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XX

Ich will unseren Entschluß nicht größer machen als er ist. Seitdem die Heilkunde besteht, sind immer von Zeit zu Zeit von Ärzten Experimente an Menschen gemacht worden. Es war nicht gerade die Regel, aber auch keineswegs die Ausnahme, daß die Ärzte an sich selbst zu experimentieren wagten. Wir waren nicht die ersten und werden sicher nicht die letzten gewesen sein. Ob dieses Beginnen juristisch mit Mord (vorsätzlicher Tötung?) oder mit Selbstmord zu tun hat, war unsere (meine) letzte Sorge.

Auf Schwierigkeiten waren wir gefaßt. Aber nur auf Schwierigkeiten, nicht auf etwas schlechthin Unerreichbares. Zu unserer Aufgabe gehörte kein Genie. Bloß Mut. Methode. Disziplin. Sollte man bei dem Kollektiv von uns sechs Menschen nicht diese Eigenschaften voraussetzen können?

Leider nein. Die ersten Hindernisse kamen von dem Mann, von dem ich es kaum angenommen hätte. Von dem alten Doktor v. F. Seine Aufgabe und Pflicht fielen zusammen, und dennoch entzog er sich ihnen. Er hätte in Ehren untergehen können für seine Idee, zog es aber vor, die Endfolgen seiner chronischen Alterskrankheit abzuwarten und den Becher seines Lebens bis zum letzten Tropfen auszuschmatzen. Er hatte weder Mut, noch fügte er sich der Methode, noch bewies er Disziplin. Ich habe gesagt, daß er mir frei von Rührseligkeit erschienen war. Aber schon die sentimentalen Tränen, die ihm jetzt die eingefallenen lederartigen Backen hinabliefen, hätten mich eines anderen belehren sollen. Pasteur wird vor seinen Experimenten nicht geweint haben. Aber sei dem alten Schwachkopf F. dieser Erguß gegönnt, verdankten wir ja ihm den entscheidenden Fingerzeig.

Wichtiger war ein anderer Punkt: Wie es sich von selbst versteht, mußte unverbrüchlichstes Schweigen der Außenwelt gegenüber innegehalten werden. Solche experimenta crucis, wie sie die Wissenschaft nennt, erwecken nun einmal bei den vorurteilsbehafteten Durchschnittsnaturen sittliche Bedenken, ferner kamen auch Vermögensangelegenheiten (wie zum Beispiel die Versicherungssache) in Betracht, die Rivalität der hohen Behörden war zu fürchten. Niemand aber brauchte das Wohlwollen der Herren am grünen Tisch so sehr wie wir, die wir uns für das gelbe Pestfieber richtig interessieren wollten.

Ja, waren wir denn nicht Herren und Meister über uns? Ja doch, gewiß. Aber, das versteht doch jeder, mit uns begannen wir. Indessen war mit einer Versuchsreihe von nur sechs Exemplaren des homo sapiens ein Problem wie das vorliegende nicht zu lösen. Wir mußten früher oder später auch auf anderes »Menschenmaterial«, wie man es unverblümt nennen muß, übergreifen, und wenn der freiwillige Entschluß, sein Leben auf dem Altare der Wissenschaft zu lassen, sodann vielleicht in einem oder dem anderen Falle nicht mehr ganz freiwillig und selbstverständlich war, dann rückte der Begriff des Mordes in immer größere Nähe. Was konnte uns geschehen? Mir nicht viel, gewiß. Viel mehr unserem Werk, das wir vollenden wollten und mußten. Ich mußte zugeben, daß March und ich als bürgerlich verlorene Existenzen nichts zu fürchten hatten, denn disziplinare Bestrafung konnte uns nicht ins Bockshorn jagen. Wir hatten nichts zu verlieren. Wer C. kennt, weiß, daß es so ist. Aber die andern vier? Davon war einer ein Mann in höchster sozialer Position, der mit seinem Generalsrang alles zu decken hatte, der zweite war ein Gatte einer treuen, unversorgten Frau und Vater von fünf Kindern, er war human, Gentleman und Christ, der dritte war ein geistlicher Herr mit alten Gewissensskrupeln und einem ungenügenden Verständnis für die Ethik der Bakteriologie, und der letzte war der alte Magister v. F.

Ich hatte ihn einen Menschenfreund genannt. Und das mochte er bis dahin immer gewesen sein, wenigstens war Gegenteiliges nicht bekannt. Aber mit seiner Eitelkeit hatte ich nicht gerechnet. Und viel zu sehr hatte ich übersehen, daß er das Experiment, das uns allen bevorstand, doch schon längst hätte an sich machen können, zu Zeiten, wo sein edles Hidalgoblut noch frisch und süß und den hungrigen Stegomyiamücken eitel Nektar gewesen wäre. Er hatte es damals unterlassen, weil seine Angst vor der Ansteckung noch größer war als seine Eitelkeit und sein Wunsch, seinen Namen F. in der Welt berühmt zu machen. Von seiner Humanität sprechen wir nicht. Denn er stellte sie nicht unter Beweis. Und ob man es glaubt oder es sich nicht vorstellen kann, dieser dem Tode an seiner chronischen, unheilbaren Krankheit verfallene Mensch wehrte sich mit Händen und Füßen schon am nächsten Morgen nach der »Zündholzprobe« gegen unsere Absicht, ihn in unsere Versuchsreihe einzubeziehen.

Ich hätte es verschmerzt. Auch fünf ist für den Anfang eine gute Zahl. Aber der unselige Mensch brachte es nicht über sich, seinen Triumph, endlich ernst genommen zu werden, bei sich zu behalten. Während seine Moskitoeier noch im Brutkasten ausgebrütet wurden und wir uns über die richtige Methode, ein Insektuarium für sie einzurichten, den Kopf zerbrachen bei verschlossenen Türen und Fenstern, und während der tiefbekümmerte, aber fest entschlossene Walter sich seiner Frau am Telephon unter stets erneuerten und immer unglaubwürdiger werdenden Ausflüchten entzog, hatte das alte Kamel F. unseren Plan schon längst in C. ausgeplaudert. Walter erfuhr von seiner Frau, daß seine Absicht bekannt war. Er mußte es sich anhören und wir anderen auch, daß die schwangere Frau in heller Verzweiflung sich mit ihren Kindern zum Fenster hinaus auf die Straße zu werfen drohte. Was blieb ihm übrig? Er schwor ihr bei allen Heiligen, daß dies alles irres Gerede des Magisters sei. Man hätte den alten, kranken Narren F. auf seine alten Tage erfreuen wollen, man dächte nicht daran, seinen Phantasmagorien eine Minute zu opfern, und als Beweis dafür schlug er ihr vor, sich auf drei Tage mit ihr zu treffen, wenn sie den Mut aufbrächte, in seine Nähe zu kommen. Ja! Wie selig war sie! Liebend gerne wollte sie, die treue, teure Frau! Er wollte ihr bei der längst geplanten Übersiedlung von C. behilflich sein. Sie sollte mit den Kindern endlich das furchtbare Land verlassen dürfen. Er unterdrückte seine Seufzer, er entwarf scheinbar seelenruhig die Reisepläne. Und die Frau war froh, überglücklich, das zu hören. Sie rechnete im Innersten damit, den Mann dann endgültig mit sich zu nehmen, sie traute der Gewalt ihrer Liebe alles zu.

So desinfizierte sich denn der gute Walter eines Tages, nachdem er unter vier Augen eine lange Unterredung mit Carolus gehabt, von Kopf bis Fuß, und prächtig frisch geplättet und ordensgeschmückt wie ein Bräutigam, nur nicht nach Eau de Cologne, sondern intensiv nach Kresol duftend, wollte er uns verlassen, um sich in die Arme seiner sehnsüchtig harrenden Frau zu begeben, während die Kinder vorläufig noch am ersten Tage nicht mit ihm in Verbindung treten sollten, bis er als ansteckungsfrei sich bewiesen hätte.

Ja, wie lange hätte er dann warten sollen, ihnen den Vaterkuß auf die Stirne zu pressen? Gerade das wußte keine Sterbensseele auf der bewohnten Welt. Jeder machte es so, wie er es verantworten konnte, und man stellte es, wie soll ich sagen, der himmlischen Güte Gottes oder dem Zufall anheim...

Der gute Walter versprach uns nicht, pünktlich in Wochenfrist, (soviel hatte die Frau aus den ursprünglich bewilligten drei Tagen bereits gemacht), wiederzukommen. Er war nie ein Mann von besonders viel Worten gewesen. Wir rechneten damit, daß die Insekten nach sechs bis acht Tagen (es dauerte aber länger) ausgewachsen und ausgepuppt sein würden und fähig, sich an dem Blut der Y. F.-Kranken anzusaugen und hungrig genug, uns fünf Menschen nachher zu stechen. Das heißt: da jeder von uns nur einmal zu dem wichtigen Experiment herangezogen werden konnte, andere aber da sein mußten, um die notwendigen Beobachtungen, Proben und Untersuchungen, Feststellungen etc. zu machen und protokollarisch niederzulegen, so wurde in letzter Minute, während Walter schon ungeduldig aus dem Fester auf das Meer, das Schiff und die Inseln hinausblickte, ein Plan entworfen, demzufolge zuerst ich und March sich zu den Experimenten hergeben sollten, während Carolus und Walter an uns ihre Beobachtungen machen und die Pflege übernehmen sollten. Der Geistliche war als Reserve gedacht. Er sollte entweder für das Experimentalobjekt oder für einen Protokollführer einspringen. Aber er hätte nicht einmal einen Carolus, geschweige denn einen Walter ersetzen können.

Was ich sage, klingt brutal und abstoßend. Aber ich kann es nicht anders ausdrücken, als es den Tatsachen entsprach. Bei unserem Pläneentwerfen wurden wir leider auch jetzt von dem geschwätzigen albernen Magister gestört, der gar nicht begriff, was er angerichtet hatte. Wir gaben ihm zu verstehen (und zwar Carolus mit der sanftesten Schafsmiene von der Welt), während wir anderen gleichgültig mit den Achseln zuckten und die Augen niederschlugen, daß wir uns die Sache doch noch überlegt und unseren Entschluß fallengelassen hätten, die Experimente zu machen. Damit sei auch er von seinem Versprechen entbunden. Gehe in Frieden? Segne uns und schieb ab! Aber man hätte nur das entsetzte Gesicht des alten Narren sehen sollen beim Empfang dieser Hiobsnachricht! So sicher hatte er darauf gerechnet, wir würden bei der Stange bleiben und seinen Namen weltberühmt machen.

Walter stand endlich auf, nachdem er March gebeten hatte, einen von den Versuchshunden, denselben, den er schon früher einmal ausgeführt hatte, aus dem Käfig zu holen. Er wollte ihn seinen Kindern mitbringen. Welch weiches Gemüt! Magister F. lächelte, aber er ging nicht. Der Magister F. blieb. Wir sahen ihn von der Seite an, aber er schämte sich seiner Zudringlichkeit nicht. Er wurde sogar lästig wie eine Wanze. Das Gute daran war noch wenigstens, daß er uns über die Lebensweise des verdächtigen Insekts seine neuesten, eingehendsten Beobachtungen mitteilte. Wenn diese aber ebenso verläßlich waren wie seine Selbstbeherrschung und Diskretion, dann waren sie unverwendbar. Es zeigte sich aber, daß jemand eine schwache Persönlichkeit, ein eitler und feiger Charakter sein kann, ohne daß deshalb seine Beobachtungen in der Natur der Genauigkeit, Treue und Feinheit entbehren. Wir prüften, so weit es möglich war, seine Angaben über die Biologie der Stegomyiamücke nach. Sie stimmten fast alle haargenau.

Mit diesen Dingen vertrieben wir uns die Zeit. Wir mußten auf Walter warten. Er kam zurück, dessen waren wir alle, ohne ein Wort zu sagen, sicher.

Er brauchte uns, wir ihn.


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