In der Ferne lüftet sich das düstere, bläulich fahle Dämmern wie ein Vorhang, man erblickt wieder die weite, unabsehbare Fläche des saphirblauen Meeres.

Der verhangene Himmel reißt mitten durch, die Sonne strahlt.

Die Bohlen des Deckes rauchen von verdunstendem Wasser. Ein Ochse oben an Deck, der letzte seines Stammes, hebt sein lackglänzendes, schweres Haupt, muht laut auf und rasselt mit den regennassen Ketten, die Hammel schütteln die Tropfen aus ihrer schmutziggrauen, dicken Wolle und blöken und – March erscheint wie an jedem Tage, im Sonnenschein nur noch elender aussehend und noch kummervoller in seinem Liebesschmerz, schweißbedeckt und blaß, um sich mit den Schlachttieren abzugeben. Oh, diese sehnsüchtigen Blicke!

Eine Kommission, bestehend aus dem Generalarzt, beim Kommandanten der Wachen und dem Schiffskapitän, hält ein Verhör mit dem verletzten Sultan Soliman ab. Aber dieser will nicht. Er schüttelt nur den wüsten Kopf, spuckt ab und zu ein kleines Knochenstückchen aus seinem zerfleischten Munde oder schüttelt es grob aus seinem zerstörten Nasenbau, flucht bestialisch, aber er nennt keine Namen. Verrät keinen Genossen. Er röchelt nur, mit der geschwollenen Zunge anstoßend, »Sunde sind es, Sunde! Wartet nur, bis ich euch wiedersehe! Wartet nur!« Das H kann es noch nicht richtig aussprechen, das holdselige Baby. Aber auch dieser entmenschte Kerl ist einmal ein unschuldsvolles Kind gewesen. Das sind wir alle gewesen.

Mit scheuem Blick mustert ihn March, der sich hereingeschlichen hat, als die Herren Offiziere das aussichtslose Verhör abgebrochen haben. Er tritt nur zaghaft auf seinen schweren, mit Zwecken versehenen Schuhen auf. Der Sultan kann ihn nicht sehen. Ob der Wüterich überhaupt je wieder sehen wird, ist die Frage. Aber selbst vor dem gestürzten Riesen hat der March große Angst. Sollte man es aber für möglich halten, daß er selbst es war, der (mit den anderen gemeinsam, aber im Herzen ihr eigentlicher Anführer) auf diesem jetzt nicht mehr menschenähnlichen Antlitz herumgestampft hat, heute nacht, als man sich der bestialischen Angriffe des krankhaften, an Satyriasis leidenden Schwerverbrechers nicht anders erwehren konnte? Mensch gegen Mensch!

In einer kurzen Zeitspanne entstanden und vergingen draußen am Horizont Dutzende von kleinen Gewittern, die Luft wurde noch drückender, nach jedem Wolkenbruch schien es heißer geworden zu sein.

Die Behörde ist unruhig geworden. Hatte sie Grund? Ich weiß es nicht. Die Dampfleitungen zu den Räumen sollten ausprobiert werden. Die Sträflinge kommen in Eile zum Probealarm an Deck. Unten werden die siedend heißen Dampfströme in die Räume geleitet. Man läßt die guten Kinder zuhören, wie es zischt, demonstriert ihnen, was ihrer harrt, wenn sie revoltieren, wenn sie an verbotener Stelle morden. Morden darf nur ungestraft das Schicksal. Der Staat als Krieg. Die Natur als gelbe Pest, als Typhus, als Krebs, als die Lungentuberkulose und andere herrliche Erfindungen Gottes. Hunger und der Kampf ums Dasein. Sie bleiben alle, solange die Welt besteht.

Aber diese Dampflöschprobe hat doch eine gute Wirkung. Zwei gute Dutzend fetter Ratten wurden durch den Dampf von hundert Grad verbrüht. Als der Alarm abgeblasen ist, wirft man sie mitten in einem neuen Gewitter ins Meer, sie vorsichtig an den Schwänzen haltend und darauf achtend, daß die verbrühte Haut sich nicht vom Körper löst. Die Sträflinge lachen und kehren in Raum Nr. III zurück, während dasselbe Exempel in I und II versucht wird.

Vier Tage später kommen wir wohlbehalten ans Ziel. Jetzt darfst du endlich wiederkehren, March! Jetzt kann ich wiederkehren zu dir. Auf festem Lande bin ich sicher, und wir werden die besten Freunde sein, wenn du vernünftig bleibst.


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