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X

Sofort nach dem Tode meiner Frau, den ich unumstößlich feststellen konnte, öffnete ich beide Fenster und weckte das Hausmädchen. Es sollte einem in der Nähe wohnenden Arzt telephonieren, meiner Frau sei übel geworden, sie habe Ohnmachtserscheinungen. Das Mädchen, im baumwollenen, kurzen Pyjama, die schwarzen Haare zerrauft, schlaftrunken, bleichen, käsigen Gesichts, führte den Auftrag aus. Der Arzt schien nicht sogleich an den Apparat gekommen zu sein, dann ließ er sich jedes Wort drei- bis viermal wiederholen, das Mädchen mußte alles buchstabieren. War er über Nacht schwerhörig geworden? Endlich verlor ich die Geduld und nahm selbst den Hörer in die Hand. Hatte ich mich so wenig in der Gewalt? Es schien so. Meine Mitteilungen verstand der Arzt sofort ausgezeichnet. Ich weiß nicht, wie es kam, aber dieser gänzlich unbedeutende Umstand, daß die telephonische Verbindung zwischen uns Ärzten jetzt einwandfrei funktionierte, gab mir ein Glücksgefühl, eine Art Übermut!

Der Arzt erinnerte sich sofort meiner als seines Kollegen. Er schien aber wenig Lust zu haben, jetzt in der Nacht zu kommen, fragte mich, ob ich nicht noch einmal selbst zu der Kranken sehen, den Puls zählen, die Atmung kontrollieren wolle. Das Dienstmädchen warf sonderbare Blicke auf das Lager und die regungslos daliegende Frau, ich schien es nicht zu beachten. Vielmehr tat ich so, als ob ich die von dem Arzt angeratene Untersuchung durchführte, dann deckte ich das Plumeau der Frau bis über den offenen Mund und setzte meine Unterredung mit dem Arzt fort. Befriedigt sagte der Arzt, das sei der normale Verlauf, (wessen?) er würde mir als Kollegen raten, ich möchte doch schnell eine Koffeininjektion machen und ihm dann noch Bescheid geben. Natürlich stehe er zu Diensten, wenn es unbedingt erforderlich sei unter bewußter Betonung des »unbedingt«. Ich erklärte mich einverstanden, hängte ab, drehte die Lichter bis auf eins aus und schickte mit einem Gefühl der Erleichterung das Mädchen aus dem Zimmer. Dann ging ich vier- oder fünfmal durch die anschließenden Räume hindurch, setzte mich einen Augenblick lang auf den Lehnstuhl, schlich mich dann auf den Zehen in das Bade- und Ankleidezimmer meiner Frau, deponierte dort vorläufig das Gift, dann rief ich noch einmal an und teilte dem Arzt mit, die Frau hätte während der Injektion den Puls verloren. Der Arzt antwortete nicht sofort. Dann atmete er tief auf – oder er gähnte – und sagte endlich mit veränderter, ergriffen sein sollender Stimme, ob ich nicht, damit doch alles Erdenkliche versucht sei, auch noch Kampferinjektion versuchen wolle? Mitten ins Herz?! Natürlich meinte er die Herzmuskulatur. Ich antwortete nicht. Dann fragte er, ob ich jetzt noch auf seinem sofortigen Besuch bestünde. Er selbst sei von den Kampferinjektionen bei Sterbenden abgekommen. Gerettet hätten diese noch keinen. Auch jetzt fand ich keine passenden Worte zur Antwort. In jedem anderen Falle, fuhr er fort, würde er am nächsten Tage um halb acht Uhr morgens erscheinen, um den gesetzlichen Formalitäten Genüge zu tun und den Schein auszufüllen, wovon ich Formulare doch sicher im Hause hätte. Und er brauche mir nicht zu sagen, daß er aufs tiefste bei meinem Verlust mitempfinde. Ich dankte kurz und hing ab.

Dann klingelte das Telephon von neuem. Ich meldete mich. Niemand antwortete. Fehlanruf? Nach zwei Minuten das Gleiche. Noch ein drittesmal – dann wollte ich das Amt anrufen und mich beschweren. Ich wartete. Mein Herz schlug. Aber es blieb ruhig. Gut.

Ich glaubte die Folgen meiner Handlung auf einfachste Weise geordnet. Ich hätte alles nur zu gerne meinem Vater mitgeteilt. Aber das Absurde dieser Absicht wurde mir sofort klar und ich lachte hell auf.

Ich war glücklich. Aber nicht ruhig. Ich drehte im Schlafzimmer nochmals Licht an und holte ein ungebrauchtes Handtuch aus dem kleinen, reizend in Mandelgrün und Hellrosa gehaltenen Badezimmer meiner Frau. Ich legte es ausgebreitet über den noch unbedeckten oberen Teil des Gesichtes meiner toten Frau. Dann schlug ich das Plumeau zurück und breitete das Tuch auch über Hals und Brust aus. Das Fenster war noch offen, der heiße und feuchte Wind verfing sich in dem trockenen, glänzenden Linnen, hob die Stelle, die sich über den Wölbungen der Brust bauschte, empor. Rhythmisches Heben und Senken. Ich wußte aber, was war. Ich drehte das Licht aus. In einem eingebauten Schrank zog sich das Holz plötzlich mit einem knackenden, scharfen Geräusch zusammen.

Ich kehrte noch einmal nach dem Bette zurück. Das Handtuch fühlte sich lauwarm und seidenweich an. Ich faßte darunter an die Seitenteile des Halses. Auch hier Wärme und Seidenweichheit. Indessen war an der Halsschlagader nicht die Spur eines Pulses. Die Blutadern waren alle deutlich zu fühlen wie dicke Stricknadeln. Offenbar befanden sich hier wie in den anderen Blutadern Massen von geronnenem Blut. In solchen Fällen würde also die alte Mirakelprobe versagen. Mochte an das Bett der Toten treten wer wolle, das geronnene Blut würde niemals flüssig werden.

Das Toxin Y, in seiner Zusammensetzung niemandem außer mir bekannt, konnte von keinem Gerichtschemiker identifiziert werden, überdies wurde es innerhalb von weniger als vier Stunden, wie ich durch Tierversuche wußte, innerhalb des betroffenen Körpers abgebaut zu ganz unschuldigen Komponenten. Der sichere Nachweis organischer Giftstoffe ist überhaupt eines der problematischesten Kapitel der gerichtlichen Chemie, obgleich die Wissenschaft auf diesem Gebiete in den letzten dreißig Jahren riesige Fortschritte gemacht hat. Durch Versuche an lebenden Organismen, Mensch oder Tier, konnte der Giftwert ermittelt werden, der sogenannte Test . Aber nur dann, wenn es sich um bekannte Giftstoffe handelt. Meiner war unbekannt. Waren erst einmal vier Stunden verstrichen, so konnte man das Blut mit allen Methoden untersuchen – es konnte kein für mich belastendes Resultat geben. Wer aber sollte in den nächsten vier Stunden hierherkommen?

Ich schloß die Tür ab und legte den Schlüssel auf den kleinen Ecktisch an der Diele. Dann kam ich aus der Diele noch einmal (mit Widerstreben und in großer Unruhe) in das Badezimmer zurück; der Raum mit den süß hellrosafarbenen und mandelgrünen Wänden und den weißen Kacheln, den koketten Spiegeln, den blitzenden Nickelhähnen widerte mich an. Ich beeilte mich, ihn zu verlassen. Das Fläschchen mit dem Toxin Y versenkte ich hastig in das Becken und drehte den Lichtschalter aus.

Mir war, als hungere es mich. Ich hatte noch viel mehr als am Nachmittag das Bedürfnis, einen Menschen zu sehen und zu sprechen. Ich verließ das Haus. Ich begab mich auf die Straße. Vor dem Hause begegnete ich einem jungen Ehepaar, das die Wohnung auf der gleichen Etage wie wir (wie ich) bewohnte. Ich grüßte zuerst, sie sahen mich im Schein der gut leuchtenden Straßenlaternen freundlich an und dankten beide höflich. Offenbar kamen sie aus einer Gesellschaft. Ich ging zu einem Postamt, das Nachtdienst hatte, um meiner Stieftochter zu telegraphieren, von der ich annahm, daß sie mit ihrem Mann noch in dem Badeorte weile. Ich gab die Depesche als dringend auf, bemerkte aber im letzten Augenblick, daß ich kein Kleingeld bei mir hatte. Der Beamte war angesichts des Textes der Depesche so liebenswürdig, mir das Telegramm zu stunden. Ich hatte ihm meine Uhr als Pfand dalassen wollen, dies lehnte er lächelnd ab. Vielleicht war ihm auch der Name meines Vaters nicht unbekannt.

Mir fiel ein, daß ich vor allem meinen Vater benachrichtigen könnte, das heißt, es »fiel« mir nicht ein, sondern ich konnte dem wahnsinnigen Trieb nicht widerstehen. Ich mußte. Ich rief eine Autodroschke an und begab mich zu ihm. Sein langjähriger Diener öffnete mir, widerwillig entschloß er sich, den alten Herrn zu wecken. Ich trat schnell hinter ihm in das Schlafzimmer meines Vaters.

Wieder hörte ich, wie einst als Kind, sein wütendes Zähneknirschen im Schlafe. Es war dunkel und dumpf in dem mit kostbaren Möbeln und Antiquitäten vollgestopften Raum. Der Herr Staatsrat war unter die Sammler gegangen in seinen alten Tagen.

Mein Vater war schwer zu erwecken. Schwer schlief er ein, schwer wachte er auf. Er warf sich wütend umher, krächzte und schlug mit beiden geballten Fäusten auf die blauseidene Steppdecke. Endlich öffnete er die Augen. Warum wehrte er sich so gegen das Erwachen? Wie ein Huhn das Schlachtmesser, so starrte er die Lichter des Beleuchtungskörpers an, die ich angedreht hatte. Unten hupte der Droschkenchauffeur, den ich ohne Bezahlung hatte warten lassen. Auch ich sah meinen Vater, den alten, weißhaarigen, blauäugigen Mann starr an. Ihn haßte ich, meine Frau nicht. Ich bat meinen Vater um Geld. Viel Geld. Warum? Er sollte darnach fragen, tat mir aber diesen Willen nicht. Er fragte nicht, warum kommst du mitten in der Nacht, weckst mich und verlangst Geld? Er biß sich auf die Lippen, legte sich mit dem Gesicht zur Wand und antwortete nicht. Auch der Diener, der bis an die Tür zurückgewichen war, schwieg. Er gähnte diskret. Mein Vater gähnte offen.

Endlich war er genügend klar geworden, er wandte sich mir zu, blickte mich an, als wäre ich sein halbwüchsiger Sohn, der ihn wegen Läpperschulden um einen Geldbetrag bitte. Mit seiner dürren Hand fingerte er auf der Nachttischplatte, wo loses Geld neben der alten Taschenuhr lag. Schließlich verlor ich die Geduld, gab dem Diener den Auftrag, sofort hinunterzulaufen und den Droschkenchauffeur auszuzahlen, und veranlaßte ihn auf diese Weise, mich mit meinem Vater allein zu lassen. Ich setzte mich an den Rand des Bettes. Mein Vater fuhr mit seinen Fingern durch das immer noch reiche, schlohweiße Haar, wickelte dann seinen hageren langen Körper enger in die Decke, rollte sich wieder etwas mehr an die Wand, als scheue er die Berührung mit meinem Rock. Dabei wußte er doch von nichts! War er immer ein so guter Beobachter und Menschenkenner gewesen? Ich nahm von dem Nachttischchen eine Karaffe mit Wasser, schüttete ein Glas voll. Ich stellte es vor mich hin, trank aber nicht. Mein Vater machte große Augen, sagte aber noch immer nichts. War er immer noch schlaftrunken? Wie kam ein alter Mann zu solch einem festen Kinderschlaf? Aber endlich mußte er wach werden. Ich gab das gefüllte Glas dem alten Mann. Ich ließ ihn trinken, und jetzt erst erwachte er zu vollständigem Bewußtsein und erschrak.

Was jetzt kommt, wird mir unvergeßlich bleiben.

Jedoch nur als bloße Tatsache. Mein Motiv, das, was mich dazu trieb, dies ist mir schon fünf Minuten nachher nicht mehr erklärbar gewesen, und fünf Minuten vorher war in mir auch nicht die geringste Vorahnung da.

Es kam wie aus einer Pistole geschossen oder, um einen zeitgemäßeren Ausdruck zu gebrauchen, wie aus der Pravaczspritze gespritzt, oder wie ein Torpedo aus einem Unterseeboot, oder wie eine Giftgasbombe aus heiterer Luft. Ich torpedierte den alten Herrn mit der lakonischen Mitteilung des Vorgangs. Unvorstellbar war denn auch die Wirkung dieses »Torpedos«. Es war die Antwort auf ein anderes »Torpedo«, das vor fünfzehn Jahren abgeschossen war. So wie ein Versuchshund aufheult, wenn ihm ohne vorhergegangene Schmerzbetäubung das Bauchfell mit einem ordentlichen Schnitte geöffnet wird, so heulte mein Vater los. Nur nicht so sehr laut. Aber so grauenerregend, daß ich ihm sofort die beiden Lippen zusammenhielt. Er biß zuerst in meinen Daumenballen, dann aber sah er die Notwendigkeit seines Schweigens ein, drückte sich krampfhaft selbst meine Hand noch tiefer an seine schlaffen Lippen und an seinen seidenweichen, warmen Schnurrbart.

Und so unsinnig meine Handlung gewesen war, genauso unsinnig die seine. Ohne mir einen Rat zu geben (in diesem Augenblick gab es noch viele Auswege, mich zu retten) sprang er schlottrig auf, kleidete sich in rasender Eile an, stürzte hinter meinem Rücken (ich stand zitternd am Fenster und blickte hinaus) zur Türe, dann durch das Entree die Treppen hinab, alles ging in solchem Tempo vor sich, daß er, trotz seiner alten Knochen in schnellem Tempo den Weg zurücklegend, den Droschkenchauffeur einholte. Denn dieser war, schlaftrunken, wie es die Chauffeure zu so später Stunde oft sind, in langsamster Fahrt losgetrudelt, nachdem er den Fahrlohn von der Hand des alten Dieners sorgfältig abgezählt und vorne in der Brusttasche seiner Lederjoppe untergebracht hatte. Mein Vater sprang in den alten Klapperkasten und los! Ich hörte nicht, was er dem Droschkenchauffeur zurief, ich sah nur, wie er dem alten Diener, der ihm nachgerannt war und entgeistert immer noch dastand, zuwinkte, dann ließ er die Droschke in schnellster Fahrt absausen.


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