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IV

Was bedeuteten diese sentimentalen oder idyllischen Szenen für den ironischen Zuschauer, wenn sich mit jeder Stunde die Hitze und der Durst stärker und qualvoller bemerkbar machten? Die gierig ersehnte Mittagsration bekamen wir erst gegen drei Uhr, in ungewöhnlich schlechter Qualität, dafür stark versalzen. Und wenn sie schlecht schmeckte, so war sie zum Trost auch nur in zu geringer Menge da. Sollte die löbliche Justizverwaltung mit einer geringeren Anzahl von uns gerechnet haben? Oder fraßen an unseren armseligen Rationen etwa noch ein paar subalterne Schmarotzer mit? Oder dachte man, der Anblick des Ozeans (tief indigoblau, von kurzen, fast metallisch ehern glänzenden, glattbäuchigen Wellen rhythmisch bewegt) dieser herrliche Anblick des freien flutenden Ozeans würde uns hungrige, festgebundene Deportierte satt und froh machen? Schön war dieser kleine Hafen mit dem versandenden Hafenbassin, in dem nur wenige und kleine Küstenschiffe von geringem Tiefgang, dafür aber um so mehr schlanke Segelboote mit schwarzbraunen, safranfarbenen, orangeroten, rostfarbenen, vielfach geflickten, ausgefransten Segeln sich wiegten. Und, an die Steine der Ufermole anklirrend, einige gußeiserne, plumpe Pontons, die auf uns warteten, so warteten wir noch immer auf sie. Vergeblich.

Die Segel der Schifferkähne hingen matt und schlapp an den Masten und Rahen, die Bewegung der Wellen ließ immer mehr nach, vollständige Flaute breitete sich allmählich aus, bald herrschte eine bedrückende Stille weit rings umher. Die Kehle schnürte sich einem zu. Man hockte apathisch inmitten des niedergeworfenen, unordentlichen Gepäcks auf den fleischwarmen, widerlichen Steinen. Die von Schweiß durchtränkten morschen Kleider standen von der Haut ab, als käme man aus dem Gewitterregen und wäre unter der Nässe zusammengeschrumpft. Man wundert sich, woher der ausgemergelte Körper noch so viel Flüssigkeit hernimmt.

Plötzlich gibt es Unruhe. Ein Mann ist hintenübergefallen. Sein Schädel ist wie ein toter Klotz auf den Boden geschüttert. Sein Hand- und Schicksalsnachbar ist mitgerissen worden. Er wälzt sich über den Zusammengebrochenen, als wolle er ihn umarmen, mit seinem Leibe decken. Man schafft die zwei Leute zusammengekettet, wie sie sind, zum Wasser, an die Steintreppe am Strande. Warum nicht den Kranken allein? Kann man es denn? Wegen solcher Bagatellen wird das Stahlband nicht gelöst. Der Transportkommandant, der die Schlüssel hat, ist übrigens mit den anderen hohen Herrschaften schon an Bord und mag wohl gerade beim Diner sein. Er allein führt die Schlüssel, welche binden oder lösen.

Es muß Sonnenstich sein, was den größeren von beiden betroffen hat. Er läßt sich von zwei Wachsoldaten schleppen, in ihren Armen liegt das große, gute Kind, während der andere nebenherhumpelt wie eine Fliege, der man von den sechs Beinen drei ausgerissen hat. Aber jetzt schlägt das liegende dicke Insekt auf das humpelnde, magere Insekt los. Welch ein Schauspiel für Götter und für die Farbigen! Nur vorwärts! Keine Scheu! Laßt euren Gefühlen freien Lauf, Genossen schönrer Tage. Nein, nicht diese Töne. Den beiden ist es heiliger Ernst.

Was bedeutet dieser unzeitgemäße Zweikampf, wie er sich jetzt, immer wilder und dramatischer, schon weit außerhalb des Wachpostenkordons, innerhalb des Kreises der »liebenden Herzen« entfaltet?

Hier, bei den liebenden Herzen liegt die tiefere Bedeutung. Der gesunde Gefährte, der magere Knirps, hat dem dicken und großen nicht gegönnt, daß er unter dem Vorwande des Sonnenstichs die Verbindung mit seinen Angehörigen aufnehmen wollte. Zwar haben sie einen Gaunerpakt vorher getroffen, die beiden Kumpane, aber schon während des Transportes der beiden unzertrennlichen treuen Kameraden haben sich Unstimmigkeiten ergeben, der Gesunde hat von dem sogenannten Kranken, der so gut simulieren konnte, daß er selbst den Arzt a. D. Georg Letham täuschen konnte, einen höheren Prozentsatz von den erwarteten Herrlichkeiten erpressen wollen, Geld, Tabak, Kleider, Wertgegenstände, eben das, was der Dicke von seinen ebenfalls dicken Angehörigen erhoffte und erträumte.

Und wie hat der Dürre seinen Erpressungsversuch durchführen wollen? Durch moralische Gründe? Gewiß nicht. Sondern dadurch, daß er dem großen, plumpen Laban die Hand mittelst Drehens der Fessel im Handgelenk auszurenken versucht hat. Jiu-Jitsu – nach Treuekameradenart. Hätten sie wenigstens ihre Streitigkeiten vorher abgemacht! Es ist ein häßlicher Anblick (und doch lacht etwas in mir!) wenn der angeblich vom Sonnenstich Getroffene sich wacker und auf den giftigen Angreifer wirft, wenn der andere »zurückgibt«. Beide, jeder mit der einzig ihm gebliebenen Hand, versuchen zum Gelächter der abgehärteten Wachposten, zum Schrecken der aufschreienden »liebenden Herzen«, einträchtig brüllend, fluchend und tobend, tierisch Schaum vor den Mündern, einander zu ohrfeigen, einander die Glieder zu verrenken, bis sie über die Füße der nur langsam zurückweichenden Angehörigen, die ihren Sohn oder Verwandten vor den Angriffen von seinesgleichen nicht zu schützen vermögen, auf den abschüssigen Steinen hinabkollern, welche zu dem Hafenbassin führen.

Die guten Wachen, auf ihre blinkenden Bajonette gestützt, der eine mit der Handgranate spielend, sie aber wohlweislich nicht entsichernd, setzen phlegmatisch ihre Kopfbedeckungen zurecht, spucken aus und warten, bis die zwei Narren zur Vernunft gekommen sein werden.

Zu richtigen, verletzenden, tödlichen Schlägen sind die beiden nicht fähig. Sie sind, wie man es bei Boxern nennt, eiligst in den clinch gegangen, sie haben sich so ineinander verschlungen, daß sie einander nichts Ernstliches anzutun vermögen. Einträchtig trudeln sie hinunter, stoppen aber rechtzeitig ab, nun helfen sie sich gegenseitig wieder auf die Beine und trollen, ohne daß einer der Angehörigen ihnen hat genügend nahekommen und ihnen die erwarteten Sachen hat zustecken können, mit ein paar Schrammen und Hautrissen wieder in die Gemeinschaft zurück. Diese Gemeinschaft ist boshaft, schadenfroh und setzt ihnen nach verlorener Feldschlacht die Füße in den Weg, sie fallen darüber, erheben sich und finden unsicher Halt einer am andern. Sie blicken jetzt erstaunt um sich. Eitel Schadenfreude ringsum. Worauf haben sie gerechnet? Wer sollte denn Mitleid mit ihnen haben, wenn sie selbst keines miteinander haben?! Der Mensch ist nie schonungsloser als gegen seinesgleichen.

Oder doch? Ist die hohe Behörde nicht noch schonungsloser? Nur als stupideste Schonungslosigkeit kann man es bezeichnen, daß man uns bald zwölf Stunden im Schatten der Bajonette schmoren läßt. Alles menschliche Empfinden hört bei vierzig Grad Hitze auf. Wie ein Tier in dem Pferch vor dem Schlachthof verrichtet jeder seine Notdurft, wie und wo er kann. Die brütende Glut macht das Atmen dieser mefitischen Luft zu einer wahren Qual. Man möchte ohnmächtig werden und zusammensacken und darf doch nicht. Denn wer würde einem die echte Ohnmacht glauben? Jetzt kippen in unserer Nähe zwei, drei und dann weiter entfernt wieder ein paar verwetterte Kerle unter Sonnensticherscheinungen um.

Sie krachen zusammen mit dumpfem Stöhnen, alle mit dem gleichen Tierlaut, einer Art Gurgeln, als hätte es einer dem andern abgelauscht und abkopiert. Und doch ist es keine Kopie, es ist das echte, es ist Natur. Bläulichrote Gesichter. Die Glieder zuckend und zusammengekrampft, die Augen mit den dicken Lidern und der lividen Bindehaut offen und glotzend. Auf diesen entmenschten Gesichtern der Ausdruck stupider Qual. Echt! Echt! Nichts aber rührt sich.

Mein Gefährte ist bereits so weit, daß er auf mein Rütteln nicht zusammenzuckt, auf meinen Anruf nicht antwortet. Ich kenne nicht einmal seinen Namen, so rufe ich ihn bei seiner Nummer. Ach, was Nummer, ach, was Namen! Schatten! Schatten! Schatten für uns Schatten! Nein und nein und dreimal nein. Und dabei gibt es keine hundert Schritt von hier schöne, tiefe Schuppen, geräumig, schattig, dunkel, leer, nach Kaffee und Gewürz riechend. Sie gehören dem Staat. Es gibt innerhalb des Freihafens hygienische Bedürfnisanstalten mit W. C. Wir dürfen nicht hin. So muß es denn bei uns sein wie beim »lieben« Vieh? Natürlich muß es so sein. Denn die Schuppen gehören einem andern Ressort, »Zoll und Finanzen«, und wir gehören nur zur »Justizverwaltung. Strafvollzug. Abschreckung und Vergeltung.« Nach dem herrschenden Gesetz abgeurteilt, auf dem üblichen Verwaltungswege zwecks Deportation auf die »Mimosa« zu verladen, so und so viel hundert Stück moralisch lädierter Menschen ...

Ach, Menschen! Wenn nur die Sonne an diesem schrecklichen Tage sinken wollte! Es ist, als kreise sie nur in immer engeren Ringen oben am Himmel, der weißlich flammt. Man möchte die Hände vor das Gesicht schlagen, die rechte Hand vor die Augen halten, die linke um den Hinterkopf spannen, aber wie kann man das? Warum bringt man uns nicht endlich fort? Es muß dort drüben an Bord der im Lichte funkelnden, sich sanft auf dem ruhigen Meer wiegenden »Mimosa« unendlich viel besser sein als hier. Es wird luftig sein, schattig und kühl, wie in einem Keller. Im Schiff befinden sich keine richtigen Unterkünfte für uns, nur eine Art Schiffskasematten, ehemalige Viehställe mit Eisenbohlen als Trennungswände ... das herrliche Götterschiff hat früher zu Viehtransporten gedient, niemals ist es umgebaut, kaum jemals richtig desinfiziert worden, alles ist bekannt, die Gefangenen haben sich darüber im Gefängnis und im Zuge unterhalten, aber alles ist gut, nur fort! Tausendmal lieber dort in der Tiefe hausen, wohin die allerliebste Sonne nicht scheint, als hier! Nur nicht hier. Vergebens. Stupides Denken. Nutzloses Phantasieren. Mit wem sprechen? Bei wem sich beklagen? Man hat ja nicht einmal Speichel genug im ausgedörrten Mund, um zu fluchen.


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